Türkische Kunstszene: Vorstellung von Gesellschaft
Istanbuls Kunsthaus „Salt“ schließt, angeblich aus technischen Gründen. Und doch drängt sich der Eindruck auf, dass politischer Druck ausgeübt wurde auf eine dezidiert kritische Kultur-Institution.
Heruntergelassene Rolläden, die drei Eingangstüren verschlossen. Wer Istanbuls Einkaufsmeile İstiklal Caddesi entlangschlendert, stutzt. Denn an dem eleganten weißen Bürgerhaus mit der Hausnummer 136, wenige Schritte von der historischen Tünel-Bahn entfernt, sind die sonst tagtäglich weit geöffneten Glastüren geschlossen. Seit Beginn des Jahres hat „Salt Beyoğlu“, das mondäne Kunst- und Ausstellungshaus, geschlossen. Besucher werden auf den zweiten, kleineren Standort von „Salt“ in dem historischen Gebäude der Ottoman-Bank in Galata verwiesen.
„Die coolste Stadt der Welt“. Nur zehn Jahre ist es her, dass das US-Magazin Newsweek die Stadt am Bosporus mit diesem Ehrentitel belegte. Und damit war nicht nur die Party- und Lifestyle-, sondern vor allem die neue Kunstmetropole gemeint. Gleichzeitig mit der vorsichtigen Demokratisierungsperiode Anfang der 2000er-Jahre war auch Gründerzeit für Galerien, Messen und Kunstsammlungen. Geht es diesem Kunstwunder am Bosporus jetzt an den Kragen?
„Technische Gründe“ seien verantwortlich für die temporäre Schließung, teilt Salt-Direktor Vasif Kortun auf Nachfrage mit. Seit der von ihm kuratierten Istanbul-Biennale 2005 gilt der Kunsthistoriker als die einflussreichste Figur der türkischen Kunstszene. Im Jahr 2001 gründete er die „Platform Garanti“, aus der Salt hervorging. Um das Kunstzentrum mit Archiven, Bibliothek und Forschungszentrum dürfte manche europäische Metropole Istanbul beneiden.
Kortun gibt sich sachlich. Dennoch klingt das Argument merkwürdig, dass dem Kunsthaus vier Jahre nach der spektakulären Eröffnung im Winter 2011 aufgefallen sein will, dass das aufwendig renovierte „Siniossoglou Apartment“, Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, keine Genehmigung der Istanbuler Baubehörde hatte. Das vierstöckige Haus soll nun wegen ein paar „räumlicher Überarbeitungen“ gleich ein ganzes Jahr schließen.
Am Bosporus lag vor einigen Jahren ein großes Versprechen der zeitgenössischen Kunst
Die Gerüchte über politischen Druck hinter den Kulissen, die derzeit in Istanbul kursieren, sind plausibler als gewöhnlich. Denn Salt lockte nicht nur mit gelungenen Ausstellungen türkischer Kunstgrößen. „How did we get here?“, hieß eine Schau im vergangenen Herbst, in der die Geschichte sozialer Bewegungen in der Türkei nach dem Militärputsch 1980 aufgeblättert wurde.
Im Herbst 2012, auf dem Höhepunkt eines öffentlichen Streits um das Atatürk-Kulturzentrum an Istanbuls zentralem Taksim-Platz, wenige Monate vor Gezi, konterkarierte Salt die Pläne, das ungeliebte Symbol der türkischen Moderne abzureißen, um stattdessen ein Ensemble aus Shopping Mall und osmanischer Kaserne zu bauen, mit einer Ausstellung zur Architekturgeschichte des Hauses.
Es hat symbolische Bedeutung, wenn ein solches Haus schließt: für viele ähnliche Initiativen
Steht die Politik hinter der Schließung? „Über Gerüchte spreche ich nicht“, sagt Kortun mit gequältem Lächeln. Er hat aber erst einmal das Nachsehen: tausend Quadratmeter Ausstellungsfläche weniger, Café, Bibliothek und „Walk-in-Cinema“ im Erdgeschoss geschlossen. Die beliebte Kunstbuchhandlung Robinson Crusoe, die in den Salt-Räumen Zuflucht vor der rasanten Gentrifizierung auf der İstiklal-Straße gefunden hatte, musste ausziehen.
Und so lässt sich in einem Klima, in dem Intellektuelle grundsätzlich verdächtig sind, die Schließung des Salt durchaus als symbolische Abstrafung lesen. Das Institut steht für eine zivilgesellschaftliche Erfolgsgeschichte. Seit den Neunzigerjahren bereitete vor allem die Kunst dem gesellschaftlichen Diskurs den Weg, den Politik und Staatsapparat verweigerten. Und mit Privatmuseen wie dem 2001 eingerichteten Haus des Sammlerehepaares Sevda und Can Elgiz, dem 2005 im alten Istanbuler Hafen eröffneten „Istanbul Modern“ der Pharmazieunternehmer Eczacıbaşı oder der Borusan-Sammlung des Mäzens und Röhrenproduzenten Asım Kocabıyıik sicherte die liberale, säkulare Bourgeoisie institutionell den Freiraum ab, den Künstler wie Hale Tenger, Gülsün Karamustafa oder Halil Altındere ästhetisch erkämpft hatten.
Salt war aber nicht nur das avancierteste dieser kulturellen Vorzeigehäuser. Die finanzierende Garanti-Bank duldete mit Kortun auch einen anerkannten Gesellschaftskritiker an dessen Spitze. Zwar mehrten sich in den letzten Jahren Kritik über die dominierende Rolle dieser Mäzene. Der Firma Koç, Hauptsponsor der von der Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV) organisierten Biennale, hielten Aktivisten vor, auch Militärfahrzeuge zu produzieren. Die Familie Koç lässt übrigens gerade im Viertel Dolapdere, direkt hinter dem Taksim-Platz, für vierzig Millionen Dollar ein Haus für ihre 1800 Werke umfassende Sammlung zeitgenössischer Kunst bauen – und erhielt dafür problemlos die Baugenehmigung.
Dennoch schätzt Salt-Chef Kortun die von den großen Firmen unterhaltenen Institutionen als „Alternativen zu der Kultur des Gehorsams, die im Aufstieg begriffen ist“ – und weil sie „eine andere Vorstellung von Gesellschaft“ kreierten. Ist die Schließung seines Hauses nun ein weiteres Indiz der „Katastrophe“, vor der Kortun die Türkei kürzlich in einem Interview (SZ vom 7. September) sah? Oder hat Ferit Şahenk, der Chef der milliardenschweren Doğus-Holding, Miteigner der Garanti-Bank, einfach nur die Notbremse gezogen?
„Das kulturelle Feld in der Türkei, Künstler wie Institutionen“, umschreibt der Kurator vorsichtig das grassierende Entsetzen über den immer repressiveren Kurs von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, „sind in diesen Zeiten alle mit einem gewissen Risiko konfrontiert, finanziell, rechtlich und politisch. Die Freiheit der Rede ist zwar unser Vorrecht. Aber der juristische und populistische Konsens ist derzeit nicht besonders offen herausfordernden Konzepten gegenüber.“ Wenn ein furchtloser Intellektueller wie Kortun zu derart verklausulierten Formeln greift, scheint es enger zu werden für die Kunst am Bosporus.
Bild: SALT mission statement – Gilliancelik
Ingo Arend
zuerst erschienen in Süddeutsche Zeitung, 24. Januar 2016
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