Das Blut auf der Leinwand

Ein langer Weg zur filmischen Passion

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Das Kino und die Religion, das ist so eine Sache. Eine nun mehr als hundert Jahre lange Geschichte von Annäherung und Ausbeutung, Zerwürfnis und Skandal. Die Berührungspunkte sind ebenso aufregend wie die Widersprüche dieser beiden Arten, die sichtbare Welt zugleich zu bewahren und zu überschreiten. Religion inszeniert sich häufig, wie jeder Besucher einer bayrischen Barockkirche oder eines indischen Hindu-Tempels weiß, mit Mitteln, die man auch in Filmen wieder findet (Bilder, die durch Architektur, Inszenierung und Ritus in Bewegung gesetzt werden). Und das Kino imitiert und profaniert den Tempel, verhüllt und enthüllt seine Bilder wie Heiligtümer, erschafft in seinen Stars seinen eigenen Götter-Himmel, erzählt unentwegt biblische Geschichten nach, und das höchste, was man von einem Film sagen kann, das ist, dass er „Kult“ geworden ist.

 

Für manche Menschen hat diese Beziehung von Kirche und Kino auch einen heftig autobiographischen Bezug. Ob man die fünfzig Pfennig des Sonntags in den Klingelbeutel des Kindergottesdienstes oder in die Jugendvorstellung des Gloria tragen sollte, das war eine allsonntägliche Frage für Menschen meiner Generation. Die Folge war in jedem Fall irgendwie religiös. Entweder Erbauung oder Schuldgefühle.

Dabei ging es in beiden mehr oder weniger geheiligten Räumen nicht nur um unalltägliche Erzählungen und Bilder, sondern um ganz fundamentale Dinge wie zum Beispiel die Gerechtigkeit, das Opfer, die Erlösung. Man könnte auch sagen: um das was uns unvorstellbarerweise neben dem Abenteuer, der Liebe und dem Erfolg in der Welt erwartete, nämlich Verlust, Schmerz, Tod. Oder körperlich gesprochen: Blut, Schweiß und Tränen.

Das Kino war die unmoralische Form der Bilder-Erzählung, so viel stand fest. Auch wenn niemand genau erklären konnte, warum. Aber damals war sie definitiv die trostreichere. Grausame Bilder fand man in den fünfziger Jahren nicht im Kino, sondern in den Religions-Fibeln. Für alle Menschen gibt es im Leben die Bilder, durch die man einmal das urtümliche Vertrauen in die Welt verliert, ein Schrecken, der nie mehr ganz vergeht. Für die einen ist es der Augenblick, an dem Dumbo von seiner elefantösen Mutter getrennt wird, für die anderen der, in dem ein debiler Kannibale mit der Kettensäge Jagd auf neugierige Teenager macht. Für uns waren es die Bilder im Religionsbuch, das grausame Opfer aus den biblischen Geschichten, wie wir es aus den detailverliebten Illustrationen dazu kannten: das erhobene Messer, das der Vater über Isaak hält, der Steinigung der gefesselten Frau, und dann die Kreuzigung in all ihrem Schrecken.

Zum Fürchten waren nicht die Filme, sondern die grausamen Verstümmelungen auf den Heiligen-Bildern in den katholischen Barockkirchen, zum Fürchten aber war genauso die strenge Leere einer bilderfeindlichen evangelischen Kirche. Das Opfer oder die Leere – Bilder des Glücks waren in dieser Religion selten zu finden, die sich als eine der Liebe erklärte.

Das Verhältnis zwischen Kino und Kirche „dialektisch“ zu nennen, wäre mir damals nicht eingefallen, als wir an der Kirche (hintenrum) vorbei zum Gloria schlichen, zu John Wayne oder Charlie Chaplin. Höchstens, dass dies ein sehr merkwürdiges Entweder-Oder in der Suche nach Antworten auf gewisse Fragen darstellte, die zugleich sehr intim und körperlich, und sehr universal und seelisch waren. Vielleicht aber ahnten wir etwas von einer praktischen Aufspaltung der Bilder in das Historische, das Mythische und das Religiöse. Davon, dass Bilder umso schöner waren, je mehrdeutig sie schienen und nicht diesen fürchterlichen Anspruch besaßen, ganz und gar richtig oder falsch zu sein.

Die Erzählungen des Films waren zunächst gegen die unvermeidliche Grausamkeit und Leere der Religion gerichtet. Das Kino war der Ort, an dem Helden das Opfer zu vermeiden wussten, und an dem die Leere keine Chance hatte. Es war immer etwas los, aber es kam nie zum äußersten. Auch wenn Fuzzy, der alte Zottelbart im Westen, seine diebische Freude daran hatte, wenn ein Böser eins auf die Nase kriegte, in Wahrheit ging es ihm und seinen Freunden mit den atemberaubenden Schieß- und Reitkünsten gerade darum, das Blutvergießen zu verhindern. Auch Tarzan tobte seine Wut an Krokodilen aus, Herkules zeigte seine Kräfte durch das fachgerechte Zerlegen von Säulenbauten, und wenn Godzilla eine Weltstadt in Trümmer legte, schien kein einzelner Mensch zu schaden zu kommen. Und auch als die Filme etwas erwachsener wurden, der Tod wenigstens am Rande vorkam, gab es kaum einmal Blut zu sehen. Unsere Helden wollten den Feind nicht bluten sehen, und sie ignorierten an sich selbst die Wunde: „Ach, das ist nur ein Kratzer“. Aber sie sahen nicht hin. Und wenn sich Cowboys und Indianer zum Zwecke der Blutsbrüderschaft den Arm aufschnitten, verzogen sie keine Miene. Auch dann sahen sie nicht hin. Nicht hinsehen, das war die Strategie einer Kultur, die nach dem größten Blutvergießen der Menschheit entstanden war. Das ging so bis zu unserem Freund Winnetou, der dann aber doch das letzte Opfer zu bringen hatte. Winnetou ist ein Christ, lauten bekanntlich seine letzten Worte. Das ist vielleicht nicht nur dem chauvinistischen Bekehrungseifer seines Autors zu verdanken. Denn nur als Christ(us) kann der edle Wilde das Opfer annehmen, das historisch, wir wissen es, so sinnlos ist.

So verbannt war das Blut von der Leinwand, dass ein Film wie Georges Franjus LE SANG DES BÊTES wie ein tiefer Kulturschock wirkte. Er zeigte nichts anderes als das, was in einem Schlachthof geschieht. Er zeigte die blutende Kreatur. Es ist schwer vorstellbar, von heute aus gesehen, wo wir den Blick auf blutende Wunden im Kinderprogramm sehen und an Direktübertragungen von Herzoperationen gewöhnt werden, welche emotionale Abwehr diese Bilder damals auslösten. Dieses Blut auf der Leinwand war real und gegenwärtig. Es sprach uns schuldig.

Ein anderer Film, der uns dann fast buchstäblich mit der Nase aufs Blut stieß, war Alfred Hitchcocks kleiner Schwarzweiß-Film PSYCHO, von dem jeder, der ihn sieht, sogleich weiß, dass er mehr ist als ein etwas seelenkranker Thriller um einen mutterfixierten Mörder. Der panische Blick auf das Blut des Opfers ist unausweichlich mit den Motiven der Schuld und der Struktur des Opfers und seines Vollzugs verbunden. Hitchcocks Epigonen versuchten immer wieder diesen Blick zu wiederholen, und etwa bei Brian de Palmas DRESSED TO KILL konnte man sich selbst als mittlerweile abgebrühter Filmzuschauer nicht vor dem Schock bewahren: Mit dem Blut aus der Wunde tritt das Böse in der Welt zutage, und mit ihm die verzweifelte Sehnsucht nach Erlösung. Und man ahnt, was eine Heldentat von einem Opfer unterscheidet. Der Held will aufhören, sobald das Blut fließt. Aber das Opfer beginnt da erst.

Da war die Leinwand bereits voll von Helden, die zum Erlöser werden wollten, wie MEIN GROSSER FREUND SHANE, wie später ein TERMINATOR oder ein Kerl namens Neo mit langem Mantel und Sonnenbrille, der die armen Menschen in der künstlichen Welt der MATRIX ans Licht führen sollte. Drei Jahrzehnte zuvor hatte ein großer, absurder Western schon die radikalste Aneignung des Opfers auf der Leinwand vollzogen, ein Film, der bei uns „Leichen pflastern seinen Weg“, im Original viel genauer und poetischer IL GRANDE SILENZIO hieß. Die Geschichte eines Mannes, der sich willentlich töten lässt um zum Zeichen gegen das Böse in seiner Welt zu werden. Das unauslöschliche Film-Bild für dieses radikale Opfer: Blut auf reinem, weißem Schnee. Die Wundmale an den Händen. Die Pietà. Und dann hörte das Kino nicht mehr damit auf, das Menschenopfer in den Mittelpunkt zu stellen: „Kreuzigen“ lassen sich die Antihelden von Terence Malicks BADLANDS, von Scorseses BOXCAR BERTHA; blutig geopfert werden die Motorradhippies von EASY RIDER und die katholischen Gangster in den MEAN STREETS. In der Sprache des jungen Hollywood-Films am Ende der sechziger Jahre war die Rolle des Rebellen christlich besetzt. Und umgekehrt hatten die Christus-Bilder in den Filmen für den Massengebrauch eine offenkundige Sehnsucht danach, etwas von der Gestalt eines „normalen“ Helden anzunehmen (zum Beispiel, indem sie auf das Widersprüchliche und Rätselhafte, das uns im Religionsunterricht Sorgen machte, verzichteten). Filme, die THE GREATEST STORY EVER TOLD oder KING OF KINGS hießen, boten eine merkwürdige Mischung aus Bibel-Kitsch, Hollywood-Kitsch und unvermutetem Modernismus. Anders gesagt: das Historische, das Mythische und das Religiöse lösten sich Einstellung für Einstellung voneinander ab.

In den siebziger Jahren verlor das Kino dann gründlich seine Zurückhaltung gegenüber der Darstellung von Blut. Es wurde auf alarmierende Weise blutrünstig. Alle Welt sprach von seiner Verwahrlosung, einige von seiner Verzweiflung, aber kaum jemand davon, dass dieses Leinwand-Blut auch aus religiösen Wurzeln floss. Die Leinwand versank in Blut, Fontänen schossen in Zeitlupe aus den Körpern wie in den Todesballetten von Sam Peckinpah, BONNIE AND CLYDE verbluteten unter den Kugeln der Polizisten, und am Ende drohten wir wahrhaft, wie in Stanley Kubricks THE SHINING, von einer Welle von Blut überspült zu werden.

Und zugleich begann eine Geschichte der Skandale in den filmischen Passionsbildern. Pier Paolo Pasolinis MATTHÄUS-EVANGELIUM, Herbert Achternbuschs DAS GESPENST und schließlich Martin Scorseses DIE LETZTE VERSUCHUNG spalteten das Publikum und verleiteten die Rechtgläubigen schon einmal zu körperlicher Gewalt. Daneben gab es aber auch Versuche, die verlorene Einheit der Erzählungen zwischen der Bilderfabrik der populären Kultur und der Religion wiederherzustellen, etwa in Franco Zeffirellis Christus-Film, oder in dem aufwändigen, Kontinent-übergreifenden TV-Projekt der neunziger Jahre. Das ging immer schief. Es scheint bislang, als könnten Christus-Filme nur das eine oder andere sein: Skandal oder Kitsch. Und die einzige Diskussion schien darüber zu gehen, was von beidem schlimmer sei.

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Das Kino blickte in die Hölle. Es entwickelten sich ganze Genres um den neuen Blutkult. Vampirfilme, in denen sich die Blutsauger nicht mehr mit einer Andeutung des blutigen Kusses zufrieden gaben, Kannibalen-Filme, in denen Menschenkörper in Nahaufnahme zerrissen wurden, und schließlich die Slasher- und Splatterfilme in Serien, die beim jugendlichen Publikum zum („verbotenen“) Kult wurden: Filme, in denen man die spitzen Gegenstände in das Fleisch eindringen sieht (to slash) und Filme, in denen das Blut gepeinigter Menschen spritz (to splatter). Die meisten Menschen empfanden die neuen Gewaltbilder einfach als etwas Böses. Vermutlich waren sie das auch zu einem nicht unerheblichen Teil, nihilistische Bilder für eine unrettbare Welt. Aber für viele waren sie auch eine merkwürdige „Erlösung“, endlich Bilder für den Grauen in der Welt, in der nichts und niemand Trost zu spenden verstand. Ein unaufhörliches Opfern. Und sie waren auf sehr unterschiedliche Weise religiös. Zum einen drückten gerade die amerikanischen Slasher-Movies für panische Teenager den puritanischen Lebensentwurf in ihrem Blutkult aus: In den Serien wie HALLOWEEN, FREITAG DER 13. oder THE BOOGEY MAN fielen immer die Kids dem einfallsreichen Mörder hinter der Maske zum Opfer, die es mit Sex & Drugs & Rock’n’Roll zu weit getrieben hatten. Und mit dem Bösen war ex negativo auch das andere der Religion wieder da. Nicht nur der Wunsch nach Läuterung und Schutz, sondern auch der nach Gnade. Es war der Teufel, der in dem Kunstblut watete, und der Mensch, der sich wie Martin Scorseses TAXI DRIVER nach dem reinigenden Opfer sehnte.

So hatten sich innerhalb weniger Jahre die Verhältnisse geradezu umgekehrt. Während sich die religiöse Bilderwelt „zivilisierte“ und fortschrittliche Theologen wie Drewermann die Angst- und Gewalt-Bilder behutsam aus dem Zentrum rücken wollten, barbarisierte sich das Kino zu einem endlosen Blut- und Opferbild. Zwar verschwanden sehr rasch die Exzesse des Leinwand-Sadismus, aber das Gewaltbild hatte in seiner mühsam gebändigten Weise auch den Mainstream erreicht. Das Blut- und Opferbild leitet mittlerweile jeden sonntäglichen „Tatort“ ein, und ganz gelegentlich werden sich die Protagonisten auch des merkwürdigen mythischen und religiösen Gehalts ihrer Taten bewusst.

Die beiden Bildwelten, Religion und Kino, hatten sich also ineinander geschoben. Im Kino konnte man beim besten Willen nicht mehr vom Religiösen absehen, weder im Sinne einer opferlosen Helden-Idylle, noch im Sinne einer materialistischen Gegenwelt. Und umgekehrt konnten die Kirchen ihren strengen, überlegenen und gar zensierenden Blick auf das Kino nicht aufrechterhalten. An die Stelle der gegenseitigen Ignoranz war spätestens in den achtziger Jahren mit den Diskussionen um Scorseses Christus-Film eine Lust an der gegenseitigen Verstörung getreten. Es ging dabei um Dogmatisches und um Spirituelles, gewiss, aber vielleicht geht es in diesem endlosen Bilderstreit auch um eine Form der „Grammatik“:

Eine große Erzählung in großen Bildern funktioniert in einer Gesellschaft, die nur bedingt eine religiöse ist, indem sie sich gleichsam aufspaltet. Es ist eine historische Erzählung, und vieles von ihr will in ihrem Zeit-Kontext verstanden werden. Es ist eine mythische Erzählung, das heißt eine Erzählung, die auf die verschiedenste Weise lesbar ist, ein Transportmittel zwischen Erfahrungen und Hoffnungen, eine offene Sprache, die sich selber zu wandeln imstande ist. Und es ist eine religiöse Erzählung, deren Wahrheit über die beiden anderen Lesarten hinausgeht, weder so rational wie die historische, noch so anarchisch-poetisch wie die mythische. Es gibt dabei offenbar sehr unterschiedliche Wege zwischen dem Historischen, dem Mythischen und dem Religiösen zu wechseln und Verbindungen herzustellen. Ein aufgeklärter Umgang mit der christlichen Erzählung bedeutet wohl eine Freiheit der Gänge zwischen diesen Lesarten. Fatalerweise aber hat diese Freiheit nie die Sehnsucht nach der großen „grammatischen“ (und leider auch ideologischen) Einheit ersetzt. Gegen diese pragmatischen Trennungen protestieren zugleich die Fundamentalisten und die Mystiker, aber vielleicht protestiert auch jedes Bild gegen diese Trennungen. Vor allem im Kino.

Denn es ist der Trick eines Kino-Bildes, zugleich Gegenwart und Vergangenheit, zugleich Mythos und Material zu sein. Ein „glaubhafter“ Film ist einer, der seine Bilderlegende bis in unser körperliches Befinden einschreibt. Wir sehen nicht nur und hören nicht nur, ein Teil von uns ist im magischen Bildraum des Kinos eingetaucht. Das Mit-Leiden ist dabei die größte Chance und die größte Gefahr zwischen der Leinwand und uns. Aber wer könnte im Bild der Gewalt, im Bild des Blutes, im Bild des Opfers das Mit-Leiden von der Mit-Täterschaft trennen, die Lust von der Erkenntnis, das Barmherzige vom Sadistischen?

Nachdem es sich gleichsam nihilistisch befreit hatte, begann das Kino in den neunziger Jahren sehr intensiv die Frage nach dem Opfer zu stellen. Und ganz unterschwellig tobte darin auch ein Diskurs zwischen der jüdischen Absage an das Menschenopfer und dem (gewiss: höchst komplexen) christlichen Opferkult. Religion und Kino verstanden sich deswegen noch lange nicht besser, im Gegenteil. So ist es vielleicht verständlich, warum von beiden Seiten gleichsam messianische Hoffnungen auf einen Film gesetzt werden, der endlich in der Lage wäre, diesen tiefen dialektischen Widerspruch zwischen den Bildwelten zu überwinden. Ein Film, der die zerbrochene Einheit der Erzählung und des Bildes wieder herstellt oder neu schafft, und der zugleich, endlich, eine filmische Grammatik für das findet, was im inneren ja beides zugleich sein müsste: eine Leidens- und eine Heilsgeschichte.

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Daher, unter anderem, die helle Aufregung, in die uns jeder neue Passionsfilm versetzt. Mel Gibsons Arbeit hat aus unterschiedlichen Gründen die Gemüter erhitzt, lange bevor sie dem Publikum vorgestellt wurde. Das hat seine Ursachen in seiner Konzeption, in seiner religiösen Biographie, in den Aussagen des Regisseurs, in seiner Filmographie, in der es eine auffällige Häufung blutiger Opfer-Filme gibt. Der Skandal hatte schon da einige gute Gründe – und viele schlechte. Jedenfalls macht er es nicht eben leicht, THE PASSION als ein Kapitel in einer langen Geschichte der Beziehung zwischen Religion und Kino zu diskutieren. (Aber wir ahnen es: Skandale sind nicht nur kulturelle Krisen, es sind auch Masken.)

Der Film schildert die letzten zwölf Stunden im Leben des Messias auf Erden, und schon der Titel, THE PASSION, erinnert an jene Passionsspiele, die in ihrem religiösen Populismus immer einmal wieder antisemitische Phantasien bedienten und erzeugten. Mel Gibsons Christus-Bild in THE PASSION ist, darauf immerhin haben sich die Kritikerinnen und Kritiker schon geeinigt, ein „fundamentales“. Das Historische, das Mythische und das Religiöse soll in einem „reinen“ Bild vollkommen identisch sein, und dieses Bild ist so eindeutig, dass es weder widersprüchlich noch durchscheinend ist. Nichts dazwischen und nichts dahinter. Es ist ein ganz oder gar nicht. Ein buchstäbliches Glauben des Bildes. Mit welchen Mitteln erzeugt ein Film ein solch fundamentales Bild?

Es gibt das körperliche Leiden, die Schmerzen wieder, erspart uns nichts von den Stationen des Leidenswegs, und es widerspricht damit gewiss den verkitschten, den abstrahierten und den modernen, gebrochenen Bildern. Doch die Rekonstruktion der Erhabenheit des Leidens in Bildern, die in sich selbst nicht den geringsten Ausblick auf Versöhnung haben, verlangt ihren Preis. So wie in unseren „bösen“ Gewaltfilmen spekulieren die Bilder mit der Authentizität des Körperlichen. Das Blut ist das Wirkliche in einer Symbolwelt, der Schmerz die reinste Existenzform (das ist, wenn man so will, die „Philosophie“ des modernen Horrorfilms). Auf einer einfachen Ebene der Bilder ist der Film also nichts anderes als die Verknüpfung der religiösen Ikonographie mit der Erzählweise des Gewaltfilms: die Christus-Geschichte als splatter movie. Das zentrale Geschehen der religiösen Erzählung in der Form der Höllen-Bilder, die wir so lange verdammten. Oder ist dies die endliche Verschmelzung der grausamen Rhetorik der beiden Bild-Welten, der Kirchen und des Kinos? Der Regisseur dieses Films jedenfalls benutzt die Mittel des Films so vollständig bedenkenlos wie es nur einer kann, der keine Selbstzweifel und keine Selbstkritik kennt und für den der missionarische Zweck die unbarmherzigsten Mittel heiligt. Eine Kamera weiß nicht, wo der Unterschied zwischen dem Verharren vor einer auch körperlich ergreifenden Darstellung des Leidens und fetischistischen, sado-masochistischen Inszenierung ist, sie weiß nicht, wo die Grenze zwischen Mit-Leiden und Hass-Erzeugen ist. Umso wichtiger ist, dass es derjenige weiß, der die Kamera führt. Und es ist nicht die Intention, nicht die Rhetorik, nicht die Handlung, es ist die Kamera, die Mel Gibson verrät.

Diese Kamera, so scheint es, ist allwissend und allkönnend. Sie umkreist das Geschehen, fährt mit kalter Neugier hernieder, um sogleich mit Emphase selber den Körper des Heilands zu umarmen; sie umkreist den leidenden Körper, sucht sich den Ausschnitt mit der größten Wirkung, wechselt so effektvoll wie besinnungslos die Perspektive. Sie duldet keinen Widerspruch, fährt uns mit jeder Einstellung mit einem „alles oder nichts“ an: Kurz, diese Kamera (und wir können eine Kamera nicht anders begreifen als die Übertragung des Blicks eines Autors auf uns) hat kein anderes Recht, keine andere Begründung als die eigene Macht, als die eigene Überzeugung. Sie drückt eine Gewissheit, eine Selbstgerechtigkeit, eine Überrumpelungs- und Totschlag-Rhetorik aus, wie man sie, verbal und in der Masseninszenierung, nur bei gewissen amerikanischen Fernseh- und Stadion-Evangelisten findet, bildtechnisch nur in den Effekt-Orgien des (blutigen) Actionfilmes. Die Kamera packt den Zuschauer und taucht ihn in die Wunden: Es gibt keine historische Distanz, sagt sie, es war, ist und wird sein: das Opfer.

So ist ein totalitärer Blick entstanden. Der Blick Gibsons ist, von seiner invertierten Gewalttätigkeit abgesehen, einer ohne Demut; er identifiziert sich und uns so vollständig mit dem Opfer, dass es keine Frage nach dem Ziel gibt, keine Hoffnung darauf, dass aus dem Opfer die Liebe erwächst. Ein Bild transzendentalen Geschehens, das selber keine Transzendenz zulässt (anders gesagt: Glauben ohne Glaubenserfahrung). Daher fällt es uns so leicht, das Opfer als Matrix zu sehen, als Erklärung der Welt und ihrer Verdammnis: Man braucht nur ein paar Kostüme zu ändern, und man hätte, Bild für Bild, Täter-Visage für Schmerzensdetail, ein Arrangement der ewigen Wiederkehr: die Opferung der Christen durch die Römer; die Opferung der Ketzer durch die Inquisition, die Opferung der Hexen, die eines Pferdediebes in einem Western, die Opferung der Rebellen durch den Staat und die Opferung der Verräter durch die Rebellen, die Opferung der Feinde, der Verbrecher, der Wahnsinnigen, die Mordanstalten der Konzentrationslager. Gibson fundamentalisiert das religiöse Bild, indem er es mit dem historischen verknüpft und alles Mythische daraus vertreibt. Aus der Versöhnung der religiösen Bilder mit den Kino-Bildern ist paradoxerweise ein unversöhnliches Bild geworden.

Das geht tiefer als es den Anschein hat. Mel Gibson will einerseits dem historischen Ursprung, dem Text, treu bleiben und duldet weder einen Widerspruch zwischen den historischen und den metaphorischen, den mythischen und den religiösen Aspekten der christlichen Urbilder, noch irgendeine Form der „modernen“ Reflexion. Deshalb lässt er seine Figuren in den „Originalsprachen“ reden und gibt sich mit den Kostümen und Architekturen einigermaßen Mühe. Aber zur gleichen Zeit verrät er diese Treue, nur zum Beispiel, indem er, der besseren Dramaturgie, der größeren Identifizierung wegen, die „modernen“ Elemente der Rückblende und der Assoziationsmontage einsetzt. Die Absicht, eine Gegenwärtigkeit des historischen, mythischen und religiösen Geschehens zu erzeugen, wird, genauso wie an die effekthascherische Kamera an eine subjektive Erzählstruktur verraten. Und auch damit erklärt der fundamentalistische Regisseur sich selbst (und mit ihm den „Gläubigen“ im Kinosaal) im einzigen Besitz der Wahrheit.

Und wenn Mel Gibsons Christus-Film nicht nur als Sensation, Skandal oder Ergebnis einer genialisch konzipierten Marketing-Strategie so erfolgreich sein sollte, wie es den Anschein hat, dann kann man sich aus mehreren Gründen vor diesem fundamentalen und barbarischen Christentum fürchten. Dass dieses endlose Schinden und Peinigen eines Menschen, begleitet stets von durchwegs denunziatorischen Einstellungen auf die Urheber, viel eher Zorn, eine nihilistische Akzeptanz oder eine fundamentalistische Einstellung zur Religion des Gewaltbildes hervorruft, führt automatisch zur Frage nach dem Gehalt von Antisemitismus in THE PASSION. Der Film ist vermutlich nicht in einem intendierten, einem diskursiven Sinn antisemitisch. Aber er ist es gleich auf zwei, vielleicht sogar schlimmere Arten. Er ist es in seiner fahrlässigen Art, in der er zwischen Jesus und den Juden mit jeder Einstellung mit jeder Bewegung, in der Wahl der Darsteller, in der Wahl der Farben einen Unterschied macht. „Die Juden haben unseren Herrgott ermordet“, diese absurde Behauptung, die explizit im Fahrwasser dieses Films wieder aufgetaucht ist, wird mit den Mitteln des Films (also nicht verbal und nicht in der Handlung, sondern in der Beziehung der Bilder zueinander) wiederholt. Er ist aber noch in einer besonderen Weise meta-antisemitisch, indem er ein inneres und ein äußeres seines Blutmythos konstruiert, eine klare Linie zum hässlichen Täter (die Gesichter der Hohepriester und der Legionäre, vor allem aber des hysterischen jüdischen „Volkes“ sind wie böse Karikaturen angelegt: Stadien der Entmenschlichung), und eine pure Vollsteckung des Opfers, in der kein Platz für eine innere Wendung des Opfers, für die Intelligenz des Mythos ist, der nie „wörtlich“ genommen werden will. Adressaten des Opfer-Schauspiels sind wir im Zuschauerraum, nicht die Menschen auf der Leinwand. Denen ist nicht zu helfen.

Aber ist nicht das, was dieses Opfer über alles erhebt, der Umstand, dass es von seinem Subjekt selber bestimmt wird und in seinem Vollzug für alle Menschen offen sein sollte? Dass es zugleich erlitten und vorherbestimmt ist, und dass es in sich auf das Ende der Gewalt weist? Kann es dann aber so einfach und hassenswert „Täter“ geben? Offensichtlich können wir in diesem Film weder hoffen noch mit-leiden ohne zugleich zu hassen und zu verachten (intrigante Priester, die sich mit nichts als dem Tod dessen zufrieden geben, der ihre Macht stört, sadistische Folterer, die blutgierige Masse, den effeminierten, dekadenten König, die Verräter Judas und Petrus, sogar die wenigen „guten“ Menschen, die nichts ausrichten gegen das grausame Geschehen, ganz zu schweigen von einem androgynen Teufel, der triumphierend herumschleicht wie ein Dämon aus einem zweitklassigen Horrorschocker). Wie sollte aber unser Blick Erlösung finden, wenn uns eine Kamera zu hassen lehrt? Wenn sie sich in der Erzeugung von Angst gefällt? Wir beginnen es zu ahnen: Der schwarze Gewaltfilm mit seinen Blutkulten hat aus der Hölle heraus nach einer Erlösung gesucht (und meistens nur Strafe gefunden); der schwarze Religionsfilm, den Mel Gibson gedreht hat, verdammt den Menschen aus der Höhe der Selbstgerechtigkeit. Das Opfer hat, so sagt diese Rhetorik, seinen Sinn in sich selbst; nirgendwo muss der Mensch sichtbar werden, in seiner Unerlöstheit, gewiss, für den es gebracht wurde. Die Verknüpfung von religiösem Bild und Kino-Bild hat etwas sehr Unmenschliches hervorgebracht. Es ist die Wiederkehr der „schwarzen“ christlichen Ikonographie, die den ursprünglichen Diskurs von Geschichte – Mythos – Religion wieder aufhebt. Und die Glauben mit Unterwerfung verwechselt.

Wenn dieser Film meine erste Begegnung mit dem Christentum wäre, ich glaube, ich bekäme berechtigte Angst vor dieser Religion. Und nun könnte ich nicht einmal mehr ins Kino flüchten.

 

Autor: Georg Seeßlen

Text geschrieben 2004

Text: veröffentlicht in FILMSPIEGEL

Bild: Paramount