Ein Feuer in der Wüste

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In einer Film- (und sonstigen) Kultur wie der bundesrepublikanischen in der Nachkriegszeit musste ein leidenschaftlicher und rücksichtsloser Schauspieler wie Klaus Kinski zum verkannten Genie werden. Er machte das Beste daraus, soweit das möglich ist. Er wurde zum Darsteller des getriebenen, am Rand des Wahnsinns und über ihn hinaus agierenden verkannten Genies in tausend und einer Variation. Einer, der zum verkannten Genie prädestiniert schien, wurde zum großen Mythos des verkannten Genies und erzeugte dabei eine faszinierende Leerstelle. Als Künstler, Mörder oder Liebhaber auf der Leinwand. Als einer, der vom Großteil seiner eigenen Arbeit mit Verachtung spricht – jenseits von ihr. Immer reichen Erklärungen nicht aus oder führen ins Leere. Da will einer seiner Zeit ein Geheimnis bleiben. Und nichts bewahrt ein Geheimnis so sehr wie seine öffentliche Darstellung.

Deshalb ist es eine Sache, über die vielen Filme zu sprechen, in denen Klaus Kinski mitspielte – das ergäbe eine etwas bizarre Reise durch die Höhen und Tiefen des europäischen Films, ein Zeit-Bild ohnegleichen -, und eine andere ist es, über den kristallinen Meta-Film zu sprechen, der sich aus den zahllosen Kinski-Szenen in den unterschiedlichsten Leinwand-Arbeiten zusammensetzen und vor unseren Augen auch wieder zerfallen mag. Kinski: das verkannte Genie, und zugleich die Parodie darauf, ein mehr oder weniger deutscher Archetyp und seine Dekonstruktion. Ein Schauspieler, der seine Arbeit und sein Publikum beschimpft, und genau damit einige offene und manche geheimen Wünsche dieses Publikums erfüllte. Mehr als ein „man you love to hate“ in 1001 Filmen. Eine Leinwand-Gegenwärtigkeit, die immer an etwas Verbotenes zu rühren schien. Für sich, und mehr noch für uns.

Kinski verband sehr unterschiedliche Aspekte der deutschen Filmgeschichte miteinander. Er war etwas vom Alten im Neuen, und etwas Neues im Alten. Man konnte in die unsinnigsten Filme gehen, nur um ihn zu sehen. Und noch die konservativsten Genreproduktionen erhielten durch ihn einen Riss. Er war kompatibel für die verschiedenen Filmwelten, den Kunstfilm, das deutsche Genre-Kino, den Eurotrash, die internationale Großproduktion, weil er ohnehin nirgendwohin zu gehören schien. Seine Deutschheit war, wenn sie noch eine Rolle spielte, ins Stadium des Gespenstischen eingetreten. Das verkannte Genie steckt darin und hat sich davon losgesagt, so wie der Mensch Kinski, der eine bizarre Hassliebe zu seiner Heimat hegte, lebenslang fortwollte und lebenslang eingeholt wurde: das verkannte Genie empfindet, natürlich, auch seine Nationalität als Fluch, obwohl oder gerade weil es nur in ihr funktioniert. Es gibt Kulturen, in denen es die Rolle des verkannten Genies einfach nicht gibt, und andere, die nachgerade davon besessen sind, wie eben die deutsche.

Die ästhetische Technik des verkannten Genies ist der radikale Kampf gegen die Bedingungen seines Auftritts. Jede Bühne kann nur ein Schlachtfeld werden. Das verkannte Genie spielt auf die Verkennung hin. Noch böser als auf die Verkennung reagiert er auf die Erkenntnis; nichts hätte Klaus Kinski so beleidigen können wie die Anerkennung, denn sie hätte den Aspekt von Handwerk und Technik durchaus mit eingeschlossen. Das verkannte Genie ist eine Methode, aber es ist auch ein Mythos.

Ein deutscher Mythos, um genauer zu sein. Das verkannte Genie ist das mehrfach lesbare Bild, eine dialektische Aufhebung des großen deutschen Genie-Glaubens, was unter anderem die Ablehnung ästhetischer Aufklärung mit einschließt, und zugleich Utopie. Eine expressive Kraft gewissemaßen, die stärker ist als die Umstände, die seinen Ausdruck beschränkt; ein Kino, dessen einzelne Aspekte bedeutender sind als der beklagenswerte Zustand der Produkte. Das verkannte Genie ist als Tragödie des nicht zu sich (und nicht zu uns) kommenden ästhetischen Versprechens zu lesen, wie auch als glückliches Scheitern: Wir begrenzen – „wissend“ – das Genie; es ist nicht vollständig unterdrückt, aber wir lassen es auch nicht unbegrenzt wüten. Wir weisen – in den Konstruktionen des Genrekinos, aber auch in den Konstruktionen der öffentlichen Skandale – dem Ortlosen einen Platz zu, wir begrenzen eine Form der Ausdehnung, und zugleich werden wir süchtig nach einem bestimmten Stoff, einem bestimmten Bild: das Unverkennbare, das in tausend Masken wieder auftaucht. Der Stoff der radikalsten, einsamsten Identität (Kinski, das ist immer nur eines in vielem: KINSKI) und der allfälligsten Spaltung. Nichts ist zu high und nichts zu low für dieses kulturelle Chamäleon.

Klaus Kinski war ein handwerklich durchaus guter und vor allem ein professioneller und disziplinierter Schauspieler. Dennoch entspricht seine Performance eher einem Pop-Star, als einem Filmschauspieler. Die Wandlung wird der perfekte Ausdruck der öffentlichen Selbst-Konstruktion. Kinski füllt jede Rolle, aber er war nie „jemand anderes“ auf der Leinwand.

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Nicht nur in den Edgar Wallace-Filmen, in denen er am ehesten „Typ“ wurde, gibt er Performances, die scheinbar zu ganz anderen Filmen gehören, eine vollständig andere Art von „Kunst“ in einer lustvoll trivialen Ikonographie, die freilich nach dem Abgründigen an allen Ecken und Enden verlangt. Aber es ist nicht nur ein fremdes Bild, in einem System der nicht ganz so fremden Bilder; auch sein Blick geht woanders hin. Zu Bereichen in der Leinwand und jenseits von ihr, die allen anderen verschlossen bleiben müssen. Das dunkle Woher und Wohin des Kinski-Charakters, und sein sardonisches Grinsen angesichts der vergeblichen Versuche seiner Mitspieler, es zu ergründen, macht den Genuss jenseits der Genre-Träume. Klaus Kinski macht einerseits aus einem konventionellen Film immer mal wieder eine ziemlich heftige Angelegenheit. Man kann hier auch zuschauen, wie sich Genre-Konventionen brechen. Klaus Kinski hebt den trivialen Film über seinen eigenen Anspruch hinaus, aber zugleich zerstört er ihn auch. Das „verkannte Genie“ rächt sich, indem er gleichsam das Bild, das sich alle gemeinsam machen, die Produzenten und die Konsumenten, die Regisseure, Ausstatter und Schauspieler, „durchlöchert“. Wenn sein Blick die Kamera streift, enttarnt seine Bewegung die Aufnahmemaschine: die Kamera ist – natürlich – verliebt ihn einen Narziss wie ihn, aber Kinski, das ist schon ein Gutteil seiner Wirkung auf der Leinwand, beginnt mit dieser Verliebtheit zu spielen: Er weist sie zurück, zieht sie wieder an, spottet ihrer, um sie im nächsten Augenblick flehentlich um Aufmerksamkeit zu bitten.

Wo sieht er hin, und was sieht er da? Wir kennen diesen Kinski-Blick spätestens seit seiner Rolle als wahnsinniger Bruder des „Märchenkönigs“ in Käutners Version von LUDWIG II. In den schwarz/weißen Katakomben-Welten des Edgar Wallace-Filmes begegnen wir ihm immer wieder. Nur scheint er hier nicht den einen großen Bruch (zwischen Wahnsinn und Normalität, zwischen der Welt und dem Traum) zu bezeichnen, sondern die Brüchigkeit einer ganzen Welt, in der es immer wieder um das verdorbene Erbe geht. Neben dem Heimatfilm, der Idylle des deutschen Kinos (in der Kinski wenig verloren hatte) erzählt der Wallace-Film vom Verlust. Kinski ist ein Ergebnis dieses Bruches.

Klaus Kinski stellt eine Blickachse her, die die anderen Schauspieler und die nach den konventionellen Regeln arbeitenden Regisseuren tunlichst vermeiden. Kinskis bietet in diesem imaginären Bildraum vor der Kamera, den nur er bewohnen kann, die Möglichkeit eines „anderen Blicks“. Sein spöttisch zuckender Mund scheint uns auf diese verborgenen Möglichkeiten aufmerksam zu machen. Es ist wie eine Verlockung, auf die andere Seite zu wechseln, die Rückseite des Bildes.

Natürlich extemporiert Klaus Kinski auch in jedem dieser Auftritt die Rolle des verkannten Genies. Die immense Spannung baut sich nicht nur durch die unterschiedliche Intensität der schauspielerischen Stile auf. Am Ende mag man, erschöpft ein wenig, froh sein, jemandem wie Heinz Drache oder Joachim Fuchsberger folgen zu können, der eine verlässliche Alternative anbietet.

Was Kinski freilich nicht macht ist ein konzentriertes Arbeiten an einer Rolle. Er kriecht nicht wirklich hinein in die Menschen, er wirft uns stattdessen ihre Masken vor die Füße. Deshalb wird er auch in den seltensten Fällen „der“ Schurke eines Wallace-Films, sondern zumeist einer ziemlich weit unten in der Hierarchie, einen der verrät und der sich verkauft. Einer, der im entscheidenden Augenblick eher der Angst als der Lust gehorcht. Wenn der Schauspieler Kinski fast immer als eine Nummer zu groß für seine Rollen erscheint, so erscheinen die Menschen, die er spielt, fast immer eine Nummer zu klein für das, was sie sich  vorgenommen haben, an Schurkereien zum Beispiel. Die „Löcher“, die Kinskis Spiel in die Oberfläche des Genre-Bildes reißt, schließen sich auch wieder. Kinski ist nur selten in den deutschen Filmen (wie später etwa im Italowestern) der große Widersacher des Helden, ihm beinahe ebenbürtig, ihn in der Negation erst wahrhaft erschaffend, er ist vielmehr die Störung im System.

Klaus Kinski ist also vor allem der „rote Hering“, wie Alfred Hitchcock diese Verkörperung einer falschen Fährte genannt hat, eine Maske des Bösen. Jemand, der auf den ersten Blick so böse erscheint, dass er unmöglich der Haupttäter sein kann. Der nämlich ist vielmehr ein Mensch, der nur allzu perfekt die Maske des Bürgers und Biedermanns angenommen. So kann Klaus Kinski auch immer einmal das Opfer sein, das unter falschen Verdacht gerät, oder ein Instrument in den Händen eines bürgerlichen Verbrechens.

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In Werner Herzogs Filmen ist Kinski der Besessene, der an einer großen, an einer unmöglichen Aufgabe scheitern muss. An einem eingebauten Widerspruch in diesem Akt des „Overreachers“ (wie man einen solchen Charakter im amerikanischen nennt). Er ist der verliebte Vampir in NOSFERATU, der kunstsinnige Kolonialist in FITZCARRALDO, der schwächste Vitalist in WOYZEK. Was, ganz abgesehen vom filmästhetischen Rang, die Bedeutung der Arbeiten ausmacht, die Kinski und Herzog zusammen, und wie wir wissen wohl unter stetem heftigen Leidensdruck, hervorbrachten. Das ist eine ganz andere Dimension des verkannten Genies. Seine wahre Tragödie. Die Selbstverkennung.

Das abgekartete Spiel, das beinahe jedem nutzt, wie wir es aus den Genrefilmen kennen, gilt hier nicht mehr. Wenn sich das verkannte Genie auf den Grund sieht, wird eine andere Form der Verletzung sichtbar, jener Mensch, dem auf Erden nicht zu helfen ist, die radikale Empfindung der Heimatlosigkeit. In den Maskeraden des verkannten Genies in den Genrefilmen und im cinema maudit musste es in der Schwebe bleiben, ob die Einsamkeit Funktion der Verachtung oder umgekehrt sei. Ob das Genie verkannt werden will oder ob es das muss. Ob kriminelle Energie und die Amokläufe des Selbstwiderspruchs, die kalte Professionalität des Mörders mit der Sonnenbrille oder die laszive Gewalt des Buckligen, der Sadismus, der Zorn, der Ekel, Provokation oder Reaktion sind. Um die Masken des Kinski-Charakters kann man sich stets einiges herum träumen. Und in den Genres ist es dabei relativ leicht, stets wieder auf die sichere Seite zu gelangen. Doch bei Herzog kann dieser Charakter nicht mehr nach Belieben die Leinwand perforieren, seinen Blick ins Jenseits und ins Dunkel schweifen lassen, die Verführung zur finsteren Vagheit funktioniert nicht mehr. Nun ist die Kamera unerbittlich und sieht dem verkannten Genie bei seiner Arbeit zu. Bei der Arbeit der Selbstaufhebung.

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In den siebziger Jahren war Klaus Kinski in einer Anzahl von Western und Krimis der italienischen giallo-Tradition zu sehen. Seine Funktion mechanisiert sich hier in gewisser Weise. Maske und Rolle nähern sich einander an. Er spielt den Killer in Filmen wie LA MAN SPIETATA DELLA LEGGE  nicht zuletzt als Professional. In seinen Western probiert er alle Masken des Bösen aus, er ist hier gleichsam zuhause: Die italienischen Genrefilme erheben das Prinzip Übertreibung, die Exaltation, die Expression, die über die Regeln des psychologischen Realismus hinausgeht, zur Leitlinie. Absurdes Unterspielen (wie bei Eastwood oder Bronson) und absurdes Überspielen passen hier hervorragend zusammen. Wenn Kinski in den deutschen Wallace-Filmen der ästhetische und moralische Störfall war, so war er in den Italowestern die böse Seele des Posthistorie. Es sucht seinen radikalsten Ausdruck, in der Eleganz wie in der dekorativen Heruntergekommenheit. Es will zu einem reinen Zeichen werden. Deshalb macht es auch wenig aus, dass Kinski Fremdkörper im Film bleibt, einer, der ein paar Drehtage einschiebt, auch wenn er nicht die geringste Ahnung davon hat, welche Funktion sein Charakter eigentlich in der Story hat: der schauspielerischen Professionalität tut das keinen Abbruch. Das Deutsche in seinem Wesen, ausgesprochen oder unausgesprochen, verwandelte die Maske des Bösen in eine perfide Weise des kalten Perfektionismus. Sie wie in seinen deutschen Filmen die Unvernunft lauert, lauert hier, unter der Maske des Verkannten, die kalte Vernunft. Die Apotheose dieser Form des Bösen findet sich in Corbuccis IL GRANDE SILENCIO: Das Böse, das nie den Rahmen der Legalität verlässt, das sich immer wieder als falsches Opfer darbietet, um seine Gegner durch ihre eigenen moralischen Codes in die Falle zu locken. IL GRANDE SILENCIO ist auch ein Film über Klaus Kinski.

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Die Rolle des verkannten Genies spielte Kinski „diszipliniert“ in seinen Film-Rollen, und archaisch außerhalb. Weder in den Kämpfen der Generationen noch in den politischen Konflikten der sechziger und siebziger Jahre wollte Kinski einen Platz finden. Sein Lebensstil verprellte die Rechte und seine Statements verprellten die Linke. Kaum hatten ihn die progressiven Cineasten zum Kult erklärt, da schien er ihnen durch seine Auftritte in militaristischen Söldner-Schinken ins Gesicht spucken zu wollen. Seine öffentlichen Auftritte waren grandiose Inszenierungen von Selbstwiderspruch. Wer hätte außer ihm auf die Idee kommen können, nach Villon ausgerechnet mit Texten aus dem Neuen Testament auf Lesereise, oder genauer gesagt auf eine Tournee inszenierter Skandale zu gehen? Als hätte das verkannte Genie der deutschen Nachkriegsgesellschaft vor nichts so sehr Furcht als davor, erkannt und angenommen zu werden. Sein Exhibitionismus schien vor allem Maske; er schleuderte seine Biografie als Skandal heraus und verbarg sich perfekt darin. Aber auch die künstlerisch ambitionierteren Projekte dienen durchaus als Maskierungen für seine so verachtete Arbeit im Trivialkino, in dem es viel eher Augenblicke der Wahrheit gibt. Augenblicke, in denen der perfekte Darsteller des verkannten Genies, der perfekte Darsteller der wolllüstigen Einsamkeit, erkennen ließ, was an Verlust und Mangel vielleicht dahinter stecken mochte. Nur in der Rolle des Schurken und in der Rolle des leidenden Künstlers konnte er vollständig „identisch“ sein. Sein PAGANINI-Film – es ist fast überflüssig zu sagen, dass auch dieser Film vollkommen verkannt werden musste – gibt dieses glückliche Leiden auf beängstigend perfekte Weise wieder.

Kinski ist der direkte oder indirekte Schöpfer eines cinema maudit. Wie man es dreht oder wendet, man kann sich nicht einfach damit versöhnen. Man kann sich nicht daran gewöhnen.

Das verkannte Genie reißt immer wieder die Leinwand auf.

Autor: Georg Seesslen