Der Badische Kunstverein gibt weltweit erstmals Einblick in das Gesamtwerk der israelischen Tanztheoretikerin und Künstlerin Noa Eshkol
Heute wundert es nicht mehr, wenn Kunst getanzt wird, immateriell ist, wie etwa das Werk des Biennale-Künstlers Tino Sehgals. Doch wollte Noa Eshkol mit ihrer analytischen Arbeit an menschlichen Bewegungsmustern in den 1950er Jahren wohl kaum die bildende Kunst revolutionieren. Dennoch ist sie eine Pionierin einer Kunst geworden, die sich mit semiotischen und strukturellen Fragen befasst. Sie kam vom Ausdruckstanz und agierte aber jenseits der Gattungsgrenzen, praktizierte eine Variante des Minimalismus, die weder Tanz noch Performance ist, aber womöglich deutlicher Struktur und Reduktion visualisiert als alle Kuben und Quadrate Donalds Judds, Carl Andres und Sol LeWitts zusammen. Denn bei der Betrachtung der „Tänze“ von Noa Eshkol wird der menschliche Faktor sichtbar, der uns angesichts der Minimal Art bewusst werden soll. Obwohl die Tänzer nebeneinander meist dieselben komplexen, simultanen Bewegungen einzelner Gliedmaßen zu einem klickenden Metronom ausführen, sehen wir doch Varianten, die dem Körperbau, der körperlichen und mentalen Verfassung der Ausführenden geschuldet sind.
„Sie war ihrer Zeit weit voraus“, sagt Mooky Dagan, langjähriger Freund Eshkols, bei der Eröffnung der Ausstellung im Badischen Kunstverein Karlsruhe. Der Vorsitzende der Noa Eshkol Foundation For Movement Notation in Holon, Israel ist sichtlich bewegt, wie auch die mitgereisten Tänzerinnen, die zum Teil noch bei der 2007 verstorbenen Künstlerin gelernt haben. Es sei weltweit die erste umfassende Ausstellung zum Gesamtwerk Eshkols, bestätigt er.
Das eine oder andere Dokument sieht sogar Dagan zum ersten Mal. Etwa den Film, in dem die damals 36-jährige Pionierin des strukturellen Tanzes in Zeitlupe einige wenige Bewegungen ihrer Tanz-Notation ausführt. Das 1960 datierte Material war für einen Dokumentarfilm über die 1958 publizierte Eshkol-Wachman Movement Notation gedacht, der jedoch nicht vollendet wurde. Maya Pasternak, die junge Archivarin der Foundation, hat vor kurzem den Film in der Cinemathek von Jerusalem gefunden. Gemeinsam mit Dagan und der Tanz-Expertin Mor Bashan hat sie Kunstvereinsleiterin Anja Casser bei der Auswahl der Exponate beraten. Zu sehen sind neben 17 großen Wandteppichen mehr als 150 Fotografien, Dokumente, Zeichnungen, Ornamentstudien, Modelle und Publikationen Eshkols und ihrer Mitstreiter.
In Karlsruhe hingegen kann nun erstmals nachvollzogen werden, wie die junge israelische Elevin des modernen Tanzes zunächst allein und dann mit ihrem Schüler Abraham Wachman eine eigene, bahnbrechende Bewegungsnotation entwickelte, diese über Jahrzehnte in Kollaboration mit ihrer Chamber Dance Group zu einer objektiven Analyse der menschlichen Bewegung ausbaute, die sogar Anwendung in der Kybernetik und anderen Wissenschaftsbereichen fand.
Eshkol, die 1924 in einem Kibbuz geboren wurde, arbeitete meist im Kollektiv. In den späten 1940er Jahren hatte sie in England den Grafiker und Tänzer John G. Harries kennengelernt, der viele ihrer Buch-Illustrationen anfertigte und auch die erst kürzlich aufgefundenen Bilder für einen Dokumentarfilm aufnahm. Für Eshkols Bewegungsnotation erstellte der spätere Architekt Abraham Wachman exakte Konstruktionszeichnungen, die eine genaue Analyse des menschlichen Bewegungsapparates ermöglichten, und übersetzte die Ergebnisse gemeinsam mit der Choreografin in einfache Zeichen. Eshkol hatte entdeckt, dass es drei grundsätzliche Formen der menschlichen Bewegung gab: die um ein Gelenk rotierende, die eine konische Form umschreibende und die flache Bewegung. In Kombination der drei Prinzipien ergaben unendlich viele Bewegungen. Es sei ganz einfach, meint Dagan. Für Noa sei der menschliche Körper wie ein Orchester gewesen, und die Notationen würde Anweisungen für die Aktionen der einzelnen Körperteile geben.
Wie ihre zahlreichen Publikationen zeigen, glich die Bewegungsforscherin ihre Theorie systematisch mit anderen Bewegungsformen ab, etwa mit Thai Chi, der Feldenkrais-Methode oder auch jemenitischen Tänzen. Eine ihrer erstaunlichsten grenzüberschreitenden Aktivitäten stellt ihre Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Physiker Heinz von Foerster da, der sie 1968 für zwei Jahre als Gastprofessorin an die Universität von Illinois holte. Obwohl sie selbst, laut Mooky Dagan, nicht an Computern interessiert war, war die Tanztheoretikerin von der Visualisierung ihrer Theorie und der Herstellung selbstorganisierter Bewegungssysteme fasziniert.
Mit ihren Studien nahm sie die heute fast schon üblich gewordene Öffnung der Kunst gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen vorweg. Ihre seit einigen Jahren gefeierten Wandteppiche hingegen erscheinen wie ein komplementärer Schatten ihres strengen, analytischen Werks.
Infolge des Jom-Kippur-Krieges hatte sie 1973 beschlossen, die Tanzarbeit zu unterbrechen, weil einer ihrer Tänzer eingezogen wurde. Aus einer inneren Regung heraus begann sie, zunächst allein, dann gemeinsam mit den Tänzerinnen, mit Textilien zu arbeiten. Einzige Regel: Sie nutzte nur vorgefundene Formen von aufgetrennten Kleidungstücken oder Fabrikabfälle. Letztere entsprachen oft den Negativformen ausgeschnittener Ärmel, Kragen oder Rückenteile, verweisen wiederum auf den Körper. Sie sortierte die Teile und legte sie zu abstrakten Bildern zusammen. Die Titel verraten die Anlässe. Das konnte eine „Palästinensische Vase im Fenster“ sein, aber auch ein „Trauerteppich (Nach dem Massaker in der Ma’alot-Schule)“ oder ein glühend rot umrandetes „Fenster zur Nacht“.
Fotos zeigen Eshkol, gebückt über ihre Arbeit, stets mit Zigarette. Sie schuf Hunderte von Wandteppichen, die sie als Form der Malerei begriff, die aber auch Collagen von Fundstücken waren. Das rote-weiße Muster eines Palästinenser-Tuches stößt auf Rosen-Dekor, englischer Tweed auf das Oliv einer Armeedecke. Da Teppich im Hebräischen auch Erzählung bedeutet, scheint es, also ob das Narrative, der Zufall, aber auch ihre Freuden und Ängste sich in ihrer bildnerischen Arbeit niedergeschlagen hätten. Sie selbst könne ihre Wandteppiche nicht erklären, hat sie einmal gesagt.
Sie sei Sozialistin und eine große Humanistin gewesen, erzählt Dagan. Tanz sei für Eshkol ein Material gewesen wie der Ton in den Händen eines Bildhauers. Nur alle paar Jahre hatte sie öffentlichen Aufführungen zugestimmt, obwohl die Tänzer täglich in ihrem Haus probten.
Foto ganz oben: Tanzperformance der Noa Eshkol Chamber Dance Group (© Carmela Thiele)
AUSSTELLUNG
Badischer Kunstverein (www.badischer-kunstverein.de)
Noa Eshkol
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