Tagebuch des schüchternen Autarkisten
In »Aprile« erzählt Nanni Moretti vom Kinderkriegen und Kinomachen, von Politik und Vespafahren.
»Io sono un autarchico« – Ich bin ein Autarkist, so lautet der Titel eines Filmes von Nanni Moretti aus dem Jahr 1977. Ein Kerl, der unabhängig ist, als Mensch und als Künstler, der neugierig, manchmal beglückt, manchmal verwirrt, manchmal entspannt und manchmal erregt auf das eigene Leben schaut und auf sein Land, Italien, das in Europa liegt und auch ein wenig daneben, der das Persönliche und das Politische nicht als Widerspruch sieht, und der darüber Filme macht, deren komödiantische Poesie und kritische Genauigkeit so leicht zu genießen wie schwer zu beschreiben sind. In »Caro diario« (Liebes Tagebuch), der wohl sein auch bei uns populärster Film ist, hat er dafür wunderbare Bilder gefunden.
Die beschwingten, neugierigen Vespa-Fahrten durch die Straßen von Rom, die Lebenskrise durch eine Krankheit, eine Reise mit einem Philosophen, der insgeheim ein Soap-Opera-Junkie ist, die ironische Selbstspiegelung eines linken Intelektuellen und Künstlers, der keine Lust hat, sich ins Privatleben »zurückzuziehen«, bloß weil es das Wichtigste ist, was man hat. Es ist eine seltsame Musikalität in den Bewegungen des schlaksigen Kerls mit den großen Ohren und dem Bart, und es ist eine seltsame Musikalität in der Montage seiner Filme aus scheinbar desparaten, kleinen und spontanen Beobachtungen. Die Neugier der Autarkie in einer Gesellschaft, die als Ganzes weder funktioniert noch zu überwinden ist. Nanni Moretti ist viel mehr als ein Woody Allen der europäischen Post-Linken, wie man ihn gelegentlich genannt hat, er ist der Poet der Linken in ihren Krisen und also in ihren Wiedergeburten. Er macht ein Kino, das so frei ist, daß man sich beim Rausgehen wundert, warum man sich selber so wenig Freiheit nehmen getraut. Im Leben, in der Kunst, und in der Politik.
Auf den ersten Blick erscheint »Aprile« als eine Art Fortsetzung von »Caro diario«. Wieder geht es um eine Form des filmischen Tagebuches, um die Dokumentation und Reflexion eines persönlichen Wandels – Nannis Frau Silvia ist schwanger, man bereitet sich auf die Geburt vor, sucht einen Namen, übt sich in den Elternpflichten, und Nanni erinnert sich an die eigene Kindheit (wie zum Beispiel hat es seine Mutter geschafft ihn zu stillen, wo sie doch als Lehrerin gearbeitet hat? Moretti wählt zur Beantwortung eine Methode, die Intelektuellen so selten in den Sinn kommt. Er fragt sie einfach.), Pieto, der Sohn von Silvia und Nanni beginnt zu wachsen, Bedürfnisse zu entwickeln, Probleme zu bereiten, zum Gesprächspartner zu werden. Und es geht um Italien: um Silvio Berlusconi, diese verrückte, apokalyptische Gestalt eines Italiens, das nichts mehr von sich selber wissen will, um den ersten Wahlsieg der Linken und die Hoffnungen, die damit verknüpft sind, um den padanischen Separatismus und um die Flüchtlinge aus Albanien, die in Apulien an Land kommen. Und es geht um das Kino. Nanni Moretti bereitet ein Konditor-Musical vor (einen Film, von dem wir ein paar Bilder erhalten und den wir uns nach eigenem Gutdünken zu Ende denken können), nach dem Scheitern der Rechten aber beschließt er, einen Film über den Wahlkampf zu machen, man sieht ihn, zwischen den Tribulationen des werdenden und dann geforderten Vaters, mit Assistenten und Schauspielern sprechen, auch von den Zweifeln und Ängsten eines Filmemachers ist die Rede und davon, daß er hier und dort die Hoffnungen enttäuscht, die in ihn gesetzt werden. Und schließlich kommt auch wieder das, worauf wir, wie auf ein hübsches kleines Glücks- und Erlösungsbild, gewartet haben: Nanni fährt wieder Vespa.
Aber »Aprile« ist nicht mehr das reine, komödiantisch-menschliche Kunstwerk wie »Caro Diario«. Die Struktur ist offener, das Material rauher. Genauer besehen ist dies auch ein Film über die Grenzen des Autarkismus, Grenzen, die die Biographie, die das filmische Material, die die Politik setzen. Einmal spricht Moretti davon, daß es darum gehe, nun erwachsen zu werden. Ist doch klar. Aber dann fügt er hinzu: »Warum eigentlich«?
»Aprile« entstand ganz ohne Drehbuch, ist aber doch weit davon entfernt, eine bloße Selbst-Dokumentation zu sein. Jede Szene, die traumhaften wie Nannis Auftritt im Hydepark von London ebenso wie die in Morettis eigener Wohnung, die ihn zum Beispiel dabei zeigen, wie er, das Kind neben sich, in einem Meer von Zeitungsausschnitten wütet, wurde vorher genau abgesprochen. Moretti inszeniert sein Leben; das Kino und das Leben sind aufs engste miteinander verknüpft, und es wäre vollkommen sinnlos, sagen zu wollen, wo das eine anfängt und das andere aufhört. Gleichzeitig aber will uns Moretti nicht dazu verleiten, das eine mit dem anderen zu verwechseln. Die Kunst, die Politik und das Leben haben nur unendlich viele Beziehungen miteinander. Wenn wir Moretti auf dem Schiff sehen, während der navale Aufmarsch der Padanier gefilmt wird, und er nur, mürrisch und scheinbar zerstreut, unbedingt in eine Bar will, um einen Caffee latte zu sich zu nehmen, so ist das keineswegs die Dokumentation eines Filmemachers, der sich vor der trivialen Wirklichkeit lieber an irgendeinen Ort der Behaglichkeit zurückziehen möchte, sondern eine ziemlich vertrackte Metapher über Verpflichtungen des Filmemachens. Der »echte« Moretti, so sagt er selbst, trinkt seinen Caffe latte – »aber zwischen dem zwanzigsten und dem einundzwanzigsten Take«.
Wieder gibt es umwerfend komische Szenen, etwa wenn Moretti vor dem Fernseher steht und einen dort gezeigten Interviewpartner verzweifelt beschwört: »Sag‘ etwas Linkes!«, und wahrhaft bewundernswert ist Morettis Kunst, jede Einstellung genau so lange dauern zu lassen, bis alles in ihr gesagt ist; nie »melkt« er eine Situation, nie verrät er seine Menschen und Bilder an den Effekt. Neugier ist die Waffe des Autarkisten, Schüchternheit seine Moral. Moretti-Filme funktionieren nur durch diesen Menschen. Und so wahr es ist, daß jeder Moretti-Film ein Vorschlag dazu ist, wie es mit dem Kino in Europa weitergehen könnte, so wahr ist es wohl auch, daß niemand, schon gar kein deutscher Filmemacher einfach einen Moretti-Film machen könnte.
Kein Zweifel: »Aprile« ist ein heiterer Film über einen Menschen, der, in allen seinen Schwierigkeiten, Momente großen Glücks erlebt. Aber ein »alles wird gut« für die Post-Linke ist es auch nicht. Tief drinnen nämlich ist es auch ein Film des Abschieds, des Übergangs, des Zweifels. Denn darin ist Moretti der radikale Anti-Woody Allen, daß er nicht bereit ist, sich in seinen Stadt-Neurosen einzurichten. Es gibt den nächsten Schritt, den nächsten Schnitt. Moretti entläßt uns mit Szenen von den Aufnahmen zu seinem quietschbunten Konditor-Musical. Der Regisseur, den Helm hat er immer noch auf, hat jetzt den langen schwarzen Wollumhang um, den er so lange nicht anzuziehen wagte. Wie ein Fledermaus-Mann auf der Vespa kommt er zu den Dreharbeiten gerollt. Und eine Sonnenbrille hat er auch noch vor den Augen. »Kamera ab! Kamera ab!«, schreit er durch die Halle. Dann tanzt er mit der Crew hinter der Kamera zu den Rhythmen, die Konditoren und Konditorinnen in der Süßwarenfabrik vor ihr zum Tanzen bringen. Ein grandioses und komisches Schlußbild. Aber auch ein ziemlich gefährdetes.
Autor: Georg Seeßlen
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