I
Ist es etwa leicht, der Sohn des mindestens zweitberühmtesten Malers in Deutschland zu sein, und noch dazu jüngerer Bruder eines offenbar Hochbegabten, der in frühen Jahren bei seiner obligatorischen Bilderreise nach Italien den Tod fand? Für einen, der im Oktober 1515 in Wittenberg geboren wurde, ein Kind von Reformation und Bürgerstolz, stellt sich diese Frage nicht. Lucas Cranach der Jüngere übernahm mit größter Selbstverständlichkeit die Arbeit und die Geschäfte der Malerwerkstatt des Vaters, führte in seiner Abwesenheit Aufträge ganz in seinem Sinn und in seinem Stil aus, und setzte ein zentrales Werkstück des Älteren fort: Das Bildnis des Reformators Martin Luther als work in progress. Lucas Cranach der Ältere malte das erste Bild Luthers und stellte mit seinen Portraits und vor allem den Drucken, die nach ihnen entstanden, ein Ideal her, der kraftvolle Mensch, der eine Lehre nicht bloß verkündigt, sondern vollständig lebt, bis in Blick, Geste und Haltung hinein. Lucas Cranach der Jüngere begleitet ihn in den letzten Jahren seines Lebens. Respekt und Ideal bleiben bestehen, aber nun geht es nicht mehr so sehr um Überzeugung und, nun ja, Propaganda, es geht um einen Menschen. Lucas Cranach der Jüngere malt das letzte Bild des Reformators, das „Totenbildnis Martin Luthers im Sterbehemd“.
Alles ist sanfter geworden. Milder Schatten umgibt die massige Gestalt eines Mannes, der offensichtlich in großem Frieden mit sich und seinem Gott gestorben ist. Immer noch dieser Ausdruck der Entschlossenheit, aber keine Verklärung. Ein Mann der gelebt hat. Ein Individuum. Ein Bürger.
Im Jahr 1537, da hat der Vater noch ein langes Leben vor sich, übernimmt Lucas Cranach der Jüngere die Werkstatt. Das Geschäftsmodell bleibt weitgehend das gleiche. Man erfüllt einerseits die Wünsche adeliger Auftraggeber, bedient aber weitgehend auch, sozusagen in serieller Produktion, den steigenden ikonografischen Bedarf des Bürgertums. Es ist eine Bilderfabrikation, bei der es oft schon eines sehr genauen Blicks bedarf, um herauszufinden, ob es sich um ein Werk des Älteren, des Jüngeren oder eines bzw. mehrerer Mitglieder der Werkstatt handelt. Den Zeitgenossen dürfte das auch weitgehend gleichgültig gewesen sein. Denn es handelte sich um Elemente eines großen Projektes, das Lucas Cranach der Ältere begann und Lucas Cranach der Jüngere vollendete: Die Reformation der Bilder.
Kontinuität also ist zunächst das Ziel der Bilder-Arbeit des Jüngeren. Das hat nicht nur einen ästhetischen, sondern auch einen ökonomischen Aspekt, gewiss. In der Kunstgeschichte handelt man sich mit so etwas leicht den Vorwurf von „Stillstand“, wenn nicht gar des Verfalls ein. Und was musste nicht alles über den armen Lucas den Jüngeren geschrieben und schlimmer, gedacht werden, ganz abgesehen davon, dass man ihn nur als „Epigonen“ des Vaters sah. Es sei „etwas Mattes und Verkrampftes“ in seinen Bildern (so stand es seinerzeit im schönsten Bildungsbürgermagazin, den Westermanns Monatsheften), die kompositorischen Ordnungen seien ihm abhanden gekommen, und dann diese Reduktion der Bilder: Weg von den allegorischen und erotischen Träumen, weg von der radikalen Umwandlung der religiösen Vorstellungswelt, hin zu einer Portraitkunst, die das neue Menschenbild von Reformation und Humanismus nur noch bestätigt und vertieft. Hin zu einer Malerei, die nicht mehr den Umsturz des christlichen Weltbildes zeigte, sondern eine konsistente, in sich ruhende protestantische Bildwelt. Im „Dessauer Abendmahl“ aus dem Jahr 1565 begegnen sich die beiden Impulse aufs Schönste: Die performative, planimetrische Ikonographie des Abendmahls wird aufgegeben zugunsten einer offenen Komposition aus leichter Obersicht. Der Blick muss in diesem Bild wandern, um es zu verstehen.
Der Tisch ist ein Tisch und nicht der Vorschein von Altar und Bühne. Und im Vordergrund sitzt, mit dem Rücken zu uns, der Judas, der seinen Verräterlohn vor den anderen verbirgt. Solch ein Flickern zwischen Blick und Bild erzeugt Suspense, einerseits: Wir wissen etwas, was die Figuren auf dem Bild nicht wissen. Und es ist andererseits ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Emanzipation des Bildes. Es löst sich aus dem liturgischen, rituellen Kontext und beginnt zu erzählen. Und grenzt es nicht an Unverschämtheit, diese Schlüsselszene so distanziert, gleichsam ein wenig von oben herab und mit so viel Räumlichkeit hinter dem Abendmahl-Geschehen zu malen? So viel Welt im Mythos!
Die große Arbeit einer wahren Bild-Revolution habe der Vater erledigt, hieß es. Der Sohn habe nur noch, wenn vielleicht malerisch doch nicht gar so uninteressant, wie man lange Zeit übereingekommen war, das ikonographische Erbe verwaltet.
Nichts davon bleibt bei einem näheren Blick. Die Reformation der Bilder wäre ohne Lucas Cranach den Jüngeren unvollendet geblieben, der Eingang in die Neuzeit der Malerei müsste woanders gesucht werden. Das „Matte und Verkrampfte“ war nichts anderes, als die genaue Beobachtung der nächsten Etappe der Subjektivierung und Verbürgerlichung des Menschen im 16. Jahrhundert.
II
An Lucas Cranach (dem Älteren) kann man, vielleicht, den Unterschied zwischen „Schauen“ und „Sehen“ erklären. Und zwar deswegen, weil es bei der reichhaltigen Bilderfabrik, die er betrieb, um den Übergang vom einen zum anderen geht. In einer Zeit, in der sich nicht nur die Verhältnisse in Politik und Religion drastisch veränderten, sondern auch ein Bruch in der Geschichte des Wahrnehmens stattfand. Wer Gottes Wort hören kann, muss keine Bilder mehr anschauen, sagten die radikaleren unter den Reformatoren. Die Welt, meinten andere, muss im Licht einer mehr oder weniger griechischen Sonne neu gesehen werden. Die Welt ist wohl, dachten wieder andere (ohne allzu laut darüber zu sprechen) alles, was der Fall ist. Aus Italien, empfanden etliche schließlich, kommt eine neue, sinnliche Freiheit, eine ungeheure grausame Zärtlichkeit des Blicks, ein verwirrender malerischer Eros. Das wollen wir auch, meinten sie, aber doch auf eine eigene, auf eine, nun ja, deutsche Weise. So entstand eine neue Gemengelage von Blick und Bild. Und, wie es so geht in prekären Zeiten, eine neue Sehnsucht nach Bildern. Aber der Reihe nach.
Lucas Cranach hatte von seiner obligatorischen Italienreise und einem wichtigen Abstecher zur „Donauschule“ in Wien eine große Lust an den neuen Freiheiten der Malerei mitgebracht. Sie bezogen sich auf Komposition, Farbe und Dimension, nicht zuletzt auch auf den Körper. Den weiblichen Körper, um genau zu sein. Lucas Cranach malte nackte Frauen, wie sie nie zuvor nördlich der Alpen gemalt worden waren. In Wittenberg, wo er als Hofmaler sein Glück gemacht hatte, stellte er die neuen Freiheiten in den Dienst dreier großer Transformationen der Malerei. Der Reformation, des Humanismus und – der Bürgerlichkeit.
Dass Lucas Cranach der große Maler des Protestantismus in Deutschland wurde, lag nicht nur an seiner persönlichen Freundschaft zu Martin Luther (wir können uns diesen resoluten Mönch, der einen schweren Gang zu gehen hatte, gar nicht anders vorstellen als so, wie ihn Cranach gesehen hat und sehen machen wollte) und äußerte sich nicht nur in drastischen Propaganda-Bildern (die immer wieder deutlich machen sollten, dass der Papst in Rom alles andere tat als dem Vorbild Christi zu folgen). Cranach erkannte wohl, dass, wenn die Bildhaltigkeit der Welt gerettet werden konnte, dies nur geschehen konnte, wenn das Bild sich im selben Maße reformierte wie die religiöse Kosmologie. Was aber kann das sein, ein „protestantisches Bild“?
Das hat eine motivische Seite, und die ist einigermaßen rasch erklärt. Man kann sie anhand zweier Cranach-Bilder in all ihrer Unverschämtheit erklären. Für den Lutheraner wandelt sich kategorisch der Begriff der Sünde. Er muss die Gnade des Herrn erfahren; Lucas Cranach erlöst sich gleichsam selbst auf dem mittleren Altarbild von Weimar, wo der gewaltige Blutstrahl aus der Seitenwunde Christi entgegen aller Physik auf dem Haupt eines Mannes landet, der weit im Hintergrund steht. Es ist der Maler Lucas Cranach. Diese Selbstermächtigung könnte man durchaus auch als reichlich anmaßend ansehen. Und mit dem Doppelbild „Gesetz und Evangelium“ stellt Cranach gleichsam die beiden Konzeptionen nebeneinander.
Das dräuende alte Testament: Der Tod, die Sünde, das Gesetz. Das erlösende neue Testament: Das Leben, die Gnade und der Glaube. Mit diesen beiden malerischen Befreiungsaktionen, die in einer Reihe variiert werden, begründet Cranach das protestantische Bild: Es beschreibt eine direkte und personale Beziehung des Menschen zu seinem gnädigen Gott, und für die alte Weltsicht ist es genau so unverschämt, wie da das Blut über die gesamte biblische Konstellation der Kreuzigungsszene hinweg auf diesen einzelnen Menschen spritzt, um ihn der Gnade anheim zu geben, wie es unverschämt ist, das religiöse Gesetz selbst in Frage zu stellen, nebst allen vermittelnden Instanzen, um den Augenblick der persönlichen Gnadenerfahrung zu bestimmen. Und auch dies wieder ist ein ausgesprochen bildhafter Vorgang. Gnade kann man kaum beschreiben; zeigen kann man ihren Moment schon. Der Mensch kann nach diesen Bildern nicht mehr der sein, der er vorher war. Zum Verschwinden gebracht im Übrigen ist auch die Szene der „Ursünde“. Im linken Bild werden die Menschen von Tod und Monstrum verjagt, von den alten Dämonen der kollektiven Angst; im rechten Bild, da sie sich dem Gekreuzigten zuwenden, besiegen sie selbst den Drachen und bereiten dem Lamm und der Taube die Bühne.
Aber das Bild ist ja keine reine Gegenüberstellung; wie das sehr, sehr weltliche Bild vom „Jungbrunnen“ kann man auch dieses in einer Kreisform ansehen. Etliche Bildelemente überschreiten die Bildgrenze und heben die einfache Gegenüberstellung auf wie etwa das Jüngste Gerichte oder, theologisch besonders umstritten, die Platzierung der ehernen Schlange aus der Moses-Geschichte. Offensichtlich ist sie das Missing Link zwischen der „Ursünde“ und der Erlösung durch das Kreuzopfer. Es ist das Bild einer Versuchung (wie der in der Ursünde von Adam und Eva) aber auch eines ihrer temporären Überwindung. Es ist das Bild einer Heilung. Nicht mehr Verdammung, noch nicht Erlösung. Übergang.
Cranachs Luther-Bild ist radikal. Alle Portraits von Geistlichen vordem beziehen sich nicht nur auf ihren Rang und versuchen die Portraitierten in der einen oder anderen Weise in die christliche Welterzählung einzuschreiben. Ihr Bild-Ziel ist die Würde. Cranachs Luther aber ist ein reiner Mensch. Ein Subjekt. Und hier treffen sich die beiden Stränge von Reformation und Verbürgerlichung. Cranachs Luther ist offenbar der ideale Mensch seiner Zeit. Das Bild-Ziel ist die Kraft.
Das protestantische Konzept der religiösen Bilder ist ebenso klar wie das bürgerliche Subjekt-Konzept in den Portraits (auch der Fürst ist nicht zuerst Fürst sondern zuerst Subjekt, und damit dreht sich die Ableitungsrichtung bereits um: Der Fürst ist Fürst kraft seiner Persönlichkeit – und Cranach ist pragmatisch genug, bei der Darstellung dieser fürstlichen Persönlichkeit offensichtlich ein bisschen zu schummeln, aber nicht zu sehr): Es ist reine Textur, keine wilde Emotion, kein Flickern zwischen Faszination und Erschrecken, es ist Aussage und nicht Erlebnis. Das Bild des Menschen ist der Ausdruck seiner persönlichen Eigenschaften, das sagt sich heute leichter als es sich damals abbilden ließ.
Die Verbürgerlichung der Kunst und des Lebens war bei Lucas Cranach eher Praxis als Programm. Denn so wie er nichts dabei fand, auch für katholische Auftraggeber zu arbeiten, so bedeutete seine bürgerliche Emanzipation keinesfalls einen Einspruch gegen die Herrschaft des Adels. Es war erst einmal ein einfaches Geschäftsmodell. Als Hofmaler leitete er eine Werkstatt beim Kurfürsten in Wittenbach, die sehr unterschiedliche Aufträge erfüllte, von Portraits der Hohen Herrschaften bis zu Ausgestaltungen von Kirchen und Schlössern, aber auch allerlei dekorative Kleinigkeiten. Die Medaillen und Festdekorationen oblagen dieser Werkstatt, sogar die Kleidung und der Schmuck, die Möbel und das äußere Gepränge der fürstlichen Kutschen kamen aus dieser Zeichenfabrik, gleichsam das äußere Erscheinungsbild der Macht, Selbstvergewisserung und Propaganda. Und diese Bilderfabrik sorgte im Inneren der feudalen Herrschaft für eine Humanisierung. Nicht etwa, indem sie diese in Frage stellte, sondern indem sie sie individualisierte. So wie den Reformator konnte man auch den Herrscher als Person erkennen, und nicht aus dem Amt, sondern aus dieser Persönlichkeit stammt die Autorität. Nicht umsonst rühmten Cranachs Zeitgenossen an seinen Bildern das Lebendige in ihnen.
Das Bewusstsein als Bürger war durchaus ausgeprägt bei Cranach. Es war ein durchaus auch symbolischer Akt, dass er schließlich seine Werkstatt vom Schloss in die Stadt verlegte (samt angeschlossenem Weinausschank). Nach der Heirat mit der Tochter des Bürgermeisters baute Cranach systematisch seine Beziehungen in der Ökonomie und der Politik in der Stadt aus; die Produktion und der Inhalt der Cranach-Bildwelt entsprachen einander: Es war der Beginn der Verbürgerlichung der Kunst. Der Beginn eines neuen Sehens. Der feudale Auftraggeber und der bürgerliche Markt ermöglichten ihm, so etwas wie ein totaler Künstler der Verbürgerlichung zu werden, er besaß eine Papierhandlung, war Apotheker und Verleger. Als Immobilienbesitzer und Besitzer des Ratskellers hatte er es zum reichsten Bürger der Stadt gebracht, und als Ratsmitglied bestimmt er bei den Geschicken der Stadt mit. Dass Cranach die Schriften von Martin Luther herausgeben und auf sehr professionelle Weise verbreiten kann, hängt mit dieser tiefen Verwurzelung zusammen. Im Stadtrat, als Kämmerer und mehrfach auch Bürgermeister akkumulierte Cranach gleichsam bürgerliche Macht, und seine Heiratspolitik war nicht weniger dynastisch als die der Fürsten. (Zu seinen vielen Nachkommen, die man als „Cranachiden“ bezeichnet hat, gehört übrigens ein gewisser Johann Wolfgang Goethe.) An Lucas Cranach kann man studieren, wie sich neben der alten, feudalen und „ewigen“ Herrschaft der Könige und Fürsten eine zweite, neue, bürgerliche und strukturelle Form der Macht herausbildet. Und in ihrem Zentrum steht ein neues Sehen.
Man könnte wohl sagen Cranach und seine Mitarbeiter schufen eine vollständige Bildwelt, in denen die Gemälde die Fixpunkte waren, die aber zugleich Spiegel und Muster für ihre (ästhetische) Umwelt wurde. Nebenbei vertrieb seine Werkstatt die Druckgrafiken für das neue Bürgertum, wodurch neben die Auftragskunst bereits so etwas wie ein Kunstmarkt trat. Das Interessante darin ist ein früher Austausch von High und Low: In der Werkstatt von Cranach konnten Gemälde aus Motiven entstehen, denen man vordem nur die Zeichnung als Medium zuerkannte, und umgekehrt dienten Gemälde, die man ohnehin in Serie und gelegentlich mithilfe von Schablonen fertigte, auch als Vorlagen für Drucke. Diese Bildwelt wurde flüssig, und nichts wollte auf das eine, vollkommene, vollendete, endgültige Bild hinaus. Sich ausbreiten war wichtiger als sich konzentrieren.
Cranach erfüllte nicht so sehr ein Maler-Ideal, er schuf es recht eigentlich. Wie ausgeprägt seine Rivalität zu Albrecht Dürer war, der schon zu Lebzeiten der beiden als unbestrittene Nummer 1 galt, lässt sich nur vermuten. Cranach jedenfalls klaute offener und unbedenklicher bei seinem Konkurrenten als umgekehrt, und das ist vielleicht symptomatisch für den Unterschied der beiden. Dürer war der Künstler als radikaler Einzelfall, und er portraitierte sich selbst mit auffällig messianischen Zügen. Cranach war der Künstler als Ideal seiner Klasse, und er portraitierte sich selbst als Patriarch; sein Blick nicht leidend-sehend wie der Dürers, sondern ordnend-schauend.
Es ist zugleich eine Station auf dem Weg des Bildes zu einem Massenmedium. Denn Cranach erkannte, dass man mit dem Bild nicht nur etwas „sagen“, oder etwas bestätigen konnte, den Blick nicht nur unterwerfen, wie in der mittelalterlichen Ikonographie, sondern ihn auch verführen konnte. Cranach verkaufte etwas mit seinen Bildern, und auch wenn sie im treuen feudalen Kontext entstanden, war dies untrennbar mit dem langsamen aber stetigen Aufstieg der Städte und des Bürgertums verbunden. Cranach folgte seinem Fürsten in eine, wenn auch nicht gerade sonderlich entbehrungsreiche Gefangenschaft. Auch das ist eine eher bürgerliche Geste. Treue, nicht Unterwerfung.Die Bildwelt des Lucas Cranach war nicht viel anderes als eine Neuschöpfung der Welt aus dem Geist von Protestantismus und Humanismus. „Das Weib“ war darin möglicherweise Triebkraft und Problem zugleich.
Deshalb führte Cranach immer wieder die „Wollust“ an, die von ihm ausging und die Männer ins Verderben führen, selbst den Cupido in „Venus mit Amor als Honigdieb“, von dem uns ein (lateinischer) Text erklärt, ihn habe der schmerzhafte Stich einer Biene bestraft, so wie jeder Mann für die kurze, vergängliche Wollust mit bösem Schmerz bestraft werde. Und wir sehen die „Quellnymphe“, die einen Bogen und Köcher mit Pfeilen in den Baum gehängt hat, aber auch einen Schild (der verdächtig an eine Maler-Palette erinnert): Sie schläft nicht wirklich, eher schon wartet sie auf etwas. Umgekehrt zeigt Cranach Judith mit dem Kopf des Holofernes nach vollbrachter Tat; in den verschiedenen Variationen des Bildes changiert ihr Gesichtsausdruck zwischen stillem Triumph und Melancholie (der er im Übrigen ein eigenes Frauen-Bild gewidmet hat). Während er sich, in welchen mythischen Verkleidungen auch immer, der Frau nähert, schafft Cranach auch einen blinden Fleck; die Frauen stehen immer schon ein wenig neben sich, sehen, vielleicht, etwas, was nicht gesehen werden darf. Männer werden gesehen, Frauen werden angeschaut. So wäre der erste Eindruck: Die Männer zeigen sich in ihrem Bild, die Frauen verschwinden in ihm. Aber beides sind dynamische Vorgänge, das eben ist die Verführungskunst eines Malers, der ausschließlich die „Lokalfarben“ verwendet. Der Gegenstand bzw. der Körper selbst bestimmen die Farbe, nicht der Lichteinfall oder die Bewegung. Das gemalte Ich steht der Welt gegenüber. Es tritt hervor, es vollbringt den letzten Akt seiner Schöpfung aus eigener Kraft.
Das Körper-Ideal seiner Akt-Bildnisse in allegorischem Gewand ist einfach, schlank und biegsam. Ja, die Schlange spukt in dieser Gestalt, in der Ambivalenz der giftigen Schlange des Paradies-Verlustes, und der heilenden Kraft der ehernen Schlange. Es ist aber auch etwas von frühen Pin Up-Kalendern darin, oder? Die geheuchelte Unschuld, die Suche nach der Ausrede, eine Verabredung zwischen Blick und Bild, die wahren Absichten nicht zu verraten. Das Verführerische scheint von diesen Körpern auszugehen, weniger von der „ewig gleichen“ Persona. Und nahezu immer lauert schon das Verhängnis, die Strafe für die Verführung. Aber stimmt das überhaupt? Jede Epoche hat Lucas Cranachs Frauenbilder neu angesehen (und übrigens fast immer in negativem Vergleich zu den geheimnisvolleren, poetischeren, zarteren Bildern auf der anderen Seite der Alpen). Wird die Frau bei Cranach (je weiblicher desto mehr, sozusagen) durch ihre Körperlichkeit aus dem Prozess der humanistischen Individualisierung ausgeschlossen? Oder wird er hier, beim anatomisch nie so ganz „wörtlichen“ Bild der Nacktheit eher noch einmal radikalisiert? Die Frau als das offene Subjekt, dem Mann gegenüber, der wie im „Urteil des Paris“ von Cranach, immer gepanzert, blind, schlaftrunken und abhängig von „Beratern“ bleibt? Schwer zu sagen. Auch das reformierte Bild lässt sich, Textbeigaben hin oder her, nicht wirklich auf eine diskursive Lesbarkeit reduzieren.
Wir sehen in vielen Männer- und auch in einigen Frauen-Portraits Cranachs bzw. aus seiner Werkstatt dem Menschen zu, der sich gerade als Bürger in der Welt neu erfindet, und natürlich ist der Martin Luther für Cranach (und übrigens auch er selbst) Muster dieser Selbstermächtigung des Subjekts durch die eigene, lokalfarbene Kraft. Die Frage ist nun, ob Cranachs Frauenkörper etwa Teil dieser Verbürgerlichung des Menschen sind, oder ob sie als mythischer Rest, als Gefahr des „Rückfalls“ gelten. Im „Zeitalter der Glückseligkeit“ tanzen nackte Männer und Frauen um einen Früchte tragenden Baum. Ein ebenfalls nacktes Paar, der Anklang an Adam und Eva ist nicht zu übersehen, sitzt daneben, vertieft ins gemeinsame Trauben-Essen. Wäre dieser Baum nun aber der der Erkenntnis, und „Zeitalter der Glückseligkeit“ als ein weiterer Gegenentwurf gegen „Erbsünde“, Gesetz und Strafe, dann könnten die nackten Frauen in der Bildwelt von Cranach noch anders gesehen werden. Der Tanz ist nicht bacchantisch, nicht dionysisch; die Leute scheinen eher nach Ausdruck als nach Lust zu suchen, aber wir sehen auch das Glück der Befreiung. Die Frauen genießen es eindeutig mehr als die Männer. Die strengen sich an, bleiben skeptisch, müssen sich anfeuern, schauen aus dem Bild heraus, wie mit der Frage, ob nicht da eine Strafe lauert. Denn mit der Befreiung, so ist das nun mal, entstehen auch neue Ängste. Sie sind, in Cranachs Bilderwelt, sublimer als die alten Höllenängste und die Opfer- und Folter-Bilder anderswo. Auch die Ängste sind bei Cranach individualisiert. Wie auf dem Bild von der Enthauptung der Barbara sehen wir, dass die Zeugen der Grausamkeit nicht wirklich hinschauen können, obwohl sie sehen müssen, was geschieht. Bei Cranach sehen die Menschen sich nicht an. Sie wollen es, und können es nicht. Sie können es, und sie wagen es nicht. Das, vielleicht, ist ein Preis für das neue Sein. Das neue protestantische Subjekt ist so mit sich beschäftigt, dass es noch kein rechtes Konzept der veränderten Liebe hat. Bei Cranach sind auch Jesus und Maria (oder ist es, wie die kunstgeschichtliche Legend will, doch ein Fürstenpaar, das diese Rollen usurpiert) nicht einander zugewandt, sondern scheinen sich eher um den zentralen Ort des Bildes zu drängen.
Die Verbürgerlichung des Menschen führt, bei Cranach ist das ganz wörtlich zu nehmen, sowohl zur Aufklarung als auch zur Leerung des Himmels. So geht der Weg in eine radikale Ambivalenz. Cranachs Frauen sind keine femme fatales, auch wenn sie sich in manchen Todeslust-Mythen einfinden (wie im Selbstmord der Lucretia). Auch die Frau hat Anteil an der bürgerlichen Selbstermächtigung, was in den Portraits so sehr in Frage gestellt ist wie in den Akt-Bildern. Bei Cranach haben die Frauen entweder zu viel oder zu wenig an.
Die Frauen sind reine Bewegung; kein Wunder, dass Pablo Picasso so von ihnen angetan war. Cranach war der erste Maler auf unserer Seite der Alpen, der die antiken Mythen mit dem weiblichen Akt besetzte. Diese Bilder, kann man sagen, sind schlicht und ergreifend paranoid. Das dritte Element in Cranachs Bilderfabrikation also, neben Portrait und Religionsbild, der weibliche Akt in einer allegorischen, eben nicht auf einen Text zu reduzierenden Situation, führt auf einen weiteren Widerspruch im Übergang des Bildes: Albrecht Dürer setzte seine Akt-Bilder nach eigenem Bekunden aus Einzelteilen verschiedener Menschen zusammen; das Ideal entstand aus einer Sampling-Technik. Bei Cranach bleibt der Körper ganz, aber er wird nicht mehr ideal. Die „groteske“ Störung, die anatomisch unmögliche Bewegung, manchmal die Überzeichnung bis an die Grenze von Karikatur (Zeichnerisches im Malerischen auch), ist beinahe so etwas wie ein Ausweis seiner Realität. Ideal gegen Leben, Verklärung gegen Sinnlichkeit? So einfach ist es wahrscheinlich auch nicht. Aber wahrscheinlich kann man zwischen Cranach und Dürer verstehen, dass alles drei, die Reformation (die viel tiefer ging als nur in eine Spaltung der Religion), der Humanismus und die Verbürgerlichung, in sich selbst widersprüchlich waren. Und wo es Widersprüche gibt, helfen nur Bilder.
Die erotisch wirkenden Aktdarstellungen waren mit einem zentralen Gedanken der reformatorischen Gnadenlehre durchaus vereinbar: Demnach kann der Mensch – trotz der Gebote des alten Testaments – den sündhaft-verführerischen Reizen des nackten Körpers nicht widerstehen und ist Verderben und Unheil ausgeliefert; nicht allein moralische Willensstärke, sondern nur göttliche Gnade kann ihn aus diesem Dilemma erretten. Diesem protestantischen Dogma kommt eine möglichst natürlich-erotische Ausstrahlung des nackten Körpers entgegen. Der Betrachter erliegt den erotischen Reizen der bildlichen Darstellung und tappt – wie auch die Protagonisten des Bildes (etwa Paris oder Herkules) – in die Falle der Moral. Der neue Mensch beginnt zu erkennen, dass er nicht einen Körper hat (der von vornherein verdammt ist), sondern ein Körper ist. Die Schönheit einiger Cranach-Bilder entsteht aus den Schwierigkeiten, auf diese Erkenntnis zu reagieren.
Und noch etwas Heikles war um Cranachs erotische Bilder, führten sie doch zu einem bemerkenswerten Rückschlag in der Verbürgerlichungsgeschichte der Kunst. Denn während sich die reformatorischen Religionsbilder und die bürgerlichen Subjekt-Portraits gleichsam nahtlos in den kulturhistorischen Prozess eingliedern ließen, wurden die Nackt-Bilder, die keinen öffentlichen Raum zieren konnten, und die auf den Widerstand der neuen Eiferer stießen, zu einem Lieblingsobjekt der Adeligen. Sie eigneten sich durch die Kunst eine erotische Liberalität an, die sich die neuen Bürger nicht erlauben konnten, die dem neuen protestantischen Eros heftig widersprach. Was zunächst als Befreiung begonnen hatte, wurde zur Beute.
III
Das Erbe des Vaters umfasste nicht die Stellung des Hofmalers, als welcher Lucas Cranach der Ältere den Grundstein seines Erfolges und seines Wohlstandes gelegt hatte. Der Sohn war also noch weit mehr auf das Funktionieren des bürgerlichen Wirtschaftsunternehmens der Malerwerkstatt angewiesen. Er setzte die Arbeit seines Vaters fort, gewiss, aber er musste auch etwas ganz anderes tun. Und vielleicht war es mehr als ein Detail der Firmen-Darstellung, dass der Jüngere das vom Kurfürsten seinem Vater verliehene Wappen als Firmen-Signet signifikant veränderte: Aus der Schlange mit den Fledermausflügeln, die so sehr an einen Drachen erinnerte, wurde die Schlange mit der Vogelschwinge. Reformatorisches Downsizing, poetische Aufhellung selbst im Firmen-Logo.
Die Schlange mit den Flügeln trug Lucas Cranach den Jüngeren nicht weit fort, nur eben hoch genug, um eine wichtige Funktion des reformierten Bildes zu erfüllen. Bild und Blick verhalten sich nicht mehr in Form von Unterwerfung und Überwältigung, sondern begegnen einander gleichsam auf Augenhöhe.
Dem Übergang blieb die Cranach-Werkstatt auch nach dem Weggang und dann dem Tod des Meisters verpflichtet. Er wurde gleichsam immer sanfter, langsamer, kam gar in der vierten Generation ins Stocken. Lucas Cranach der Jüngere wandte sich erst in den 1540er Jahren, und ganz allmählich, von dem konturbetonten und mit Lokalfarben arbeitenden Vorbild seines Vaters ab. Das heißt, nach und nach wurde das radikale, aus sich selbst heraus wirkende Subjekt in einen neuen Zusammenhang gebracht. Lichteinfall und Bewegung verändern den Menschen, er ist nicht nur, was er ist, sondern gibt auch den Einfluss seiner Umwelt wieder. Entsprechend werden die Farben kühler und kontrastärmer; der Unterschied zwischen dem Menschen und seinem „Hintergrund“ wird, buchstäblich sozusagen, weniger. Auf die Revolution des radikalen Subjekts in den Bildern von Cranach, und, auf ganz andere Weise, bei Dürer, folgt die lange Geschichte des Verschwindens des bürgerlichen Menschen in seiner Welt. Und auf die reformierenden Bilder folgen die reformierten Menschen, die in ihren immer rigideren Gemeinden verschwinden..
Aber noch etwas anderes ist interessant an Lucas Cranach dem Jüngeren. Er übermalt in gewisser Weise den nach und nach skandalösen Erotismus seines Vaters. Der bürgerliche Mensch (in der Stadt wie auf dem Schloss) konsolidiert seine Welt. (Dem Jüngeren fehlte wohl auch die adelige Kundschaft für die verkappten Frivolitäten.) Bis zu seinem Tod im Jahr 1586 blieb er Wittenberg treu und wurde in der dortigen Stadtkirche beigesetzt. Nach seinem Ableben führte sein Sohn Augustin die Werkstatt weiter. Der Cranachismus ist da schon so sehr in der Welt, dass es keines weiteren Genies bedarf, um die Geschichte der Reformation, der Humanisierung und der Verbürgerlichung der Bilder voranzutreiben.
Die tiefe Veränderung, die in den Bildern der beiden Lucas Cranachs vor sich geht, liegt darin, dass man nun den Menschen anschauen kann. Nicht als Erscheinung, wie bei Dürer, eher als Phänomen; nicht wie bei diesem, wo das Subjekt sich nur als Ideal verwirklicht, sondern in der Form, dass das Subjekt selber das Ideal ist. Es kann sich, als bürgerliches, als reformiertes, als humanistisches Versprechen nur durch drei mehr oder weniger geklärte Beziehungen erfüllen: die direkte Beziehung zu Gott (zu einem Gott, der das Subjekt wählt und ermöglicht), die Beziehung zum Ich, zum Menschen und Mitmenschen als Individuum, und schließlich durch die Beziehung zu Körper, Lust und Natur.
Lucas Cranach der Ältere hat die Welt und die Menschen auf neue Weise angeschaut. Bei Lucas Cranach dem Jüngeren passiert etwas Merkwürdiges. Die Bilder sehen zurück. Das hat nicht nur etwas mit dem Blickwinkel der Portraitierten zu tun (im „Portrait einer vornehmen Dame“ etwa, die uns ganz ungeniert und fragend ansieht); es geht darum, dass sich der Bildraum immer weiter zum Betrachter öffnet. Bei manchen Portraits von Lucas Cranach dem Jüngeren kann man ganz direkt das Gefühl entwickeln, man befände sich mit den Portraitierten in einem Raum. Es ist eine Nähe, die es auf diese Weise noch nie gegeben hat. Nicht so heftig und dramatisch, so sezierend und unbarmherzig, wie es später möglich sein wird, eher auf eine sanfte, fast geheimnisvolle Art. Die neue Menschlichkeit, die Lucas Cranach der Ältere entdeckt, entfaltet sich bei seinem Sohn auch als neue Mitmenschlichkeit. Die Bildrichtung kehrt sich um: Nicht mehr Entrückung sondern Annäherung. Nicht mehr Transzendenz des Bildes, sondern gemeinsamer Raum.
Eines der bekanntesten Portraits, das „Weibliche Bildnis“, zeigt besonders deutlich die Spannung von Stand und Subjekt: Auch hier eine sonderbare Mischung, ein bisschen Verlegenheit, aber auch ein wenig Stolz und Trotz, und auch hier muss jemand die Hände bändigen, die gleichwohl mit schweren Ringen repräsentieren müssen. Der Körper ist so zierlich, dass er diesen Kopf kaum tragen könnte, wenn es um reine Realität ginge. Die erotische Allegorie des Vaters setzt sich in den Portraits des Jüngeren in diesen spezifischen Körper-Bildern fort: Die Männer mit Körpern, die immer am Rand zum Zu-Viel, Zu-Schwer sind, die Frauen mit Körpern, die den Gewichten von Rang und Stand kaum gewachsen sind. Das Körper-Problem des kommenden Menschen beginnt sich zu präzisieren.
Alles ist einem Dialog und einem Übergang vom Weichen zum Kantigen und zurück unterzogen. Die soziale Rolle (der „Rang“) und der Mensch stehen auch hier im Widerstreit miteinander. Diese Frau, soviel ist sicher, wirft einen mächtigen Schatten, aber zugleich zeigt der Vorhang auf der linken Seite, wie sie selbst verschattet werden kann. Vorhang, Gesicht, Schatten – drei Formen von Ver- und Enthüllen. Als wollte der Maler selber eine Mitte suchen zwischen dem Ver- und Enthüllen.
Es gibt bösere, aber kaum genauere Maler von Menschen. In Lucas Cranach d. J. Bildern begegnen sich die beiden Abbildungsstrategien: So wie sie sein möchten (oder sein sollen), und so wie sie sind. Schau dir den gediegenen Ausdruck des „siebenundvierzigjährigen Mannes“ (1557) an, und spüre die kaum unterdrückbare Brutalität: Ein Mensch des Übergangs. Er muss seine wulstigen Hände bändigen, indem er eine um den Pelz legt, die andere aufstemmt. Cranach malt, ganz im Gegensatz zum Gesicht, diese Hände in einem gewissen Schluderstil. Nicht, dass es auf sie nicht ankäme. Im Gegenteil, sie verraten eine Menge über den Menschen. Aber sie gehören offensichtlich nicht mehr ganz dem an, was aus dem Portraitierten geworden ist, von dem wir außer dem Alter und einem Wappen im Hintergrund nichts erfahren. Auch beim Totenbild von Martin Luther sind die Hände (genauer gesagt sieht man nur eine Hand) schon in einem anderen malerischen Code. Immer zeigt sich in diesen Händen Verlegenheit oder der Versuch einer Selbstbändigung. Die Hände werden dem Bürger ja in der Tat zum Problem. Einerseits verraten sie zuviel, andererseits sind sie nicht mehr im ständigen Einsatz. Zuviel und zuwenig zugleich. Erst im vollendeten Manierismus bekommen die Hände wieder ihre theatralische Rolle. Sollten wir argwöhnen, dass in den Händen bei Lucas Cranach d. J. Portraits von mächtigen Bürgern und verbürgerlichten Mächtigen bereits eine Ahnung von Entfremdung spukt? Ach was. Wenn wir Bilder anschauen und diese die Fähigkeit haben, zurück zu sehen, dann sagen sie eben immer auch etwas über uns. Und diese Fähigkeit des Zurücksehens der Bilder ist die Vollendung der Bilder-Reformation durch Lucas Cranach den Jüngeren.
Schauen, das schweifende Erfassen der wirklichen Dinge und ihrer Elemente, Sehen, das Erkennen von Beziehungen und Zusammenhängen. Den Körper anschauen, die Seele sehen. Ganz, ganz selten sind jene Augenblicke, in denen Schauen und Sehen eine Einheit der Wahrnehmung bilden. Öfters muss das eine sich gegen das andere behaupten. Groß ist die Kunst des Übergangs. Beim Versuch, uns Lucas Cranach als einen glücklichen (bürgerlichen) Menschen vorzustellen, in zwei Generationen-Varianten, in Kontinuität und im Bruch, gerieten wir an einige blinde Flecken in ihrem Werk. An Personen, die ihre Körper verlieren, und an Körper, die ihre Person verlieren. Das reformierte Bild ist nicht vor-geschrieben, sondern es arbeitet auf den Augenblick der Gnade hin. Es ist gefährliche Kunst.
Georg Seeßlen
In gekürzter Fassung zuerst erschienen in ZEIT Jahrgang 2015 / Ausgabe 17 / online 23. April 2015
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