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Sinnkrisen, Identitätssuche, Freundschaft, Liebe, Verwandtschaft – Margarethe von Trotta bleibt ihrem Themenkreis auch mit ihrem neuen Spielfilm treu. Dieses Mal allerdings erreicht sie eine besondere Intensität. Was sicherlich damit zusammenhängt, dass sie eigene Erfahrungen reflektiert. Sie selbst hat erst Jahre nach dem Tod ihrer Mutter erfahren, dass sie eine Schwester hat.

Freilich gilt nach wie vor: Lebensnähe allein ist kein Garant für Kunst. Das weiß Margarethe von Trotta natürlich und hat eine packende Story erfunden. Die wird, was wesentlich ist, von einem exzellenten Schauspieler-Ensemble mit Verve getragen wird.

Aus dem Drehbuch hätte sich wohl auch gut ein harter Thriller machen lassen. Aber nichts da mit Genrespielen. Wieder hält sich die Autorin und Regisseurin an das Leben: mal geht’s schwer zu, dann wieder ganz leicht, gar komisch, grad dann, wenn grad heftiges Ungemach angesagt ist. Im Zentrum steht eine junge Frau (Katja Riemann). Sie wird auf eine andere Frau (Barbara Sukowa) aufmerksam, die ihrer toten Mutter verblüffend ähnlich sieht. Sind die zwei, beide welt_320Sängerinnen, wenn auch in verschiedenen Metiers, Schwestern? Mit der Antwort auf diese Frage, ist die Erzählung längst nicht an ihrem Ende angelangt. Verunsicherung greift um sich. Sämtliche Figuren scheinen ihren Halt zu verlieren. Ihre bisher als so sicher angenommenen Welten geraten ins Wanken. Aber kann in derlei Verunsicherung nicht eine Chance liegen, die Chance, sich selbst noch einmal neu zu erfinden?

Die Spannung ist groß, auch wenn manche Wendung der Erzählung ein wenig konstruiert anmutet. Eine Brieffund hier, ein Foto da: von derlei Zufällen hätte es etwas weniger sein dürfen. Doch das fällt letztlich kaum ins Gewicht. Denn entscheidend ist der Mut Margarethe von Trottas, sich moralischen Fragen zu stellen: Was heißt es, sich „anständig“ zu verhalten? Hat wirklich jeder das Recht auf seine Lebenslüge, sogar dann, wenn er anderen damit eine schwere Last aufbürdet? Wo sind die Grenzen der so genannten Selbstverwirklichung? Wann heißt es, sich in Demut zu üben?

Einfache Antworten auf all die Fragen werden nicht offeriert. Vielfach kommt es allenfalls zu Andeutungen. Wie schon mit dem Titel des Films, „Die abhandene Welt“. Das ist eine Anspielung auf Friedrich Rückerts und Gustav Mahlers Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Dessen dritte Strophe lautet: „Ich bin gestorben dem Weltgetümmel,/ Und ruh’ in einem stillen Gebiet!/ Ich leb’ allein in meinem Himmel,/ In meinem Lieben, in meinem Lied!“ Nicht nur auf die zwei Hauptfiguren wird damit gedeutet. Vielmehr verweist Margarethe von Trotta so unaufdringlich auf die in ihrem Kern skeptische Weltsicht: Da hat der Einzelnen kaum eine Chance, sich selbst wirklich zu begreifen, geschweige denn das Leben an sich, das, „was die Welt im Innersten zusammen hält“. Goethe lässt grüßen. Andere große Geister ebenfalls. Was aber dezent passiert. Wie überhaupt die Lässigkeit begeistert, mit der überwiegend erzählt wird. Nichts da von philosophischen Traktaten oder von dicken Fingerzeigen. Margarethe von Trotta und ihr Kameramann Axel Block zeigen die Protagonisten als Marionetten des Schicksals, ob der eigenen jeweils durchaus verständlichen Beschränktheit, die oft aus Angst vor Verletzung resultiert. Sie alle sind kaum in der Lage, die Umwelt, die sie bestimmt, wirklich klar wahrzunehmen. Wenn zum Beispiel die von Katja Riemann verkörperte Sophie durch die Straßen New Yorks geht, wirkt sie auf den ersten Blick ungemein selbstbewusst und selbstbestimmt. Doch die Bilder offenbaren durch die Perspektive der Kamera, die oft wie ein Ungeheuer zu lauern scheint, wie gehetzt Sophie durch das Labyrinth eilt. Sie wird getrieben von der Angst, einmal tatsächlich irgendwo anzukommen und sich wohlmöglich welt_320_2kritisch mit sich selbst auseinandersetzen zu müssen. „Verweile doch, Du bist so schön?“ Bloß nicht! – Szenenfolgen wie diese sind von einem Sog, dass man als Zuschauer wirklich den Atem anhält. Gelegentlich entlädt sich das in einem Humor, der etwas aufgesetzt anmutet, verkrampft. Was jedoch der Seelenlage der Figuren entspricht, also wohl von Margarethe von Trotta so gewollt wurde.

Die Schauspieler tragen den Film, ziehen das Publikum in den Bann. Selbst in kurzen Auftritten sind pralle Charaktere zu erleben. Katja Riemann und Barbara Sukowa führen das Ensemble an. Beide offenbaren (wieder, wie schon so oft) ihre Gabe, mit wenigen Mitteln viel zu zeigen, in kleinen mimischen Andeutungen das Wesen von Figuren zu offenbaren, selbst banalen Dialogzeilen Tiefe zu schenken. Neben ihnen hat Matthias Habich die dankbarste Rolle, erweist sich den Zweien trotz weniger Auftritten als ebenbürtig. Besondere Akzente dürfen Karin Dor und Gunnar Möller mit feinen Gastrollen setzen. Kinobesucher, denen Dor und Möller als Stars des deutschen Kinos von vor einem halben Jahrhundert und früher ein Begriff sind, dürften sich heftig anrühren lassen. Es darf geschneuzt werden.

Ist Margarethe von Trotta der ganz große Wurf gelungen? Das leider nicht. Man verlässt das Kino doch ein wenig unbefriedigt. Es fehlt an Futter fürs Herz. Zu denken gibt es viel, denn, wunderbar(!), es wird nicht jedes Geheimnis der Handelnden aufgedeckt. Da hat man als Betrachter viel Stoff für eigene Assoziationen. Was vom Finale noch einmal angeheizt wird, auch, wenn das Ende des Films ein wenig unentschlossen anmutet. Was aber fehlt, dass ist emotionale Wucht. Was vermutlich an einer bitteren Erfahrung Margarethe von Trottas liegt: Mit „Heller Wahn“, auch dies eine Geschichte zweier Frauen, wagte sie sich tief in abgründige Gefühle. Dafür wurde sie nach der Aufführung des Dramas während der Berliner Filmfestspiele 1983 in einer Art und Weise von der deutschen Kritik beschimpft, dass man sich für die Kollegen noch heute schämen muss. Margarethe von Trotta wurde regelrecht gelyncht. Da wurde ihr wohl eine große Angst vor Kitsch eingeprügelt. Sie hat sich den Mut bewahrt, Fragen zur Moral zu stellen, leider nicht den, enorme Gefühlsaufwallungen zu inszenieren. Drum fehlt nun das gewisse Etwas, das diesen schönen, sehr sehenswerten Film zu einem ganz großen gemacht hätte.

Peter Claus

Die abhandene Welt, von Margarethe von Trotta (Deutschland 2015)

Bilder: Concorde Film