Das Finale

Die 73. Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica hat beim Publikum viele Diskussionen ausgelöst, ja, oft Streit entzündet. Was für die Filmauswahl spricht. Nun darf man sich wieder zoffen – wegen der Entscheidungen der neunköpfigen Jury.

Mühe haben sie sich gegeben, die Juroren, zweifellos. Doch wie heißt’s so schön: Mühe allein genügt nicht. Immerhin: Die Entscheidungen entsprechen dem Konzept des Festivals, Kunst und Kommerz gleichermaßen zu zeigen.

Den Goldenen Löwe, gab’s für Kunst. Der Preis ging erstmals in der Festivalgeschichte auf die Philippinen. Regisseur Lav Diaz bekam ihn für sein vierstündiges Epos „The Woman who Left“ („Die Frau, die verschwand“). Das war vielfach erwartet worden. Gedreht in Schwarz-Weiß, in langen starren Einstellungen, die Kamera geradezu gefesselt, erzählt er – dabei durchaus auch gesellschaftliche Realität spiegelnd – die Ende der 1990er Jahre spielende Geschichte einer verzweifelten Frau. Dreißig Jahre hat sie unschuldig im Gefängnis gesessen, jetzt ist sie auf Rache aus. Spannung erwächst aus der Frage, ob sie zur Waffe greift oder nicht, ob die Menschlichkeit siegt oder untergeht. Ja, das kann man als großes, kunstvolles Kino sehen. Freilich: Man darf auch zweifeln. Denn Jahrzehnte haben Filmemacher für die Beweglichkeit der Kamera gekämpft. Lav Diaz steckt sie in eine Zwangsjacke. Da sind auch Fragezeichen angebracht. Die Entscheidung der Jury zielt aber sicher darauf ab, gerade die ungewöhnliche Form zu ehren. Vielleicht hilft das ja auch, dass mal ein Lav Diaz Film in der so genannten westlichen Welt ein größeres Publikum findet.

Streiten muss man über den Großen Preis der Jury an den US-amerikanischen Regisseur Tom Ford für „Nocturnal Animals”. Der Thriller ist makellos inszeniert, die Schauspieler agieren mit Klasse. Wer’s gern eklig hat, mag sich auch gut unterhalten fühlen. Wer nicht, für den ist die ausufernde Brutalität nur schwer erträglich. Fragwürdig ist zudem die Geisteshaltung der Erzählung: Es wird beklatscht, dass eine Frau von ihrem Ex-Mann bestraft wird, weil sie sich ihm in jungen Jahren entzogen und das gemeinsame Kind abgetrieben hat. Da wird das auch von Nicht-Feministen anerkannte Recht der Frau, gerade in der Frage Kind bekommen: ja oder nein, frei und unabhängig zu entscheiden, tüchtig abgewatscht.

Über so einige Juryentscheidungen schüttelt der kritische Kinoliebhaber den Kopf: Unsinnig sind der Spezialpreis der Jury für die oft unappetitliche Kannibalen-Lovestory „The Bad Batch“, die Auszeichnung für das beste Drehbuch an Noah Oppenheimer für die oberflächliche Jaqueline-Kennedy-Schmonzette „Jackie“, die Ehrung für die nicht singen und nicht tanzen könnende Emma Stone als beste Schauspielerin im Möchtegern-Musical „La La Land“. Gar nicht zu verstehen ist die Teilung des Regie-Preises. Denn der Spanier Amat Escalante hat seinen Erotik-Thriller „Das Ungezähmte“ durch gravierende Inszenierungsfehler schlichtweg verhunzt. Und der Russe Andrej Kontschalowski hat es nicht verdient, dass sein – durchaus streitbares – Anti-Nazi-Drama „Paradise“ nur halbherzig geehrt wurde.

Andere Preise wiederum sind sehr okay. So die Ehrung des Argentiniers Oscar Martinez als bester Schauspieler für seine Darstellung der Hauptfigur in der Satire „Ein ehrenwerter Bürger“. Und: Völlig zu Recht hat Paula Beer den Marcello-Mastroianni-Preis als beste Nachwuchsdarstellerin bekommen.

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Awards Ceremony – Red Carpet | Paula Beer – La Biennale Di Venezia (Foto ASAC)

Wirklich: Ihre Interpretation einer jungen Frau, deren Verlobter im Ersten Weltkrieg in Frankreich gefallen ist, und die sich dann ausgerechnet in einen Franzosen verliebt, ist hinreißend. Wie der ganze Film. Regisseur François Ozon denkt klug darüber nach, wie Menschen unterschiedlichster Kulturen Vorurteile abbauen und gut miteinander leben können. Damit hat er einen der wichtigen Filme des Festivals zu einem von dessen Schwerpunktthemen gezeigt. Großartig.

Schade, dass Wim Wender mit „Die schönen Tage von Aranjuez“ leer ausgegangen ist. Dabei hätte er den Regie-Preis mehr als verdient, hat er doch das Theaterstück von Peter Handke brillant auf die Leinwand übertragen und dabei exzellent die 3D-Technik einsetzend. Wirklich schade.

Tag 9 (08-09-16)

Starkes aus Italien im Wettbewerb: Das Melodram „Questi Giorni“ („Diese Tage“) von Regisseur Giuseppe Piccini. Geschildert werden Sommertage von vier jungen Frauen, so um die 20. Sie studieren, sie arbeiten, jetzt haben sie frei, sind Freundinnen seit der Kindheit. Eine ist todkrank, was die anderen nicht wissen…

Klingt nach Kitsch – wird aber nicht geboten. Statt dessen gibt’s eine feine, leise Studie von jungen Leuten auf der Suche nach sich selbst, mit sensiblen Verweisen auf eine Gesellschaft, in der es immer mehr Armut gibt, aber auch viele  Reiche, die ihr Geld schamlos ausstellen.

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Questi Giorni von Regisseur Giuseppe Piccini

Insbesondere nehmen die vier junge Hauptdarstellerinnen gefangen, allesamt noch nicht sehr bekannt – Maria Roveran, Marta Gastini, Laura Adriani, Caterina Le Caselle. Ihnen gelingen facettenreiche Charakterstudien. Schön auch: Der Film ist ganz unaufgeregt, setzt nicht auf Effekthascherei. Gut möglich, dass die Jury ihn in Betracht zieht. Auf Festivals gibt’s ja gern Preise für SchauspielerInnen-Ensembles. Die vier hier liegen als Gruppe gut im Rennen um die Coppa Volpi für die beste Schauspielerin.

Regisseur Lav Diaz zeigte im Wettbewerb den Spielfilm „The Woman Who Left“ („Die Frau, die verschwand“). Der Film setzt ein als die Engländer Hongkong an China übergeben, im Sommer 1997. Horacia, eine Frau in den späten Fünfzigern sitzt seit 30 Jahren im Gefängnis. Doch die Nachrichten in der philippinischen Provinz berichten vor allem von Entführungen, die an der Tagesordnung sind. Da erfährt Horacia, dass sich eine andere Mitgefangene zu dem Mord bekannt hat, der ihr angelastet worden ist. Sie wird entlassen. Nun macht sie sich auf, ihre Familie zu suchen. Ihr Mann ist verstorben, die Tochter 37 Jahre, selbst Mutter, der Sohn, älter als die Tochter hat sich seit Jahren nicht bei seiner Schwester gemeldet. Die Mutter macht sich auf die Suche nach ihm. Man ahnt schnell, dass es vor allem auch eine Suche nach der eigenen Identität ist.

Lav Diaz hat wieder in Schwarz-Weiß gedreht. Bild- und Tonqualität sind zweitklassig. Es war zu hören, er habe digital gedreht. Auf der großen Leinwand wirkt das optisch und akustisch überaus grob. Wie bei ihm üblich folgt eine mit statischer Kamera aufgenommene Szene auf die nächste, sehr langsam, bedächtig. Lav Diaz lässt sich, wie immer, Zeit. Wobei der Film mit nicht einmal vier Stunden Laufzeit für ihn geradezu kurz ist. Anders als in „Von dem, was war“, wofür er 2014 in Locarno den Hauptpreis, den Goldenen Leoparden, bekam, wirkt das aber nicht zwingend und entwickelt keinen Sog. Der Diaz’ zufolge von Tolstoi angeregte Film hat, trotz der dramatischer Momente in der Story, keine Dramatik. Viele der Tableaus um Horacia wirken willkürlich aneinandergereiht, sind auch in anderer Folge vorstellbar. Und eine Frage stellt sich: Jahrzehntelang haben Filmkünstler der Kamera Beweglichkeit abgerungen, um tiefer in Charaktere und Situationen eindringen zu können. Warum diese Statik? Der Film rechtfertigt den gestalterischen Minimalismus nicht.

Allerdings: Zu den vielen starken schauspielerischen Leistungen – und damit Kandidatinnen für eine Auszeichnung als beste Darstellerin auf diesem Festival– gesellt sich nun Hauptdarstellerin Chart Santos-Concio, offiziellen Angaben nach 1955 geboren. Charo Santos-Concio, in der Öffentlichkeit stets schick und bildschön, ist auf den Philippinen vor allem als Produzentin und Geschäftsfrau im Film- und TV-Geschäft bekannt, hat jedoch schon mehrfach als Schauspielerin brilliert. Bei Lav Diaz überzeugt sie nicht allein mit ihrem Äußeren, dem einer abgearbeiteten älteren Frau fern von Schönheitssalons, die von großem Leid gezeichnet ist. Es gelingt ihr mit intensiver Präsenz, nicht nur das Interesse an der Figur wach zu halten, sondern den Zuschauer emotional zu erreichen. Fast mutet es an, als spiele sie gegen die Intentionen von Lav Diaz, der doch eher auf distanzierte Beobachtungen setzt. Daraus erwächst Spannung. Und nun die Frage, ob sie das Rennen um die Auszeichnung mit der Coppa Volpi macht.

Tag 8 (07-09-16)

Der chilenische Regisseur Pablo Larraín, im Vorjahr ausgezeichnet auf der Berlinale für „El Club“, hat einen Film für britische Produzenten realisiert: „Jackie“. Im Zentrum steht die von Natalie Portman verkörperte Witwe des US-Präsidenten John F. Kennedy, Jacqueline Kennedy. Hintergründe der Tat oder die bis heute nicht versiegenden Verschwörungstheorien spielen keine Rolle. Offenbar geht es darum, das Befinden der Frau unmittelbar nach dem schrecklichen Erleben zu schildern. Als Aufhänger des Films dient ein Gespräch Jackies mit einem Journalisten.

Die Inszenierung stellt das reale Geschehen von damals fast zu einhundert Prozent nach. Selbst eine TV-Show, in der Jackie zur Zeit der Präsidentschaft ihres Gatten die US-amerikanischen Fernsehzuschauer durchs Weiße Haus führt, wurde nachgedreht. Immer wieder geht es um die Ausstattung dieses Hauses, werden die Innenräume ausführlich gezeigt. Jackie selbst wird dabei fast zur Statistin, obwohl sie in wohl jeder Szene präsent ist. Doch wirkt sie nahezu durchgehend statisch, selbst dann, wenn Nervenzusammenbrüche vorgeführt werden. Crux des Film ist genau das: es wird vieles vorgeführt. Zum Wesen der Dinge und Personen dringt die Erzählung nie vor. Das sieht sich schön an und schick, man weiß, wie schrecklich die Tat und das Leben danach für Jacqueline Kennedy gewesen sein müssen, doch es berührt einen nicht.

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Jackie (© Stéphanie Branchu)

Politische Probleme werden auf Stichworte reduziert: Kuba, Vietnam. Ansonsten spielen sie keine Rolle. In einer Szene sagt die Protagonistin zu ihrer engsten Vertrauten: „Ich bin jetzt nicht mehr die First Lady. Bitte nenn’ mich Jackie.“ Da blitzt auf, wovon der Film erzählen könnte, nämlich von dem Konflikt einer Frau zwischen eigenem Leben und Rolle als öffentlicher Person. Doch dazu kommt es nicht. So fragt man sich am Ende verdutzt, warum Larraín den Film überhaupt gedreht hat. Man findet keine Antwort auf diese Frage.

Sehr viel packender: „Paradise“ von Regisseur Andrei Konchalovsky, eine russisch-deutsche Ko-Produktion. Mit einem sehr überraschenden Einfall (der hier nicht verraten werden soll) führt der Film drei von sich erzählende Protagonisten ein: Olga, eine Russin, Jules, ein Franzose, Helmut, ein Deutscher. Die Drei haben eines gemeinsam: Sie erleben die Hölle des Zweiten Weltkriegs. Olga als Leidende in einem Konzentrationslager, Jules als Polizist, der in Frankreich zur Zeit der deutschen Besatzung zum Handlanger der Gestapo wird, Helmut als SS-Mann. Der Film, gedreht in Schwarz-Weiß, lässt sie von sich erzählen, von ihren Motiven, dies zu tun und jenes zu lassen. Das Modellhafte der Situation vergisst man als Zuschauer rasch. Die langen Spielsequenzen, ab und an von Halbtotalen der Erzählenden unterbrochen, ziehen einen ungemein in den Bann. Denn sie zeigen mit bitterer Nüchternheit die Mechanismen des Bösen auf.

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Paradise von Regisseur Andrei Konchalovsky

Konchalovskys Film ist von ungeheurer Wucht. Er erschrickt und verstört. Denn er zeigt – und weist damit auf Aktuelles – wie leicht es falsche Propheten haben, Menschen zur Unmenschlichkeit zu verführen. Doch das ist auch Hoffnung. Allerdings: Konchalovsky kleidet sie am Ende in ein Märchen. Das deutet auf Skepsis. – Der Beifall war außerordentlich stark. Gut möglich, dass die Jury dem Film, der eine klassische Strenge ausstrahlt, einen der wichtigen Preise gibt. Verdient wäre es.

Tag 7 (06-09-16)

Keanu Reeves und Jim Carrey – zwei große Schauspielnamen aus Hollywood – sollen zum Besuch des Spielfilms „The Bad Batch“ verlocken. Nun ist es aber so: Reeves erkennt man frühestens auf den zweiten Blick, Carrey kaum, und beide haben lediglich Mini-Rollen in dem mindestens mit dem Etikett „seltsam“ zu versehenden zweiten Spielfilm der US-amerikanischen Regisseurin Ana Lily Amirpour. Sie ist die einzige Regisseurin, die hier mit einem Film im Wettbewerb vertreten ist (jedenfalls allein, die italienisch-schweizerische Doku „Spira Mirabils“ wurde von einem Paar, von Massimi D’Adolfi & Martina Parenti, gestemmt).

„The Bad Batch“ illustriert einen bekannten Spruch: „Ich habe Dich zum Fressen gern.“ Erzählt wird die Lovestory eines Kannibalen und einer Nicht-Kannibalin. Die hat zum Filmanfang, und da verließen die ersten Zuschauer das Kino, Kontakt mit Menschenfressern – als Futter. Ein Arm und ein Bein werden ihr abgesägt und zu einer „leckeren“ Mahlzeit verarbeitet. Doch das Mädchen kann entkommen. Ihre Kräfte übersteigen alles nur Denkbare. Sicherheit findet sie in einer Art Camp, das von einem Guru (Reeves) beherrscht wird. Doch dann treibt es sie immer wieder hinaus zu den „Wilden“…

Das ganze spielt in einer nicht näher bezeichneten Welt, irgendwo hinter Texas, in einer Art Niemandsland zwischen den USA und Mexiko. Meist sind wir in der Wüste. In einem riesigen Areal hinter Stacheldraht leben die Kannibalen, in einem hinter Mauern und Stacheldraht die Nicht-Kannibalen. Kommt man mal zusammen, fliegen die Fleisch-Fetzen. Nur eine Art Müllsammler (Carey) kann sich offenbar unbehelligt und frei bewegen.

Was das Ganze soll? Frau Amirpour sagt: „Das ist ein Liebesbrief an Amerika!“ Nun ja, die Liebe kennt bekanntlich die seltsamsten Arten der Äußerung. Schade nur: Motive, Emotionen, Gedanken der Figuren werden nicht deutlich. Der ganze Film – knallige Bilder und noch knalligere Musik sind bestimmend – setzt auf Effekthascherei. Für Momente kracht und zischt es dann hübsch hässlich. Mehr lässt sich nicht ausmachen. Preiswürdig? Manche meinen tatsächlich „ja“, weil wirklich originell.

Der italienische Schauspielstar (und auch schon mehrfach Regisseur) Kim Rossi Stuart hat außerhalb des Wettbewerbs den Spielfilm „Tommaso“ gezeigt, von ihm mitgeschrieben, inszeniert und mit sich in der Hauptrolle. Es geht um Kim Rossi Stuart. Nach eigenen Angaben reflektiert er seine persönlichen Empfindungen, Erfahrungen, Einstellungen. Da kann einem der gute Mann nur leid tun. Denn er zeigt sich selbst als neurotischen, egomanischen, ja, dussligen Typen, dessen A und O die Tatsache ist, dass er mit Frauen Probleme hat, nicht wirklich lieben und es erst recht nicht ertragen kann, geliebt zu werden. Glück für ihn: er kann sich das Geld für einen Psychiater sparen, darf das Ganze als Film herausbringen. Ob er nun besser mit sich klar kommt, lässt sich nicht beurteilen. Der (gestalterisch solide) Film lässt sich beurteilen: überflüssig.

Und dann noch ein Film, den deutsche Geldgeber mit zu verantworten haben: „Voyage of Time: Life’s Journey“ von Terrence Malick (USA). Der Film, in der in Venedig gezeigten 90 Minuten dauernden Version mit Cate Blanchett als Erzählerin hat ein absolut kontroverses Echo ausgelöst: die einen sprechen von einem Meister-, die anderen von einem Machwerk. Wie so oft liegt die Wahrheit dazwischen. Malick will dem Werden und Wachsen der Erde nachspüren, ja, des Universums an sich. Da badet der zum Glück nicht durchgehende, aber doch viel zu lange Kommentar denn in Beschwörungen von Mutter Natur.

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Voyage of Time: Life’s Journey

Im Text werden, meist lyrisch verbrämt, Grundsatzfragen gestellt: Woher kommt die Welt? Wozu gibt es die Welt? Was soll das Leben, so wie wir es kennen? Dazu gibt es eine Bilderflut in Breitwandformat: Tiere aller Art auf dem Land, in der Luft und unter Wasser, Dinos (am Computer gezaubert) inklusive, viele, viele Wolkenbilder, noch mehr Lavaströme und Vulkaneruptionen, Momentaufnahmen aus dem All. Mehrfach wird das Bild auf das klassische Kinoformat 4 : 3, wie man’s schon zu Stummfilmzeiten kannte, verkleinert, immer dann, wenn heutiges Leben und Treiben von Menschen, meist in überbevölkerten Städten, gezeigt wird. Dazu gibt’s viel Musik, dröhnt Bach, säuselt Avo Pärt, sinniert Mahler. Das sieht sich gut an, ist gelegentlich von bezwingender Intensität, wirkt aber oft auch zufällig. Da wundert’s einen nicht, wenn man hört, dass es schon jetzt eine zweite Fassung gibt, nur halb so lang, auf die optischen Höhepunkte eingedampft, für den Massenstart in den Kinos. Das lässt das ganze Unternehmen unseriös erscheinen. Gut möglich trotzdem, dass sich die Jury hat überwältigen lassen und zu den heftig Applaudierenden gehört, genauso gut möglich ist aber ebenfalls, dass die Jury denen zustimmt, die das Kino vorzeitig verlassen haben.

Es bleibt also spannend, auch noch auf der jetzt begonnenen Zielgeraden Richtung Preisverleihung. Das spricht für die 73. Ausgabe des Filmfestivals von Venedig.

Tag 6 (05-09-16)

Italien kommt ins Spiel. Vor einigen Tagen lief bereits der filmische Essay „Spira Mirabilis“, eine italienisch-schweizerische Ko-Produktion vom Regie-Duo Massimi D’Anolfi & Martina Parenti. Der Film ist nur schwer zu entschlüsseln, bleibt durchweg abstrakt. Gezeigt werden Bilder von diversen Arbeitsvorgängen, etwa von Wissenschaftlern und Handwerkern, aber auch Riten des Volksglaubens. Alles Sequenzen sind aneinandergereiht – das Warum und Wieso erschließt sich kaum. Immerhin: Man lernt etwas über die geheimnisvollen Möglichkeiten der Natur. Da geht es nämlich auch um eine Qualle, die sozusagen die Kunst der Wiedergeburt beherrscht. Wie, das weiß der menschliche Forscherdrang nicht zu erklären. Man staunt. Geht aber ob der Flut an verschiedenen Momentaufnahmen eher verwirrt aus dem Kino. Wäre man bösartig, könnte man sagen: „Koyaanisqatsi“ der ärmeren Art.

Leichter zu erschließen: die Farce „Piuma“ von Roan Johnson. Erzählt wird eine turbulente Familiengeschichte in Rom. Eine junge Frau, noch Schülerin, wird schwanger von ihrem Freund. Er ist ein Träumer, nicht wirklich der Realität verbunden, lebt nach dem Motto, „die Eltern werden’s schon richten“. Alle denkbaren Italien-Klischees werden bedient: die Protagonisten sind laut, hysterisch, haben große Herzen, meistern das Leben immer irgendwie, und tragen alle Misslichkeiten erhobenen Hauptes. Am Ende allerdings steht die Frage: Was ist das eigentlich, Glück? Spannend daran: ganz nebenbei wird der Alltag des römischen Mittelstandes, geprägt von zunehmenden sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten, gespiegelt. Sehenswert.

Regisseur Stéphan Brizé, Frankkreich, bekannt zum Beispiel durch „Mademoiselle Chambon“, schickt „Un Vie“ („Ein Leben“/ internationaler Verleihtitel: „A Woman’s Life“) ins Löwen-Rennen. Bisher bekannt als genauer Beobachter gesellschaftlicher Schieflagen in der Gegenwart, blickt er dieses Mal aufs frühe 19. Jahrhundert. Geschildert wird das Leben einer jungen Adligen. Nach der unbeschwerten Kindheit und Jugend wählt sie einen standesgemäßen Ehemann, der sich alles andere als anständig verhält. Nicht nur bevormundet er sie in jeder Hinsicht, vor allem hintergeht er sie laufend, indem er Affären mit anderen Frauen, ob Personal oder Adlige aus dem Umfeld, genießt. Was die Heldin der Erzählung in tiefen Gram stürzt. – Leider hat sich Brizé dazu entschieden, nicht geradlinig zu erzählen, sondern in wilden Zeitsprüngen, Gegenwartsebene der Erzählung und Erinnerungen heftig durcheinander zu mischen. Man hat oft schlicht Schwierigkeiten, dem zu folgen. Was die Wirkung erheblich einschränkt.

Außerhalb der Konkurrenz lief die Dokumentation „One More Time With Feeling“ über den Musiker Nick Cave, passend zum Erscheinen seines neuen Albums Ende dieser Woche. 

Der 58-jährige Australier muss den Tod seines Sohnes verarbeiten. Der kam vor einem Jahr mit 15 ums Leben. Für Eltern ist so ein Schicksalsschlag kaum zu ertragen. Der Schmerz vergeht nie. Kein Wunder, dass Cave in Venedig nicht zur Pressekonferenz gekommen ist.

Regisseur Andrew Dominik bemüht sich um Würde in seinem Porträt des Leidenden. Der Film ist in Schwarz-Weiß gedreht und in 3D. Letzteres erscheint nicht zwingend. Der Film beeindruckt als Studie des Überlebenswillens von Menschen. Höchst beeindruckend.

Und noch eine Dokumentation, auch außerhalb des Wettbewerbs, schon am Freitag erstmals zu sehen gewesen: „Safari“ vom Österreicher Ulrich Seidl. Wieder will er provozieren, indem er gnadenlos die Wirklichkeit spiegelt. Dieses Mal richtet sich sein Augenmerk auf den Jagd-Tourismus in Südafrika. Das ist kaum auszuhalten.



Klar zeigt er: der Mensch ist die das größte Raubtier auf Erden. Es gab viele Zuschauer, die den Film nicht ausgehalten haben, etwa wenn gezeigt wird, wie eine Giraffe abgeschlachtet wird. Doch die Rezensenten jubeln. Tatsächlich gelingt es Seidl mit seiner direkten Art, wieder einmal den Finger auf eine d e r Schwachstellen des Menschengeschlechts zu legen: die totale Selbstüberschätzung.

Tag 5 (04-09-16)
Schauspiel-Star Mel Gibson hat mal wieder Regie geführt und haut dabei mächtig auf die K…: „Hacksaw Ridge“ heißt der Film, der hier außerhalb der Konkurrenz zu sehen war. Gibson erzählt eine auf Tatsachen basierende Geschichte um einen Mann (Andrew Garfield), der sich als Soldat im Zweiten Weltkrieg weigert, eine Waffe anzufassen. Das könnte spannend sein, setzte sich der Film wirklich damit auseinander. Leider tut er das nicht, sondern offeriert – neben allerlei Schlachtgewittern – unendlich viel Pathos und noch mehr übersteigerte Religion, so dass aus der ansich spannenden Geschichte ein unerträglich überzogen anmutendes Heldenepos wird. Die schreckensvolle Schlacht um Okinawa wird dabei zum fast schon pittoresken Hintergrund für Mel Gibsons Predigt. Vielleicht sollte Mr. Gibson vom Regiestuhl auf die Kirchenkanzel wechseln?

Erfreulich: Es gab endlich mal was zum Lachen, dank des argentinisch-spanischen Wettbewerbsfilms „Ein vornehmer Bürger“. Der Titel meint den Anti-Helden der intelligenten Komödie, einen Schriftsteller, der es bis zum Nobelpreis für Literatur gebracht hat. Fünf Jahre nach der Auszeichnung und Jahrzehnte nach seinem Fortgehen aus seinem Heimatort, einem Provinzkaff in Argentinien, kommt dieser Daniel Montovani in eben dieses Kaff und erhält eine gehörige Lektion in Sachen Menschlichkeit und – Unmenschlichkeit. Da zeigt sich nämlich, dass der Mann, der meint in seinen Werken das Leben zu reflektieren, von eben diesem Leben, so wie es die Mehrheit der Menschheit erfährt, keinen blassen Schimmer hat.

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El Ciudadano Ilustre

Der Film bleibt nicht auf der Ebene einer Auseinandersetzung mit den Schrullen eines Künstlers, sondern weitet sich zum Gesellschaftspanorama. Daniel muss in seinem Heimatort nämlich einen Nationalismus erleben, der ihm, dem Kosmopoliten, völlig fremd ist. Zugleich wird ihm die eigene Beschränktheit vorgehalten. Da wird der an Pointen reiche Spielfilm aus Südamerika plötzlich zum erhellenden Spiegel von Lebensumständen und Geisteshaltungen, die uns in Mitteleuropa leider sehr vertraut sind.

Rätselhaftes hat Mexiko ins Rennen um den Goldenen Löwen geschickt: „Das Ungezähmte“ von Regisseur Amat Escalante, ein Film, der von Produzenten aus sechs Ländern realisiert worden ist, auch aus Deutschland. Zunächst sieht sich das an wie eine Sozialstudie, ausgehend vom Alltag einer kaputten Familie.

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La región salvaje (The Untamed)

Mehr und mehr aber wird daraus eine verquere Parabel um übersteigerte sexuelle Lust, übernimmt ein seltsames Fabelwesen die Hauptrolle, ein mit vielen Saugarmen ausgestattetes Wesen, das ein wenig an einen kleinen Saurier, gekreuzt mit einem Tintenfisch, erinnert. Leider gleitet der Film, je länger er dauert, ins Reich sexueller Fabulierlust, die zum Teil drastisch bebildert wird. Was es soll, wird so recht nicht klar – und lässt einen deshalb recht kalt.

Tag 4 (03-09-16)

Nachdem schon Tom Ford in „Norcturnal Animals“ eine heftige Gewaltorgie entfacht hat, legte der Niederländer Martin Koohlhoven mit „Brimstone“ („Schwefel“) kräftig nach – und kassierte, gleich Ford, abwandernde Zuschauer während der Aufführung und einige Buh-Rufe am Ende.

Eingeteilt in nicht chronologisch geordnete Kapitel, mit Überschriften wie „Exodus“ oder „Vergeltung“, erzählt er eine zur Zeit der Besiedlung Nordamerikas durch Europäer spielende Geschichte um einen teuflischen Priester (Guy Pearce). Getrieben von Größenwahn und fanatisiertem Glauben lebt der gottlose Mann seine sexuellen Perversionen voll aus, misshandelt erst seine Frau, dann seine halbwüchsige Tochter, die er gar vergewaltigt, und will sich schließlich auch noch an seiner Enkelin in gleicher scheußlicher Weise vergehen. Doch die Tochter (als Erwachsene gespielt von Dakota Fanning) setzt sich zur Wehr. Eine Auseinandersetzung mit irre geleiteten religiösen Vorstellungen, mit der Gewalt, die unsere Welt mehr und mehr bedroht? Man muss schon sehr gutwillig sein, um dies in dem Film zu entdecken. Anfangs meint man noch in dem an einen Western erinnernden Film Anklänge an Charles Laughtons „The Night oft he Hunter“ (1955) zu entdecken, ein Drama, in dem Robert Mitchum als satanischer Wanderprediger seine Umwelt terrorisiert. Doch wo Laughton klug tatsächlich Gesellschaftskritik übt, begräbt Koolhoven jeden Ansatz dazu unter ekelerregend ausgebreiteten Gewaltexzessen: Menschen werden Zungen abgeschnitten, bei lebendigem Leibe die Gedärme herausgeholt, sie werden an Tiere verfüttert, es wird vergewaltigt, geschlagen, psychische Brutalität zelebriert. Alle denkbare ernsthafte Auseinandersetzung mit sozialen Fehlentwicklungen geht dabei verloren. Das ist oft unerträglich in seiner Freude an purem Sadismus. Wenn da etwa in epischer Länge gezeigt wird, wie ein Mann einen anderen zu Tode stranguliert, ist das rein spekulativ. Die Talente der Schauspieler werden verheizt. Ob Guy Pearce als eindimensionaler Unhold oder Dakota Fanning als kämpferische Heroine oder Carla Jury in einer kleinen Rolle als mutige Prostituierte. Es ist zu hören, dass sogar Jury-Mitglieder vorzeitig aus dem Kino gegangen sein sollen. Wahrlich: ein Machwerk. Man fragt sich, warum das Festival den Film eingeladen hat. Sicher: Die Auseinandersetzung mit Gewalt ist notwendig. Doch sie nur zu zeigen hat keine Wirkung. Es ist zum Heulen!

Zum Schmunzeln, manchmal auch zu lautem Lachen regten einen Paolo Sorrentinis außerhalb des Wettbewerbs gezeigte zwei Episoden der bald auch in Deutschland zu sehenden TV-Serie „Der junge Papst“ an. Jude Law spielt einen Priester, der als erster US-Amerikaner zum Papst gewählt wird und im Vatikan aufräumen soll. Oft sieht sich das wie eine soap opera an, manchmal werden satirische Höhen erreicht, wenn verschmitzt auf diverse Versuche des US-amerikanischen Politzirkus’ angespielt wird, die Haltung Washingtons, weltweit das Sagen beanspruchen zu dürfen.

Jude Law agiert brillant, neben ihm hat Diane Keaton die besten Szenen. Als Schwester Mary, die dem Papst zur Seite steht, bringt sie die Haltung Sorrentinos auf den Punkt, wenn sie sagt, der Vatikan sei „eine Stadt verlorener Seelen, die nie gelebt haben“. Höhepunkt dessen, was von dieser Serie hier zu sehen war: Der Papst hält eine Lobrede auf sexuelle Selbstbefriedigung und Schwulenehe. Das entpuppt sich dann als Traum. Und man ahnt: Die Serie wagt sich daran, die Institution Kirche – nicht den Glauben an sich! – als Alptraum zu entlarven. Damit dürfte sie sehr viel wirkungsvoller sein als Koolhovens brutales Wild-West-Epos.

Tag 3 (02-09-16)

Der Eindruck nach den ersten Filmen: Ein starker Festivaljahrgang. Große Namen und Newcomer im Rennen um den Goldenen Löwen – in der Regel mit Fortune.

Aber, klar, es gibt Filme, die spalten. Tom Ford, vor einigen Jahren hier mit seinem Debüt „A Single Man“ zu Recht gefeiert, hat mit seinem zweiten Film, „Nocturnal Animals“, die Kritikergemeinde heftig gespalten. Mehr Buh-Rufe hat bisher kein zweiter Film dieses noch jungen Festivaljahrgangs erhalten. Erzählt wird die Geschichte einer immens wohlhabenden Galeriebetreiberin (Amy Adams). Sie ist beruflich erfolgreich, privat mit ihrem zweiten Mann, der eine feste Freundin hat, unglücklich. Sinnsuche ist angesagt. Die wird forciert, als sie von ihrem Ex (Jake Gyllenhaal) ein ihr gewidmetes Buch zugeschickt bekommt. In dem Roman erzählt er eine äußerst brutale Geschichte um ein Ehepaar samt halbwüchsiger Tochter, deren Idylle durch brutale Verbrecher in eine Hölle verwandelt wird. – Viele brutale Sequenzen und ein zweifelhaftes Plädoyer für Selbstjustiz machen den schauspielerisch und gestalterisch makellosen Film zum Ekel-Ereignis. Offenbar will Ford, der Ästhet, beweisen, dass er auch schockieren kann. Überflüssig.

Amy Adams zeigt ihre schauspielerische Klasse im überraschenden Wettbewerbsbeitrag „Arrival“, einem Science-Fiction-Thriller von Regisseur Denis Villeneuve, sehr viel nachhaltiger. Sie verkörpert eine Linguistin, die Kontakt zu auf der Erde gelandeten Aliens herstellen soll. Das ist kein Utopical klassischer Action-Art. Philosophisch geht’s zu.

Villeneuve lässt sich Zeit beim Erzählen, lotet Ängste, Hoffnungen, Zweifel, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, wenn Wesen unterschiedlichster Herkunft (Kulturen) aufeinanderstoßen, gründlich aus, ohne dass es akademisch wird. Spannung mit Anspruch und überraschenden Wendungen. Sehr raffiniert: Der Umgang mit verschiedenen Zeitebenen. Ein klug vertracktes Vexierspiel, das die Fragilität des menschlichen Seins ungemein spannend widerspiegelt.

Vergleichsweise klein daneben: „Der blinde Christ“ des chilenischen Regisseurs Chistopher Murray. In oft dokumentarisch anmutenden Bildern erzählt er von einem jungen Mann, der sich für einen Heilsbringer hält, und der an sich selbst scheitert. Anregend daran ist die Auseinandersetzung, inwieweit ein fester Glaube helfen kann, die Unwirsch des eigenen Daseins zu ertragen. Der Film eifert nicht, bleibt immer ganz ruhig im Erzählfluss, wie dramatisch die Handlung auch wird. Dabei wird ein starkes Plädoyer für die Kraft des Volksglaubens fern von institutionalisierten Kirchen-Dogmen gehalten.

D a s Ereignis: „Frantz“ von François Ozon, ein französisch-deutsche Ko-Produktion mit der wunderbaren Paula Beer („Poll“, „4 Könige“) in der Hauptrolle. Sie spielt eine junge Frau, Anna, in Quedlinburg, deren Verlobter im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Eines Tages taucht ein Franzose auf, Adrien, offenbar ein Freund aus Frantz’ Pariser Studienzeiten vor dem Krieg. Zwischen den Beiden entwickelt sich eine starke Bindung. Liebe?

Bald wird klar: Es sind Lügen, die alle Beteiligten, wie die jungen Leute und auch Frantz’ trauernde Eltern, miteinander verbinden. Bals steht die Frage im Raum, ob Lügen nicht manchmal heilsamer sind als die Wahrheit.

Man darf Ozons Film sicher auch als Kommentar auf gegenwärtige Probleme deuten. Doch vor allem zieht einen der Konflikt der jungen Frau in den Bann: Sie kann den geliebten Franzt nicht vergessen, sie kann nicht vergeben, doch sie will Mensch sein und bleiben. Das ist spannend, aufregend, emotional überaus stark. Paula Beer empfiehlt sich für eine Auszeichnung als beste Schauspielerin des Festivals. Eine große internationale Karriere sollte ihr, wählt sie ihre Rollen weiterhin so klug aus, sicher sein.

Tag 2 (01-09-16)

Wim Wenders fliegen die Herzen zu. Der Grund: In einer Zeit, da es in Deutschland weithin als anstößig gilt, sich intellektuell zu geben, tut er genau das. Bravo! Mit seiner Adaption von Peter Handkes Theatertext „Die schönen Tage von Aranjuez“ bietet er schönste geistige Nahrung. Im Wettbewerb des 73. Internationalen Filmfestivals Venedig steht er damit in den ersten zwei Tagen recht einsam da. Ein Fels in der Brandung, ein Kämpfer wider die allüberall um sich greifende Verdummung und Verflachung. Und das mit einem sehr, sehr persönlichen Film.

Wer das Stück kennt, hat sicher sofort Zugang zu dem Film, andere werden wohl einiges an Anlauf brauchen. Wiewohl: die visuelle Gestaltung ist von bezwingender Schönheit. Filmfans, und also Liebhabern toller Bilder, geht sofort das Herz auf. Doch der Reihe nach: Wim Wenders hat das französische Original der Vorlage, nicht die deutsche Übersetzung, als Grundlage seines Films genommen. Verständlich: im Französischen ist die Sprache leichter, flirrender, weniger derb. Das im Zentrum stehende Gespräche einer namenlosen Frau (Sophie Semin, Handkes Gattin, für die der ursprüngliche Text geschrieben worden ist) und eines namenlosen Mannes (Reda Kateb) im Garten einer kleinen Villa auf dem Lande vor Paris wirkt dadurch hinreißend anmutig, wie schwer die Dialoge und Monologe auch um Fragen der Identität, der Sexualität, des Weltverständnisses kreisen. Dazu hat Wim Wenders eine entscheidende Veränderung vorgenommen: Er hat die Figur des Schriftstellers (Jens Harzer) eingefügt, der das Gespräch des Duos imaginiert und niederschreibt. Immer wieder geht die Kamera, die meist sehr langsam und in freundlicher Distanz um das Paar auf der Terrasse kreist, zu dem Mann an der Schreibmaschine ins Haus. Ganz klar: Wir sehen sozusagen Wim Wenders selbst bei der Arbeit zu, erleben, wie er, der Autor, Figuren erschafft, Ideen verwirft, Details verändert, den Protagonisten Worte schenkt, die sein Innerstes nach außen kehren. Sein wichtigstes Instrument neben der alten Reiseschreibmaschine: eine Jukebox der Marke Wurlitzer. Immer wieder wählt er seelenvolle Songs zur Inspiration. Da versinkt er denn auch mal in seinen Träumen und hat plötzlich Nick Cave, singend, am Flügel, in seinem Domizil. In Momenten wie diesen wird die Kraft des Träumens, wie sie nur das Kino kennt, aufs Beste beschworen. Man darf schwelgen. Aber: Das geht nicht soweit, dass man die Diskurse der Diskutanten vergisst. Der Kopf darf ständig arbeiten. Gut so!

Wim Wenders ist bekanntlich auch Fotograf und Maler. Das ist zu sehen. Der üppige Garten mit seinen Wiesen, Blumen und Bäumen, wo übrigens Peter Handke kurz als Gast im kleinen Part eines Gärtners auftaucht, wird zur idealen Bühne für den reichen Gedankenaustausch über den Sinn des Menschseins. Ganz klar: Das ist kein Film für ein Millionenpublikum. Wenders’ fordert Aufmerksamkeit. Im Gegenzug offeriert er eine satte Lust am Entdecken des Großen im Kleinen. Als Zuschauer bekommt man eine besondere Erfahrung geschenkt: Man wird Teil des Films, fühlt sich mitten unter den Protagonisten, redet und streitet mit ihnen, tritt im Geiste in den Austausch der Argumente ein, versucht, die Charaktere genauestens zu erkunden, um sich selbst zu entdecken. Da spielt denn die Optik eine besondere Rolle. Tatsächlich zahlt sich der Einsatz von 3D aus. Denn die Bilder lassen eine fürs Kino ungewöhnliche Nähe entstehen, man meint oft, im wahrsten Sinne des Wortes, eingreifen zu können.

Wim Wenders’ Adaption des Stücks von Peter Handke ist ein Autorenfilm im besten Sinne. Beifall ist gewiss, ob’s in Venedig eine Auszeichnung gibt ist abzuwarten. Bedenklich war allerdings die Pressekonferenz für Journalisten aus aller Welt. Brav haben sie gefragt, freundlich Komplimente gemacht. Wirklich gepowert haben sie nicht, wie sie das hier sowieso so gut wie nie tun. Man wunderte sich ob der nicht zu spürenden Emphase. Dann aber war die Pressekonferenz zu ende – und da stürmten plötzlich, wie von Taranteln gestochen, -x gestandene Medienfrauen und -männer auf Wenders und sein Team los, um Selbstbildnisse mit ihren Mobilgeräten zu schießen. Emphase pur. Völlig unpassend. Bleibt zu hoffen, dass sie nicht nur die Bildchen mit nachhause nehmen, sondern doch bitte wenigstens ein Bisschen von dem, was Wenders anbietet: geistige Nahrung zum besseren Weltverständnis.

Tag 1 (31-08-16)

Venedig setzt auf Glamour. Als Wirtschaftsfaktor spielt die Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica bekanntlich kaum eine Rolle. Anders als die anderen wichtigen europäischen Filmfestivals – Berlin, Cannes und Locarno – gibt es hier keinen nennenswerten Filmmarkt. Freilich: die Lagunenstadt spielt durchaus eine Rolle für den Verkauf von Filmen, ist das Festival doch auch eine gigantische Werbetribüne. Kein Wunder, dass hier auch in diesem Jahr einige Filme laufen, die im „Oscar“-Rennen mithalten möchten. Venedig-Gewinner der letzten Jahre haben schließlich oft beim Academy Award in Los Angeles abgeräumt.

Für Werbung sorgen Promis am roten Teppich Nina Hoss, Chiara Mastroianni, Gemma Arterton, Cate Blanchett, Natalie Portman, Emma Stone, Alicia Vikander, Michael Fassbender, Mel Gibson, Ryan Gosling, Brad Pitt und andere kassenträchtige Schauspielstars heizen die Blitzlichtgewitter an, bekannte Regisseure wie etwa Ana Lily Amirpour, Derek Cianfrance, Lav Diaz, Kim Ki-duk, Terrence Malick, François Ozon und Wim Wenders die Selbstvermarktung.

International noch nicht so bekannt, aber in Deutschland durch Filme wie „Poll“ und „4 Könige“ als herausragende Charakterinterpretin etabliert: Paula Beer. Sie ist die Hauptdarstellerin in François Ozons deutsch-französischer Ko-Produktion „Frantz“. Ihr dürfte der Venedig-Auftritt einen gehörigen Karriereschub garantieren. Wim Wenders hat den nicht mehr nötig. Aber ein Goldener Löwe wär’ schon fein. Es wäre sein zweiter nach „Der Stand der Dinge“ 1982 und seitdem erstmals überhaupt wieder einer für Deutschland. Wenders zeigt in diesem Jahr „Die schönen Tage von Aranjuez“, eine in 3D gedrehte Adaption des gleichnamigen Theaterstücks seines Freundes Peter Handke. Darin unterhalten sich ein Mann und eine Frau vor allem über das Verhältnis der Geschlechter. Man ist gesapnnt, wie Wenders das dialogintensive Stück umgesetzt hat.

20 Beiträge aus aller Welt sind im Hauptwettbewerb. In diesem Jahr dominieren Literaturverfilmungen, Adaptionen von Romanen und Theaterstücken. „Philosophische Grundfragen“, so das Festival, stehen im Mittelpunkt. Dabei sind neue Arbeiten von Regisseuren, die feste Größen in den traditionellen Produktionsstrukturen sind, wie Ozon und Wenders, und von solchen, die unabhängig der Industrie arbeiten, im so genannten Independent-Bereich. Der berühmteste unter ihnen ist sicherlich der US-Amerikaner Terrence Malick. Er stellt mit „Voyage of Time: Life’s Journey“, realisiert mit Produzenten aus den USA und Deutschland, eine Dokumentation mit Cate Blanchett als Erzählerin. Einige Filme werden mit besonderer Spannung erwartet: So der von der in den USA arbeitenden gebürtigen Iranerin Ana Lily Amirpour („A Girl Walks Home At Night“). Sie zeigt „Bad Batch“. Keanu Reeves und Jim Carrey führen das Schauspielensemble des Films an. Erzählt wird eine Lovestory unter Kannibalen. Der Serbe Emir Kusturica präsentiert neun Jahre nach seinem letzten Film „On the Milky Road“ mit der Italienerin Monica Bellucci und sich selbst. Angekündigt wird der Film als Drama um einen Mann in gesellschaftlichen Krisenzeiten. Eine Frau in Dauerkrise steht im Mittelpunkt von „Jackie“, inszeniert vom Chilenen Pablo Larrain: Jacqueline Kennedy, verkörpert von Natalie Portman. Erzählt wird aus Sicht der einstigen First Lady Washingtons vom Attentat 1963 auf ihren Mann, den damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy.

Zur Eröffnung gab’s Knallbuntes: Damien Chazelles („Whiplash“) Musical „La La Land“ mit Emma Stone und Ryan Gosling. Das Echo der Filmkritik war gespalten: Kitsch, Second-Hand-Ware, hölzern, befanden die einen. Die anderen ließen sich zu Tränen rühren. Tatsächlich erfüllt die Romanze um einen Musiker und eine Schauspielerin in Los Angeles nicht die Erwartungen, die Fans klassischer Musicals oder überdrehter neuerer Musikfilme wie etwa „Moulin Rouge“ haben. Es fehlt an Klasse und an Leichtigkeit. Das will der Regisseur mit Ironie wettmachen. Die sieht, wer sie sehen möchte. Der Rest schüttelt gelangweilt den Kopf.

Auch die Romanadaption „The Light between Oceans“ mit Alicia Vikander und Michael Fassbender in den Hauptrollen wurde kontrovers aufgenommen. Die überwiegend in den 1920-er Jahren spielende Geschichte um ein Ehepaar in vielen Krisen auf einer Leuchtturmwärter-Insel vor Australien versinkt tatsächlich in zu viel Seichtheit. Dröhnende Musik soll wirken, wo die behaupteten Emotionen nicht zünden. Es wird viel geweint auf der Leinwand. Im Zuschauersaal blieb es eher kühl. Manche Zuschauerin und mancher Zuschauer der ersten Pressevorführung am Mittwochabend ging gar vorzeitig aus dem Kino.

Der bisher anregendste Spielfilm dieses Festivaljahrgangs kommt vom Koreaner Kim Ki-duk. In „Das Netz“ spiegelt er die geistige Schieflage im geteilten Korea: Ein naiver Fischer wird durch einen Unfall auf See von Nord- nach Südkorea getrieben. Dort hält man ihn für einen Spion, unterzieht ihn unmenschlichen Verhören. Als er wieder zurück daheim ist, passiert ihm das Gleiche noch einmal. Aufregend ist die zentrale Frage des Films: Woher nehmen Menschen einer Sozialisation (in diesem Fall Südkorea) das Recht, Menschen einer anderen Sozialisation (Nordkorea) das Recht auf Glückssuche im Leben in ihrer Heimat abzusprechen? Eine Frage, die weit über den Konflikt zwischen Nord- und Südkorea hinausweist. Formal bedient der Film traditionelle Sehgewohnheiten. Kim Ki-duk, sonst gern mal drastisch in der Darstellung von Gewalt und auch Sexualität, erzählt unerwartet zurückhaltend – und damit sehr wirkunsgvoll.

Peter Claus