Dominik Graf lässt in „Zielfahnder“ die romantische Sehnsucht nach der alten Verbrecherwelt und dem einfachen Leben wiedererstehen und verlagert dabei Hitchcocks Mount Rushmore in die Karpaten – Eine Nachbetrachtung
Die Welt hat einen Drehbericht zu Dominik Graf „Zielfahnder“ veröffentlicht. Eher ein Fall von launiger Hofberichterstattung als eine akribische Untersuchung des selbsternannten Tatortreinigers der Welt-Gruppe, aber trotzdem ist Elmar Krekelers Reisereportage aufschlussreich. Schon die Überschrift „Rumänien als Katalysator mittelständischer deutscher Sehnsüchte“ spricht Bände. Wenn wir die Vokabel Katalysator mit Zusammenfluss übersetzen, bei mittelständisch im Klartext Spießer sagen und Rumänien als Chiffre für das Fremde, Ferne, Exotische nehmen, dann wird die Zielrichtung dieses Films offenbar. Der deutsche Durchschnittsbürger soll sich in seinen widersprüchlichen Gefühlen gegenüber “dem Osten“ angesprochen fühlen. Dabei ist es egal, um welches Land es sich konkret handelt. Ursprünglich wollte Graf mit seinem Team angeblich nach Odessa und in die Ukraine. Was aber der öffentlich-rechtlichen Produktion dann doch als zu gefährlich erschien. Aus dem gleichen Grund wären wahrscheinlich auch Armutsstaaten wie Armenien gestrichen worden. Hauptsache die Richtung heißt Osten, wo die Mafia herrscht und Putins langer Arm allerorten zu spüren sein soll. Von dort droht laut offizieller westlicher Doktrin und öffentlicher Meinung die größte Gefahr. So war es schon bei Grafs Serie „Im Angesicht des Verbrechens“, als sich Russlands Mafia im Berliner Untergrund breitmachte und das Nachtleben in ein Tollhaus verwandelte. Damals blieb es für die Produktion bei einem Abstecher in den gefährlichen Osten …
Diesmal ging Graf mit seinem Drehbuchautor Rolf Basedow einen anderen, scheinbar radikaleren Weg. Zwei deutsche Elite-Polizisten verfolgen die Spur eines rumänischen Ausbrechers aus NRW über Berlin und polnischer Oder-Grenze nach Bukarest bis zum Showdown auf eine einsame Alm in den Karpaten. Die Zielfahnder geraten in der rumänischen Hauptstadt in eine Fremde, deren überbordendes Nachtleben asketisch abgehärteten Westeuropäern wie der Vorhof zur Hölle erscheinen muss. Eine Hölle der Verlockung und der Versuchung wohlgemerkt. Kaum verhüllte weibliche Nacktheit, lasziv sich zu dröhnenden Balkan-Beatrhythmen räkelnde Körper paaren sich mit überschäumender Lebensfreude. Menschengewühl auf den Straßen wie in den Clubs. Im Bukarester Amüsierviertel geht es zu wie vor Jahrzehnten auf St. Paulis Reeperbahn. Die ganze Stadt ist bei Nacht auf den Beinen und in den Kneipen fließen Wodka und Schampus in Strömen. In einer Bar wird der aus Deutschland entkommene Ex-Knacki wie ein Halbgott gefeiert. Ein Zwerg tritt als Sänger auf, eine geheimnisvolle Frau im flammendroten Kleid zieht Aufmerksamkeit auf sich. Das Verbrecher-Deutschland wie im Köln der 1950er Jahre scheint in der Ferne wieder auferstanden zu sein.
Hier zeigt sich der ambivalente Charakter des Films in Reinkultur. Diese Fremde bereitet weniger Angst denn Lust. Im Grund seines Herzens ist Dominik Graf ein Romantiker, der fasziniert ist von der Idee des Verbrechens als Grenzüberschreitung und der ähnlich wie Martin Scorsese im amerikanischen Film den Großstadtverbrecher als unangepassten Outlaw begreift und dessen Milieu als Gegenentwurf zum juste milieu empfindet. Weil der Typus des klassischen Gangsters hierzulande nahezu ausgestorben ist, sucht und findet Graf ihn bei „Flucht in die Karpaten“ in der Fremde.
Ernsthafter Grund zu Angst vor dem Fremden besteht nur bedingt. Furcht macht im Lauf des Films mehr und mehr einer Bewunderung des Fremden Platz. Seiner Naturschönheit, der Vitalität und Authentizität seiner Bewohner, ihrer archaischen Sitten und Gebräuche. Die Faszination gilt den sogenannten einfachen Menschen auf dem Land, der rumänischen Polizeieinheit, ja selbst dem Zielobjekt, dem gesuchten Schwerbrecher. Die rumänischen Menschen strahlen in diesem Film bei aller Armut eine Schönheit aus, mit der die deutsche Seite nicht mithalten kann. Abschreckendes Beispiel: die Repräsentanten der Staatsmacht in NRW. Ein von Ehrgeiz und Medienangst glattgebügelter Innenminister (Reinhard Laupichler), ein körperlich wie moralisch abstoßender Justizminister (Oliver Reinhard), seine aus krankhafter Bruderliebe erpressbar gewordene, im Selbstmord endende Kanzleichefin (Susanne Lorenz), schließlich als Chef der LKA-Einheit ein blondsträhniger, vor Knieschmerzen hinkender Geselle (Arved Birnbaum).
Sie alle stehen im Schatten einer Würde, die von dem rumänischen Kommissar ausgeht. Dieser Radu Bara (Radu Binzaru) scheint aus einer vormodernen Zeit zu kommen. Er raucht Zigaretten, trinkt Wodka während des Dienstes. Er verstößt gegen EU-Vorschriften und gegen political correctness-Gebote. Aber: er ist ein Menschenkenner, ist selbstironisch und entkräftet unwiderstehlich wie charmant den Anfangsverdacht der Düsseldorfer Zielfahnder Schröder (Ronald Zehrfeld) und Landauer (Ulrike C. Tscharre) auf Bestechlichkeit oder Korruption. Schließlich der Ausbrecher Caramitru (Dragos Bucur), der mit seinem schwarzen Vollbart ausschaut wie ein moderner Robin Hood und sich verhält wie ein Freiheitskämpfer, der seine Bastion auf der Hochebene bis zur letzten Patrone verteidigt. Die unterschwellig erotische Beziehung zwischen der herben deutschen Fahnderin und dem wilden rumänischen Gangster wirkt in dieser Besetzungskonstellation nicht mal abwegig. Zweimal erlebt er sie am Rand des Todes, beide Male verschont er sie. Beim zweiten Mal bezahlt der Verbrecher seine Rettungstat mit dem Tod. Der finale Schuss aus dem Gewehr eines berittenen rumänischen Polizisten wirkt wie das Werk eines Snipers.
Dominik Graf und Rolf Basedow haben sich in die Fremde begeben, finden unverbrauchte Bilder und berückende Figuren, aber sie kommen mit verdächtig gleichen Ergebnissen zurück wie bei früheren Filmen. Leben findet seinen Höhepunkt in orgiastischen Festen wie in der Prologsequenz, wo ein deutscher Anlagebetrüger in der fernen Gaucho-Republik Uruguay unterschlagenes Geld mit vollen Händen verjubelt. Oder die archaische Hochzeit im Dorf in Siebenbürgen, die kein Ende finden will und mit einem Vollrausch aller Beteiligten endet. Bis ein Dörfler die Entdeckung macht, dass die Kirchenglocken in der Nacht gestohlen wurden. Da tritt dann wieder der Ernst des Lebens ein. In Gestalt der Staatsmacht und ihrer Agenten. Wobei ihnen letztlich entscheidend die uralten detektivischen Mittel Geduld und Verrat zur Hilfe kommen. Der rumänische Kommissar beweist in diesem Sinn Realitätstüchtigkeit. Erst verweist er auf einen Satz von Karl Marx, wonach auch Revolutionen das Alte bewahren müssen. Denn beruft er sich auf die Einsicht, dass man sich bei der Verbrechensverfolgung auf die Frauen verlassen soll. So oder so. Tatsächlich ist es am Ende die betrogene Ehefrau, die den Gangster und sein Versteck verrät.
Bezogen auf den Film und seinen Regisseur heißt das: Dominik Graf sitzt fester denn je in der Falle des Polizeifilms. Er kann dessen Regeln noch so virtuos bis in den Schnitt variieren und neu definieren, kann Anleihen bei anderen Genres (wie in diesem Fall Western, Italowestern und Roadmovie) machen, er kann immer höhere Etats verlangen und auch bekommen. aber ein wirkliches Entrinnen wird es im Genre nicht geben. Der Regisseur bleibt auf hohem Niveau ein Gefangener seiner eigenen mittelständischen Gangster-Sehnsüchte und den damit verbundenen Ängsten.
Die „Zielfahnder“ blähen sich auf fast zwei Stunden auf, führen in immer exotischere Weiten, bemühen technologische Finessen und sind beim Countdown doch verdächtig nah am Altvertrautem. Die Sequenz auf den Felsklippen hat man bei Hitchcocks „North by Northwest“ schon gesehen. Mount Rushmore in den Karpaten.
Michael André
Bildquelle: ARD Degeto / WDR
Zielfahnder – Flucht in die Karpaten, ARD (WDR / Degeto), Samstag, 19. November 2016
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