Das Publikum ist der Gewinner

 

Locarno – zum Zehnten

Staune, staune: eine Festival-Jury, die weitestgehend den Erwartungen von Publikum und Kritik entspricht.

Da ist erst einmal dem Festival selbst für die Auswahl der Juroren zu gratulieren. Denn endlich gab’s mal Preisentscheide in Locarno, die der wesentlichen Intention des Festivals dienen: dem Miteinander von Tradition und Moderne, konventionellem Erzählen und Aufbruch nach neuen stilistischen Ufern. Bravo!

Interessanterweise ist „Mister Universo“ von Tizza Covi und Rainer Frömmle der große Abräumer. Ihr impressionistischer österreichisch-italienischer Filmessay bekam keinen der großen Preise – dafür aber die meisten. Von der Jury unter Arturo Ripstein gab’s eine besondere Erwähnung. Dazu erhielt der zwischen Dokumentation und Fiktion changierende Spielfilm aus dem Zirkus- und Artistenmilieu auch Ehrungen der Ökumenischen Jury, des internationalen Kritikerverbandes, des Verbandes europäischer Filmtheater und der Jugendjury. Kein Wunder: „Mister Universo“ entspricht mit seiner stilistischen Balance der Ausrichtung des Festivals geradezu perfekt. Gestern und heute kommen hier formal und gedanklich aufs Schönste zusammen.

Unterm Jubel des Publikums ging, wie erwartet, der Goldene Leopard am Samstagabend an den sozialkritischen Krimi „Gottlos“, eine bulgarisch-dänisch-französische Produktion der Regisseurin Ralitza Petrova (Bulgarien). Auch hier: Zusammenklang von alt und jung, eine traditionell erzählte Story gepaart mit dem Aufbruch zu neuen ästhetischen Ufern. Was heißt: die als Regisseurin eines Spielfilms debütierende Ralitza Petrova vertraut Anmutungen, Atmosphärischem, Andeutungen. Und sie nutzt die Filmerzählung um hart und kompromisslos eine Gesellschaft anzuklagen, in der Korruption und Machtgier alle Menschlichkeit schlachten.

Auch die Auszeichnung der rumänisch-deutschen Koproduktion „Vernarbte Herzen“ des Regisseurs Radu Jude (Rumänien) über das Leben des Dichters Max Blecher (1909-1938) im Faschismus der 1930er Jahre – mit der  wichtigsten Ehrung, dem Spezialpreis der Jury – geht nicht nur in Ordnung, sondern muss beklatscht werden. Radu Jude gelingt Ähnliches wie seiner bulgarischen Kollegin. Dazu setzt er in hohem Maße auf die Kraft von Lyrik, auf surreale Momentaufnahmen, um übers Gestern das Heute zu spiegeln.

Der Portugiese João Pedro Rodrigues darf sich – für „Der Ornithologe“, eine poetische und manchmal sogar wilde, sehr phantasievolle Ballade um Fragen des Glaubens und der sexuellen Identität – über die Auszeichnung als bester Regisseur freuen. Manche und mancher Festivalbesucher mag ob dieser Entscheidung erst einmal staunen. Doch wirklich: sie ist verdient. Denn die Inszenierung ist schon sehr Bemerkenswert, das Hin-und-Her-Eilen zwischen Wahn und Wirklichkeit, Realität und Alptraum von großem Reiz.

Traurig: Margarita Breitkreiz, bekannt von der Volksbühne Berlin, Hauptdarstellerin in der deutsch-schweizer Ko-Produktion, wurde im Rennen um die Auszeichnung als beste Schauspielerin von ihrer schärfsten (und auch einzigen) Konkurrentin geschlagen: Die Bulgarin Irena Ivanova wurde für ihre nuancierte und sensible Darstellung einer Altenpflegerin in „Gottlos“ prämiert. Zu Recht wohlgemerkt. Auch sie hatte den Preis verdient. Und den kann nur eine gewinnen. Der Pole Andrzej Seweryn bekam wurde bester Schauspieler für sein Spiel im polnischen Drama „Die letzte Familie“. Er verkörpert den Maler Zdzisław Beksiński (1929-2005). Dessen Leben und das der Seinen wird über etwa drei Jahrzehnte verfolgt. Im Zentrum steht vor allem die Zeit um den Fall des Eisernen Vorhangs. Der Film spielt fast nur in den Wohnräumen der Familie. Da waren die Akteure besonders gefördert. Und Andrzej Seweryn leistet tatsächlich Auszeichnungswertes in seiner kraftvollen, manchmal auch ironischen, immer zutiefst menschlichen Darstellung der Figur eines Mannes zwischen Kunst und Banalität, zerrieben von der Politik, verloren zwischen allen Anforderungen, die seine persönliche Umwelt an ihn stellt.

Und der Publikumspreis? Da hat die Wucht geballter Emotionen gesiegt. „Ich, Daniel Blake“ (Großbritannien/ Frankreich/ Belgien) des britischen Regie-Altmeisters Ken Loach erhielt die meisten Zuschauerstimmen. Man ahnte es schon, als der Film kurz vor Festivalende open air auf der Piazza Grande lief. Von den sicher 8000 Besuchern griffen nicht wenige zum Taschentuch. Beim diesjährigen Festival von Cannes im Mai hatte es dafür bereits die Goldene Palme gegeben. „Paula“ und „Vor der Morgenröte“, beide hoch in der Gunst der Festival-Gemeinde, hatten das Nachsehen. Schade. Dieses Jahr also kein Publikumspreis Richtung Deutschland. So ist das in Wettbewerben. Den guten Ruf, den das in Locarno quantitativ und qualitativ stark vertretene deutsche Kino bei der 69 Festivalausgabe errungen hat macht das nicht kleiner.

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I, Daniel Blake von Ken Loach (© Le Pacte)

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Die Preise

Concorso internazionale

Pardo d’oro: GODLESS von Ralitza Petrova, Bulgarien/Dänemark/Frankreich (Grosser Preis des Festivals, gestiftet von der Stadt Locarno für den besten Film. Die damit verbundenen 90.000 CHF gehen zu gleichen Teilen an Regie und Produktion)

Premio speciale della giuria (Spezialpreis der Jury): INIMI CICATRIZATE (Scarred Hearts) von Radu Jude, Rumänien/Deutschland

Pardo per la miglior regia (Beste Regie): JOÃO PEDRO RODRIGUES für O ORNITÓLOGO, Portugal/Frankreich/Brasilien

Pardo per la miglior interpretazione femminile (Beste Darstellerin): IRENA IVANOVA für GODLESS von Ralitza Petrova, Bulgarien/Dänemark/Frankreich

Pardo per la miglior interpretazione maschile (Bester Darsteller): ANDRZEJ SEWERYN für OSTATNIA RODZINA (The Last Family) von Jan P. Matuszyński, Polen

Besondere Erwähnung: MISTER UNIVERSO von Tizza Covi, Rainer Frimmel, Österreich/Italien

Concorso Cineasti del presente

Pardo d’oro Cineasti del presente – Premio Nescens: EL AUGE DEL HUMANO von Eduardo Williams, Argentinien/Brasilien/Portugal

Premio speciale della giuria Ciné+ Cineasti del presente (Spezialpreis der Jury Ciné+ Cineasti del presente): THE CHALLENGE von Yuri Ancarani, Italien/Frankreich/Schweiz

Premio per il miglior regista emergente (Preis für die beste Nachwuchsregie): MARIKO TETSUYA für DESTRUCTION BABIES, Japan

Besondere Erwähnung: VIEJO CALAVERA von Kiro Russo, Bolivien/Katar

First Feature

Swatch First Feature Award (Preis für den besten Debütfilm): EL FUTURO PERFECTO von Nele Wohlatz, Argentinien

Swatch Art Peace Hotel Award: MAUD ALPI für GORGE CŒUR VENTRE, Frankreich

Besondere Erwähnung: EL AUGE DEL HUMANO von Eduardo Williams, Argentinien/Brasilien/Portugal

Pardi di domani

Concorso internazionale (Internationaler Kurzfilm-Wettbewerb)

Pardino d’oro per il miglior cortometraggio internazionale – Premio SRG SSR: L’IMMENSE RETOUR (ROMANCE) von Manon Coubia, Belgien/Frankreich

Pardino d’argento SRG SSR per il Concorso internazionale: CILAOS von Camilo Restrepo, Frankreich

Nominierung von Locarno für die European Film Awards – Premio Pianifica : L’IMMENSE RETOUR (ROMANCE) von Manon Coubia, Belgien/Frankreich

Premio Film und Video Untertitelung: VALPARAISO von Carlo Sironi, Italien

Besondere Erwähnung: NON CASTUS von Andrea Castillo, Chile

Concorso nazionale (Schweizer Kurzfilm-Wettbewerb)

Pardino d’oro per il miglior cortometraggio svizzero – Premio Swiss Life: DIE BRÜCKE ÜBER DEN FLUSS von Jadwiga Kowalska, Schweiz

Pardino d’argento Swiss Life per il Concorso nazionale: GENESIS von Lucien Monot, Schweiz

Best Swiss Newcomer Award: LA SÈVE von Manon Goupil, Schweiz

Prix du Public UBS (Publikumspreis)

I, DANIEL BLAKE von Ken Loach, Grossbritannien/Frankreich/Belgien

Variety Piazza Grande Award

MOKA von Frédéric Mermoud, Frankreich/Schweiz

Concorso internazionale

Preis der Ökumenischen Jury

GODLESS von Ralitza Petrova, Bulgarien/Dänemark/Frankreich

Besondere Erwähnungen

MISTER UNIVERSO von Tizza Covi, Rainer Frimmel, Österreich/Italien

MARIJA von Michael Koch, Deutschland/Schweiz

Premio FIPRESCI (Preis der internationalen Filmkritiker)

MISTER UNIVERSO von Tizza Covi, Rainer Frimmel, Österreich/Italien

Europa Cinemas Label (Die Auszeichnung von Europa Cinemas Label, welche die Programmierung eines Films aus der Auswahl des Concorso Internazionale und des Concorso Cineasti del Presente in den Kinos des Europa-Cinemas-Verbands fördert)

MISTER UNIVERSO von Tizza Covi, Rainer Frimmel, Österreich/Italien

Premio Giuria dei giovani

Erster Preis (6.000 CHF): BANGKOK NITES von Katsuya TOMITA, Japan/Frankreich/Thailand/Laos

Zweiter Preis (4.000 CHF): MISTER UNIVERSO von Tizza Covi, Rainer Frimmel, Österreich/Italien

Dritter Preis (2.000 CHF): KAZE NI NURETA ONNA (Wet Woman in the Wind) von SHIOTA Akihiko, Japan

Preis für Umwelt und Lebensqualität (3.000 CHF): MARIJA von Michael Koch, Deutschland/Schweiz

Die Jury Cinema & Gioventù für die Sektion Concorso Cineasti

AFTERLOV von Stergios Paschos, Griechenland

Besondere Erwähnung: EL FUTURO PERFECTO von Nele Wohlatz, Argentinien

Die Jury Cinema & Gioventù für die Sektion Pardi di domani

Bester Kurzfilm im internationalen Wettbewerb: ALEPOU (Fox) von Jacqueline Lentzou, Griechenland

Bester Kurzfilm im nationalen Wettbewerb: LOST EXILE von Fisnik Maxhuni, Schweiz

Besondere Erwähnung: GENESIS von Lucien Monot, Schweiz

FICC/IFFS Preis (International Federation of Film Societies)/ Don Quijote Preis

INIMI CICATRIZATE (Scarred Hearts) von Radu Jude, Rumänien/Deutschland

Besondere Erwähnung: SLAVA (Glory) von Kristina Grozeva, Petar Valchanov, Bulgarien/Griechenland

Semaine de la critique (SRG SSR Preis/Semaine de la critique im Wert von 8.000 CHF)

KOMUNIA (Communion) von Anna Zamecka, Polen

Der Premio Zonta Club Locarno im Wert von 2.000 CHF geht an einen Film, der die soziale Gleichheit und die Gerechtigkeit fördert: CAHIER AFRICAIN von Heidi Specogna, Schweiz/ Deutschland

 

Peter Claus

12-08-16

 

Locarno – zum Neunten

Oft in Locarno erlebt: der letzte im Wettbewerb gezeigte Film ist d e r herausragende Beitrag und räumt am Ende ab. Kein Wunder, dass die Vorführung von „Bangkok Nites“, eine Produktion mehrerer Staaten unter Führung Japans, besonders stark besucht war. Doch, die Blütenträume reiften nicht wirklich. Erzählt wird von einer Prostituierten, die in Bangkok arbeitet und mit dem verdienten Geld ihre Familie unterstützt. Einer ihrer Stammkunden scheint sich wirklich in sie zu verlieben. Sie reist mit ihm in die Provinz zu ihrer Familie und Freunden. Doch es ist fraglich, ob die Beiden wirklich glücklich miteinander werden können.

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Bangkog Nites von Katsuya Tomita (© KUZOKU)

Wie so viele Filme hier im Wettbewerb, will auch dieser Persönliches und Gesellschaftliches miteinander verweben, über die Schilderung individueller Schicksale soziale und historische Probleme spiegeln. Doch dies geschieht überwiegen zu sehr mit den Mitteln der Schwarz-Weiß-Malerei. Zudem mangelt es weitgehend an schauspielerischer Kraft. Es wäre schon sehr überraschend, wenn dieser Film morgen Abend, am Samstag, bei der Preisverleihung, ganz oben auf dem Siegertreppchen landet.

Insgesamt: Ein starker Wettbewerb dieses Jahr. Es gibt einige Leoparden-Kandidaten. Auffallend: Traditionelle Erzählmuster und Experimentelles halten sich die Wage. Europa mag’s offenbar eher traditionell, die Asiaten und die Lateinamerikaner sind experimentierfreudiger. Nahezu alle eint allerdings der Fokus auf ein Thema: die Auseinandersetzung mit Partnerschaften, sei es in der Familie, im Freundeskreis, im Arbeitsumfeld, als Spiegel gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Dem Ruf des Festivals entsprechend, hat in Locarno das hellwache, politisch aufmerksame Kino dominiert. Ein Hochgenuss im Vergleich zu dem, was ansonsten unseren Kinoalltag bestimmt.

Peter Claus

11-08-16

 

Locarno – zum Achten

Bulgarien punktet in Locarno. Zum Festivalauftakt hinterließ „Slava“ („Glory“), eine bulgarisch-griechische Ko-Produktion, die nach wie vor zu den Favoriten vieler Festivalbesucher zählt, wenn um den möglichen Goldenen Leoparden spekuliert wird. Nun kam „Godless“ („Gottlos“) hinzu, eine bulgarisch-dänisch-französische Gemeinschaftsproduktion, inszeniert von Ralitza Petrova.

Die Regisseurin, auch Autorin des Drehbuchs, zeichnet ein düsteres Bild ihrer Heimat. Korruption und Unmoral sind an der Macht. Die namenlose kleine Stadt, in der das Geschehen spielt, ist sicherlich als Synonym für das Land an sich zu sehen. Hauptfigur ist Gana (Irena Ivanova), eine Krankenschwester, Mitarbeiterin eines mobilen Teams für die Altenpflege. Sie bessert ihr kleines Salär auf, indem sie ihre Schützlinge bestiehlt – sie klaut ihnen die Ausweise. Diese werden von Gangstern dazu genutzt, Scheinfirmen zu gründen, mit denen sie auf verbrecherische Weise Unsummen an Geld scheffeln.

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Godless (© Aporia Filmworks)

Die Erzählweise ist bestechend klar. Lediglich zum Auftakt gibt es, wie in Krimis oft üblich, einen Moment, der dem Zuschauer ein Rätsel aufgibt. Das wird am Ende aufgelöst – wenn Gana endgültig ins Aus abgedriftet ist. Hoffnung gibt es nirgendwo. Die Menschlichkeit kann zwar ihr Haupt erheben, doch der Sumpf ist viel zu groß, als dass es noch eine Chance gäbe, ihn trocken zu legen …

Hauptdarstellerin Irena Ivanova gestaltet das Porträt einer Frau, die seit ihrer Kindheit keine Chance auf Würde hatte, intensiv. Dabei rutscht sie nie in Klischees ab. Selbst die Morphiumsucht Ganas wird nicht für spektakuläre Momente gebraucht. Gut so. Denn dadurch wird das ganz Durchschnittliche der Lebenssituation deutlich, wird klar, in welcher Gefahr sich die Demokratie befindet, wenn allein die Sucht nach Mammon das Leben bestimmt.

„Dao Khanong“ („Mit der Zeit wird es dunkler“), eine Gemeinschaftsproduktion Thailand, Niederlande, Frankreich und Quatar, macht es dem Betrachter wesentlich schwerer, Zugang zu finden. Die Erzählung von Autorin und Regisseurin Anocha Suwichakornpong beginnt spannend: junge Filmemacherin trifft sich mit einer älteren Dame, in Thailand berühmt als eine der Aktivistinnen der Studentenrevolten in den 1970er Jahren. Die Zwei führen ein Gespräch für einen möglichen Film. Doch, schade: daraus erwächst nichts. Episoden um andere Personen kommen hinzu, etwa eine Kellnerin, ein Schauspieler. Am Ende gar versandet alles in eitler Selbstbespiegelung. Viele haben das Kino ratlos verlassen.

Die Stimmung trübt das nicht. Und auch nicht den Gesamteindruck vom 69. Festivaljahrgang. Ein Wettbewerbsbeitrag steht noch aus. Dann tagt die Jury. Man ist gespannt auf ihre Entscheidungen.

Peter Claus

10-08-16

 

Locarno – zum Siebten

Seit Jahrzehnten über die Maßen beliebt sind  bei den zahlenden Zuschauern und beim Fachpublikum: Locarnos Retrospektiven. Die diesjährigen, „Geliebt und verdrängt – Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963“ – ist ebenfalls ein Magnet.

Die Organisatoren wollen weg von Heimatkitsch, Militärklamotten, Liebesschnulzen als einzigen Signets des westdeutschen Films jener Epoche. Kurator Olaf Möller meint, dass es höchste Zeit sei, die damit verbundenen Klischees abzuservieren. Wobei diese Klischees auch bedient werden, etwa mit „Das Spukschloss im Spessart“. Doch sieht man diesen Film jetzt, wird nicht nur deutlich, wie subversiv die Komödie den westdeutschen Spießer-Mief jener Jahre anprangert, im Zusammenhang wird auch klar, wie klug Regisseur Kurt Hoffman, wenn auch vorsichtig, einen Aufbruch zu neuen ästhetischen Dimensionen gesucht hat, keine kitschdurchtränkten Star-Postkarten zeigte, sondern eine Bildästhetik angestrebt hat, die der Erzählung dient, sie vorantreibt.

Klügster Einfall der Retro: es wird ein Blick von außen ermöglicht – mit Filmen der ostdeutschen DEFA. Olaf Möller: „In den Filmen der DDR jener Zeit wird vielfach über Dinge gesprochen, über die im BRD-Kino bestenfalls getuschelt werden konnte.“ Die Schlagworte dazu: Wiederaufrüstung, reaktionäre geistige Entwicklungen, übersteigertes Profitstreben.

Besonders spannend: Die zahlreiche Kurzfilme, überwiegend von Regisseuren, deren Namen heute selbst Fachleute kaum mehr kennen, wie etwa Franz Schömbs. Er beispielsweise hat schon damals gemacht, was heute noch oder wieder en vogue ist: Elemente der bildenden Kunst, Musik, Theater, Film miteinander verwoben. Klarheit der Bilder, Bewusstsein für genaue Spiegelung der Realität, jedes Vermeiden von Traumfabrik-Verklärung – womit diese Filme das vorbereitet haben, was später, ab Mitte der 1960er Jahre, zum Markenzeichen des so genannten jungen deutschen Films wurde. Zu dessen Protagonisten gehört Edgar Reitz, 1962 Mitinitiator des Oberhausener Manifests, weltberühmt geworden als Regisseur des 30-teiligen Spielfilm-Zyklus’ „Heimat“, in Locarno Präsident der Jury für den Kurzfilmwettbewerb. Er staunte erst einmal, als er hörte, dass „das, was wir ‚Papas Kino’ genannt haben, jetzt aus der Mottenkiste herausgeholt wird.“ Wobei er entdecken musste, „überhaupt keinen von diesen Filmen zu kennen“. Reitz: „Die Vätergeneration, die hier in der Retro gezeigt wird, haben wir in meiner Generation ausgeblendet. Und da sag’ ich mir: ‚So ist das halt bei den Generationen, man ist auch ungerecht.’“ Mario Adorf fühlt sich pudelwohl damit, dass das Kino seiner frühen großen Zeit endlich eine Neubewertung erfährt: „In dieser Zeit sind doch immerhin ganz große Filme entstanden, die von Staudte, von Pabst, von von Baky. Dass die hier aus dem Vergessen genommen werden, finde ich ganz toll. Clou der Retro: Sie bleibt nicht auf Locarno beschränkt. Nach dem Festival geht sie auf Tournee durch die Schweiz, Italien, die USA und Portugal, auch durch Deutschland, ins Deutsche Filmmuseum in Frankfurt / Main, ins Zeughauskino Berlin, ins Filmmuseum Düsseldorf, ins Metropolit Hamburg und ins Caligari in Wiesbaden.

Und sonst? Auf der Piazza Grande konnte – trotz Regenschauern – Maria Schraders „Vor der Morgenröte“ einen satten Erfolg verbuchen. Auch ein Kandidat für den Publikumspreis. Angela Schanelec bekam für „Der traumhafte Weg“ hingegen ein eher geteiltes Echo. In der Vorführung für die internationale Presse gab es sogar, was auf Festivals selten passiert, einige Buh-Rufe. Doch sie erhielt auch Beifall! Viele meinen, sie habe Außenseiterchancen auf eine Auszeichnung. 

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Der traumhafte Weg (© Filmgalerie 451)

Die Erzählung umspannt Jahrzehnte. Es geht um Menschen, die trotz Partnerschaften und Familienglück unsagbar einsam wirken. Der Stil: wortkarg, strenge Bilder sind das A und O. Man hat viel zu Rätseln als Zuschauer. Vielleicht gefällt ja gerade das der Jury.

Peter Claus

09-08-16

 

Locarno – zum Sechsten

Es ist wie eh und je: die Retrospektive gehört zu den großen Anziehungspunkten des Filmfestivals von Locarno, auch bei der 69. Ausgabe. Die Rückschau auf das Kino der Adenauer-Ära hat einen enormen Zuschauerzuspruch. Tatsächlich lohnt der Besuch. Die Fülle der Filme macht eindringlich klar, dass das westdeutsche Kino der Jahr 1949 bis 1963 mehr zu bieten hatte als Heimatkitsch und 08/15-Kommerz. Mario Adorfs Wunsch, von ihm geäußert, als er ehrenhalber mit einem Leoparden für seine Karriere („Pardo alla carriera“) ausgezeichnet wurde dürfte sich erfüllen: „Ich hoffe, dass von Locarno Impulse ausgehen, unsere Arbeit damals differenzierter zu betrachten als bisher.“

Im Wettbewerb um den Hauptpreis lief inzwischen „Marija“, die deutsch-schweizer Koproduktion von Regisseur Michael Koch. Der Film blickt auf den Alltag von Menschen aus verschiedenen Kulturen in Deutschland, konkret in Dortmund. Marija kommt aus der Ukraine. Ihr Traum: ein eigener Frisiersalon. Gefühle kann sie sich auf ihrem Weg dahin nicht leisten. Härte ist angesagt, auch Rücksichtslosigkeit. Sie muss einstecken und teilt aus. Lohnt das? – Diese Frage steht am Ende des Films. Der beeindruckt vor allem durch die Leistung von Hauptdarstellerin Margarita Breitkreiz, bisher bekannt durch ihre Arbeit an der Berliner Volksbühne. Sie zeigt die Kompromisslosigkeit der jungen Frau scharfkantig. Dabei macht sie ohne Fingerzeige klar, wie fragwürdig es ist, alle Menschlichkeit abzulegen, um selbst Erfolg zu haben, Freundschaften zu opfern, der Liebe abzuschwören. Gut möglich, dass sie den Preis als beste Schauspielerin gewinnt. Bei vielen Kritikern jedenfalls steht sie dazu seit Montag ganz oben auf der Liste.

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Margarita Breitkreiz in „Marija“ ( Bild: Pandora)

Hoch gehandelt schon vor der ersten Aufführung wurde der neue Film von Milagros Mumenthaler, „La idea de un lagro“. Die aus Argentinien stammende, überwiegend in der Schweiz lebende und arbeitende Regisseurin hat vor einigen Jahren mit ihrem Debütfilm „Offene Türen, offene Fenster“ den Goldenen Leoparden gewonnen. Ob sie den wieder bekommt? Möglich ist es, zwingend erscheint es nicht. Es geht um eine junge Frau, Inès, Fotografin, die an einem Projekt arbeitet. Dabei kommt sie gedanklich immer wieder zu dem einzigen Foto, das es von ihr und ihrem Vater gemeinsam gibt, bevor der 1977 von der Militärjunta verschleppt und ermordet worden ist. Das wiederum löst zahlreiche Assoziationen aus.

Kann sein, die Jury zeigt sich beeindruckt von der Form: ein Puzzle aus Erinnerungen, Assoziationen und Momenten der Gegenwart. Kann. Muss nicht. Die Aufnahme in Locarno war – jedenfalls bei der Schar der Kritiker aus aller Welt – sehr geteilt. Vielfach stieß der Film gerade wegen seiner Form, die von vielen als zu gewollt empfunden wird, auf Ablehnung. Aber es ist ja Standard: Jurys entscheiden oft völlig entgegen den Erwartungen.

Peter Claus

08-08-16

 

 

Locarno – zum Fünften

„Pardo alla carriera“, „Leopard für seine Karriere“, an Mario Adorf, Uraufführung von „Paula“ auf der Piazza Grande und der erste von deutschen Geldgebern mitproduzierte Film in Wettbewerb. Der Sonntag kam recht deutsch daher, auf gute Art.

In „Paula“ erzählt Regisseur Christian Schwochow („Novemberkind“) überaus einfühlsam vom Leben der Malerin Paula Modersohn-Becker (1876 bis 1907). Die Episoden verweben sich zu einem tiefgründigen Porträt der eigenwilligen Künstlerin, zeichnen genau die Atmosphäre der Handlungszeit wenige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach, und verweisen, angenehm dezent, durchaus allgemeingültig darauf, wie schwer es Individualisten gemacht wird, sich zu verwirklichen. Damit hat der elegische Film auch für Heute sein Gültigkeit.

 

Carla Juri („Feuchtgebiete“) brilliert in der Hauptrolle. Sie zeigt einen Charakter voller Starrsinn und Weichheit, Kreativität und Selbstsucht, geprägt von künstlerischen Ambitionen einerseits und Selbstzweifel andererseits. Man ist hingerissen. Zudem schenkt einem die visuelle Gestaltung ein großes ästhetisches Vergnügen. Das nicht, wie schon oft erlebt in anderen Filmen, durch übermäßigen Musikeinsatz gestört wird. Ein kluger Film, großes Kino. Die Aufnahme war gespalten. Manchem ist die Erzählweise zu getragen. Viele allerdings empfinden gerade das als Genuss. Man darf gespannt sein, ob der Film, der außerhalb des Wettbewerbs läuft, von den Zuschauern auf der Piazza Grande den Publikumspreis zugesprochen bekommt. Der wird per Stimmabgabe durch Karteneinwurf in Boxen ermittelt. Das Ergebnis wird, wie alle anderen Preise, erst am Samstagabend bekannt gegeben.

Einen starken Eindruck hat auf der rumänische Autor und Regisseur Radu Jude mit „Vernarbte Herzen“ hinterlassen. Dieser Film läuft im Wettbewerb, hat also Chancen auf den Goldenen Leoparden. Erzählt wird die Lebens- und damit Leidensgeschichte des rumänischen Dichters Max Blecher (1909 bis 1938). Blecher, der seine Werke stets nur mit „M. Blecher“ gezeichnet hat, litt an Knochentuberkulose, hat Jahre seines Lebens in Krankenhäusern und Heilstätten verbracht, oft ans Gipsbett gefesselt. Erst von den Nazis, dann von den Kommunisten abgelehnt, wurde sein Werk erst in den letzten Jahren wirklich bekannt.

Der Film, vorgeführt im klassischen 4 : 3 – Format, zeigt seine letzten Jahre. Kurze Zitate aus seinen Werken werden wie Kapitelüberschriften eingeblendet. Das ist streng. Und genau aus dieser Strenge erwächst die Kraft des Films. Dazu ist Lucian Teodor Rus in der Hauptrolle von äußerster Intensität und damit ein Anwärter auf die Auszeichnung als bester Schauspieler. Wesentlich: Die Spiegelung des Kampfes eines Menschen um seine Würde, egal unter welchen Umständen er leben muss. Das weist weit über die Geschichte Blechers hinaus. Es wird immer spannender, welche Entscheidungen die Jury wohl treffen wird.

Peter Claus

07-08-16

 

Locarno 2016 – zum Vierten

Nun sind die letzten Mauselöcher belegt, kein Platz mehr in der kleinsten Pension oder auf dem größten Zeltplatz in der Umgebung – Filmfans aus aller Welt haben Locarno regelrecht gestürmt. Und sie gehen nicht im See schwimmen, sie gehen ins Kino, stehen dafür nicht selten in brütender Hitze Schlange.

Neben den abendlichen Open-air-Vorführungen auf der Piazza Grande, wo am Freitagabend „Jason Bourne“ alias Matt Damon für Krach-Zisch-Bumm gesorgt und die Piazza an den Rand der Aufnahmefähigkeit gebracht hat, lockt, wie eh, insbesondere die Retro. Da staunt man als Deutscher, wie „Papas Kino“ lockt. Das deutsche Kino der Adenauer Ära wird ja vorgestellt. Kurator Olaf Möller hatte offenbar den richtigen Riecher, da er schon vor dem Festival meinte, „Es ist höchste Zeit das deutsche Kino jener Jahre neu zu bewerten.“ Da staunen auch Fachleute, wie Regisseur Edgar Reitz, den ich heute zum Gespräch traf: „Ich staune schon, dass man ‚Papas Kino’ aus der Mottenkiste holt.“ Für ihn waren in jungen Jahren Filme aus anderen Ländern prägend, vor allem aus Italien, Stichwort Neorealismus. Doch er räumt ein: „Es ist schon so, dass die junge Generation oft ungerecht ist, wenn es darum geht, die Arbeiten der Väter und Großväter zu bewerten. Da ist es richtig, mit so einer Retro mal genauer zu gucken.“ Er selbst, wiewohl in der Retro mit Kurzfilmen vertreten, bedauert es, keine Zeit für viele Besuche der Retro zu haben. Als Präsident der Kurzfilmjury fehlt ihm die Zeit dazu.

Der Hauptwettbewerb bleibt spannend. Tizza Covi und Rainer Frimmel, zuletzt sehr erfolgreich mit „Der Glanz des Tages“, haben „Mister Universo“ gezeigt. Da macht sich der junge Löwendompteur Tairo ist auf die Suche nach sich selbst. Anlass: er will den einstigen Mister Universum Arthur Robin aufspüren. Der hatte ihm einst einen Talisman geschenkt, den Tairo verloren hat. Die Reise führt quer durch Italien. – Covi und Frimmel changieren wieder raffiniert zwischen Realität und Fiktion. Vieles wirkt dokumentarisch, ist jedoch fein arrangiert und inszeniert. Wie immer bei ihnen leuchtet hinter den kleinen und großen Porträts der Protagonisten eine pointierte Sicht auf die Gesellschaft auf. Durchaus eines Leoparden würdig.

Peter Claus

06-08-16

 

Locarno 2016 – zum Dritten

Nachdem der Wettbewerb der letztjährigen Ausgabe des Filmfestivals doch recht kopflastig ausgefallen war, hatte Carlo Chatrian für dieses Jahr auch Komisches versprochen. Und siehe da: das Versprechen wird eingelöst.

Japan brachte die Festivalgemeinde mit „Kaze ni nureta onna“ (internationaler Verleihtitel: „Wet Woman in the Wind“) nicht gleich außer Rand und Band, aber doch zu viel Schmunzeln und sogar auch gelegentlich lautem Lachen. Geboten wird eine Parodie auf eine in Japan gängige Softporno-Serie, vergleichbar mit dem, was in West-Deutschland vor Jahren als „Schulmädchen-Report“ die Kassen klingeln ließ. Die krude Geschichte, in der sexbesessene Frauen die Männer domestizieren, erzählt Regisseur Shiota Akihiko überaus rasant. Das Entscheidende: hinter allem Witz blitzt immer wieder eine gedankenscharfe Auseinandersetzung mit traditionellen Rollenmustern auf. Die werden dann einfallsreich vom Kopf auf die Füße gestellt. Schade nur, dass die Sexszenen durchweg überzogen anmuten und nicht einmal auch nur ansatzweise so etwas wie Erotik aufblitzen darf, von feinen Gefühlen ganz zu schweigen. Für junge Liebesleute ist der Film drum keine Empfehlung. Denn hier werden einem wirklich alle Illusionen geraubt. Komisch ist das aber allemal, und, weil intelligent, mit Nachhall.

Rosarote Emotionen dürfen im französischen Wettbewerbsfilm „La Prunelle de mes yeux“ (übersetzt: „Mein Augapfel“) heftig wabern. Regisseurin Axelle Ropert erzählt die Lovestory einer blinden Instrumentenstimmerin und eines nicht-blinden Musikers. Es geht ganz klassisch zu: erst ist da ein Missverständnis, dann Wut aufeinander, schließlich keimt Liebe. Problem: Er belügt sie und behauptet, selbst blind zu sein. Der Schwindel fliegt natürlich auf – und die Spannung resultiert dann aus der Frage, ob sie ihm verzeihen kann oder nicht …

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La Prunelle de mes yeux (Foto Verleih)

Das ist so konventionell, wie es sich liest. Man wundert sich im ersten Moment, dass ein Festival, auf dem der junge Film gefeiert und gefördert werden soll, derartiges zeigt. Doch das ist gut so. Denn der Film steht für die in Westeuropa weithin zu beobachtende Rückkehr vieler heute junger Menschen zu Werten und Verhaltensmustern, die in den 1960er, 70er und 80er Jahren von den damals Jungen heftig bekämpft worden sind. Friede, Freude, Eierkuchen: das Rezept hat, ob’s uns gefällt oder nicht, Konjunktur. Und der Film spiegelt damit bei allem Märchenhaften der Story doch auch Realität. Der man am besten mit einem gelassenem Lächeln begegnet.

„Hermia & Helena“, eine Koproduktion USA / Argentinien vom argentinischen Regisseur Matias Piñeiro, bemüht ein wenig Shakespeare und sehr viel schickes Understatement im Entwerfen von Lifestyle-Mustern. Im Zentrum steht dabei eine junge Frau aus Buenos Aires, die wegen ihrer Arbeit, eine neue Übersetzung von Shakespeares „Mitsommernachtstraum“ ins Spanische, in New York ist. Amouren und andere Abenteuer werfen sie ein wenig aus der Bahn. Aber nur ein wenig. Und das lässt den Film letztlich in oberflächlichen Betrachtungen verharren, eitlen Selbstreflexionen von Leuten, die offenbar keine wirklich existentiellen Probleme kennen oder diese, wenn sie drohen, rasch beiseite schieben. Zudem wird nicht stringend erzählt, sondern mit vielen völlig überflüssigen Zeitsprüngen. Da vergeht einem als Filmfreund dann das Lachen. Immerhin: die Akteure sorgen dafür, dass die Charakterskizzen Format haben. Man sieht Menschen, die man zu kennen meint. Man wünscht sich nur, dass sie mehr erleben dürften, Tieferes, als ihnen hier zugestanden wird.

Peter Claus

05-08-16

 

Locarno 2016 – zum Zweiten

Nach dem gelungenen Wettbewerbsauftakt mit „Slava“, „Glory“, ging es auch am zweiten Tag mit guter Qualität weiter.

Portugal hat „Correspondências“ („Korrespondenzen“/ „Briefe“) ins Rennen um den Goldenen Leoparden geschickt. Der Film versucht, Spuren des Lebens von Jorge de Sena zu verfolgen. Jorge de Sena (1919 – 1978) war Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Übersetzer. Nach seiner Teilnahme an einem gescheiterten Putschversuch gegen das Salazar-Regime in Portugal ging er 1960 ins Exil, zunächst nach Brasilien, dann in die USA. Bis zu seinem Tod hielt er intensiven Briefkontakt mit der in Portugal lebenden Schriftstellerin Sophia de Mello Breyner Andresen. In diesen Briefen kommt eine tiefe Verbundenheit zum Ausdruck, Freundschaft, wird aber auch viel über politische Verhältnisse, künstlerische Entwicklungen, kreative Prozesse reflektiert. Auszüge dieser Briefe sind mit Gedichten im Film zu einem Dialog montiert, der die Zuschauer dem Wesen Jorge de Senas nahe bringen will. Die Bilder dazu wirken oft wie Bühnentableaus. Da wird denen, denen das Thema und die Protagonisten fern sind, nicht immer klar, wer agiert. Was aber – nach einer gewissen Zeit des Sich-Einfühlens – nebensächlich ist.

Entscheidender: Man bekommt ein Gespür dafür, was es heißt, wenn Menschen in einer für sie fremden Welt leben müssen. Womit der Film einen überaus aktuellen Aspekt hat. Stilistisch überzeugt der Film mit seinem Versuch, lyrische Weltansichten in Bilder einzufangen. Da ist viel Geheimnis. Was dem Kino ja immer gut tut.

Die Wirklichkeit stand auch Pate bei „Tha Last Family“, „Die letzte Familie“, aus Polen. Und auch hier wieder stehen Künstlerschicksale im Mittelpunkt. Die Familie: das sind der Maler Zdzisław Beksiński (1929 – 2005), dessen Frau, der Sohn, Mutter und Schwiegermutter. Alle Figuren leiden unter seelischen Verkrüppelungen. In einem Kernsatz heißt es: „Niemand sagt, dass Familienleben ewigen Sonnenschein und Regenbogenglanz bedeutet.“ Hier tatsächlich nicht. Meist wird aneinander vorbei geredet, sieht jeder allein seine Bedürfnisse. Nur die Ehefrau des selbstbezogenen Künstlers hat soziale Kompetenz. Doch sie ist für die anderen selten mehr als Arbeitstier und Möglichkeit, sich in einer anderen Person zu spiegeln.

Der Film hat einen starken Sog, was vor allem den Schauspielern zu danken ist. Sie bewältigen bravourös die schwierige Aufgabe, weitestgehend unangenehme Charaktere so zu gestalten, dass man, fern aller Identifikationsmöglichkeiten, am Geschehen dran bleibt, wissen möchte, wie es weitergeht mit diesem Haufen verlorener Menschlein. Die Inszenierung lässt einen allerdings mit der Frage zurück, wieso die gesellschaftlichen Entwicklungen im Polen der 1970er und 80er Jahre, in denen die Filmerzählung überwiegend spielt, kaum erkundet werden. Beksiński und die Seinen wirken dadurch fast wie Zombies in einer steril anmutenden Realität. So stark die Beobachtung psychischer Verstrickungen ist, so schwach ist das Abbild des Alltags, in dem diese Menschen gelebt haben. Da fällt es einem denn letztlich doch schwer, über den Aha-Effekt, einem „Ach, so war das“, hinauszukommen.

Und sonst? Schon jetzt fällt die hohe Besucherzahl auf. Selbst frühmorgendliche Vorstellungen sind bereits vor dem ersten Festivalwochenende sehr gut besucht. Was, wie immer in Locarno, auch in der Retro ins Auge sticht. Die gilt ja dem bundesdeutschen Kino der Jahre 1949 – 1963. Tatsächlich bietet sie viele Entdeckungen. Man wird sehen, ob am Ende das Ziel erreicht wird, das dem Kurator Olaf Möller vor Augen schwebt, eine „Neubewertung nicht nur der Filme, sondern auch der west-deutschen Gesellschaft vor allem der 1950er Jahre, des Geistes der Adenauer-Ära“.

Peter Claus

04-08-16

 

Locarno 2016 – zum Ersten

Carlo Chatrian, nun schon zum vierten Mal künstlerischer Direktor des Internationalen Filmfestes Locarno, ist optimistisch. Er ist sich sicher: „Unser Festival hat eine starke Position im großen Festivalreigen. Denn uns gelingt es wirklich, Stars und kleine, feine Filme, Gestern und Heute mit der Zukunft zu verbinden.“ So deutlich, wie lange keine Ausgabe des renommierten Festivals am Lago Maggiore, setzt die 69. Ausgabe denn auch im Hauptwettbewerb auf Filme, die, so Chatrian, „Kunst und Unterhaltung verbinden“, dabei „ernst zu nehmende, kritische Gesellschaftsbilder entwerfen“.

Schon der erste Beitrag des „Concorso internationale“, des Hauptwettbewerbs um den Goldenen Leoparden, entspricht dem geradezu perfekt: „Slava“ („Glory“), eine Ko-Produktion Bulgarien / Griechenland. Das bulgarische Regie-Duo Kristina Grozeva & Petar Valchanow lässt zwei Welten aufeinander prallen, die einer überdrehten, ganz auf Schickimicki getrimmten PR-Frau eines Ministers und die eines sehr schlichten Bahnhilfsarbeiters. Deren Lebenswege kommen per Zufall zusammen, und führen zu einer regelrechten Schlacht von Gut gegen Böse, Menschlichkeit contra Business-Routine. Das ist fein erzählt, sachlich, oft mit der Handkamera dicht an den Protagonisten, hat sehr oft eine scharfe Komik, die jedoch nie ins Überzeichnete abdriftet. Und: der Film punktet mit einem überraschenden Ende, das wirklich jeden im Zuschauerraum dazu zwingt, Position zu beziehen. Gutes Kino von Relevanz. Nichts da mit rosaroter Traumfabrik. Die Festivalgemeinde hofft, dass der Film typisch für das diesjährige Angebot ist.

Zur glanzvollen Eröffnung auf der Piazza Grande gab’s außerhalb aller Wettbewerbe einen Science-Fiction-Thriller, die englische Adaption des Romans „The Girl with All the Gifts“, eine wahrlich düstere Dystopie: In nicht allzu ferner Zukunft wird die Erde von einem Pilz heim gesucht, der die Menschheit in einen Haufen Zombies verwandelt. Ein zehnjähriges Mädchen wird zur Hoffnungsträgerin. Doch, das darf im voraus verraten werden, die Hoffnung täuscht. – Der schottische Regisseur Colm McCarthy hat den mit Gemma Arterton und Glenn Close prominent besetzten Film in der ersten Hälfte stringent als Metapher auf heutzutage global wirkende Fehlentwicklungen inszeniert. Das ist so spannend wie des Nachdenkens wert. In der zweiten Hälfte aber überwiegen Schockmomente wie in billigen Horrorspektakeln, die überflüssig sind, wird zu stark auf eine äußere Spannungsmache gesetzt. Da droht der Film in purer Effekthascherei zu versanden. Die Schauspieler können zum Glück mit ihren starken Charakterbildern ausgleichen. Und in den letzten Minuten hat der Film auch wieder seine anfängliche Stärke.

 

 

Die Entscheidung, einen derart verstörenden Thriller zum Festival-Auftakt auszuwählen, darf man als ausgesprochen mutig bezeichnen. Nichts da mit Glanz und Glamour. Chatrian fordert das Publikum. Er weiß allerdings, dass er das kann. Wer nach Locarno kommt, will keine Durchschnittskinoware serviert bekommen, sondern sucht das Außergewöhnliche. Der Festivalauftakt verspricht, dass es davon in diesem Jahr jede Menge gibt.

 

Peter Claus

03-08-16