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Manchmal wundert sich der Kritiker einfach nur, was für ein Medienecho manche Filme so auslösen, wie hoch sie gelobt werden, obwohl sie, bei genauerem Hinsehen und Hinhören (und Kenntnis der Filmhistorie) all den Lärm keineswegs verdienen. Prominentes Beispiel der letzten Jahre: „Oh Boy“, 2012 vom Großteil der Kritik über den Klee gelobt, auch vom Publikum geliebt.

Nun also viel Jubel um den neuen Spielfilm von Sebastian Schipper. Dazu gab’s schon Auszeichnungen: Silberner Bär für Kameramann Sturla Brandth Grøvlen und Preis der Gilde Deutscher Filmkunsttheater für Regisseur Schipper, obendrein gleich sieben Nominierungen für den Deutschen Filmpreis 2015, der am 19. Juni vergeben wird.

Die Story, die der Film erzählt, ist klein: Victoria (Laia Costa), Spanierin in Berlin, trifft auf eine Clique von vier Jungs (Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff). Vergnügen ist das Motto der Nacht. Doch weil das Kerl-Quartett dringend Schuld bei einem Gauner (André Hennicke) abtragen muss, kommt es zu einem Verbrechen – und damit zu keinem rosarot-schönen Morgen danach.

Viel beklatschter Clou des Films: er wurde in einem Atemzug gedreht, keine Schnitte sorgen für Rhythmus und Tempo, sondern allein die Agilität der Akteure und der Kamera. Das ist virtuos. Und das ist schick. Einen wirklichen Gewinn für den Zuschauer aber bringt das nicht. Denn: Gute Filme haben einen solchen Sog, dass Schnitte und damit Zeitsprünge für die Rezeption, die Faszination, überhaupt keine Rolle in dem Sinn spielen, dass jemand im Publikum denkt, „Ah, was für ein toller Schnitt“. Die Kunst des Kinos ist es ja gerade, durch Schnitt/ Montage das Auditorium im Sinne von Autor/ Regisseur zu manipulieren, mitzureißen, die Zeit vergessen zu lassen. Im Grunde erteilt Schipper also der Filmkunst eine Absage. Man kann nur hoffe, dass ihm nicht allzu viele folgen. Denn, ja, wie er’s macht, das ist effektvoll.

Mehr als zwei Stunden dauert die Raserei durch die Nacht und wird nie langweilig. Es ist zweifellos großartig, wie die digitalen Möglichkeiten es erlauben, mit nur einer Plansequenz die gesamte Geschichte zu erzählen. Aber das ist gar nicht das Entscheidende. Das ist formal neckisch und lässt einen kurz staunen. Das Wesentliche liegt in der Geschichte (und den gezeigten Charakteren): Schipper und Team gelingt es nämlich, ganz unaufgeregt, die Generation der Hilflosen zu porträtieren. Sämtliche Protagonisten gehören zu jenen, deren Zukunft nicht mal mehr vage vorauszusehen ist, weshalb eine grundsätzliche Unsicherheit den Alltag prägt. Die Lichtgestaltung, die oft zufällig und den Umständen entsprechend anmutet (was sie garantiert nicht ist, sondern überaus ausgeklügelt) und die Dialoge, scheinbar von Improvisationen geprägt, und darum „authentisch“ anmutend, vermitteln einem als Kinobesucher den Eindruck, realem Geschehen beizuwohnen. Die Intensität der Akteure (Laia Costa und Frederick Lau allen voran) sorgt für den notwendigen emotionalen Spannungsbogen. Man verlässt das Kino tatsächlich atemlos.

Und, klar: Der Ruf Berlins als d i e Metropole der so genannten westlichen Welt wird aufs Schönste bekräftigt. Ganz nebenbei dürfte der Film prima als Werbung funktionieren, jedenfalls bei denen, die Berlin als Party-Hochburg genießen möchten. Wer in Berlin lebt und arbeitet, entdeckt, wenn nicht mehr jung und hipp, eine fremde Welt – und ist möglicherweise ein wenig beunruhigt, wie fremd einem das, was man zu kennen glaubt, sein kann.

Peter Claus

Bilder: Senator

Victoria, von Sebastian Schipper (Deutschland 2015)