finger 680

 

Sind wir noch echt oder haben wir uns schon aufgelöst? Im virtuellen Raum, im Netz, das immer beides ist: neue Sicherheit und Verunsicherung, Auffang- und Spinnennetz, Behüten und Verschlingen. Und was ist jetzt echt? Gibt es das überhaupt noch, und wenn ja, wie lange? Und gibt es den Fake nicht schon seit langem? Ist nicht jeder Film ein Fake? Die Behauptung einer Realität mit den Mitteln der Kunst? Sehen wir auf irgendeinem Foto noch die Realität oder das Ergebnis von Photoshop?

Vor ein paar Jahren war das ein Skandal. Etwa, als der «Blick» 1997 das Blutbad von Luxor noch blutiger machte. Heute fänden wir jedes «echte» Foto schlecht. Snapseed spiegelt die Gefühle, die wir angesichts unsere Fotosujets subjektiv empfinden weit besser als ein langweiliges Objektiv. Und ist das schlimm? Sind wir deswegen weniger begeistert, betroffen oder angeekelt? Sind unsere Emotionen steriler geworden?

Es geht in der Welt der visuellen Virtualität nicht um Worte. Es geht um Gesten.

Ikonen entstehen nie durch ihre Authentizität, sondern durch Inszenierung, durch Symbolik, das war bei Königen und bei alten Hollywoodstars und ist heute sowieso der Fall. Auch ein Paparazzi-Shot ist eine Art der Inszenierung, eine, die noch immer behauptet, der Authentizität einer Person am ehesten auf der Spur zu sein. Aber auch diese Bilder sind bearbeitet. Sie zeigen die schlechten Seiten der Stars. Die bösen, hässlichen Seiten. Die übertrieben herausgestrichenen Makel. Provoziertes Fehlverhalten.

Um Worte geht es dabei selten, Worte und Texte verlieren an Wert in der Welt der visuellen Virtualität, sondern um Gesten. Und nun also Varoufakis, mit seiner Geste der frivolen Überlegenheit, die mutmasslich herbeiinszeniert wurde und alle zu täuschen vermochte, bloss Varoufakis selbst nicht. Nur glaubte ihm das keiner. Denn Politikern zu trauen, haben wir verlernt. Zu viele haben in den letzten Jahren Dissertationen plagiiert oder gar nicht erst selbst geschrieben oder Gelder veruntreut. Ein Stinkefinger ist dagegen allerdings nicht einmal Lappalie. Aber ein Symbol.

Der Finger ist jetzt also kein Fake, sondern Fakt. Fuck!

Fachleute sprachen Varoufakis deshalb sofort seine Glaubwürdigkeit ab. Doch Jan Böhmermann sagt nun im tollsten deutschen Pressestunt seit den gefälschten Hitlertagebüchern, dass Varoufakis glaubwürdig ist. Dass er Recht hat. Dass man ihm trauen kann. Wenn man denn Böhmermann glauben könnte, dass sein Fake ein echter Fake ist. Wir wollten es jedenfalls alle ein paar Stunden lang euphorisch glauben. Weil Glauben heute so anpassungsfähig ist wie eine Foto-App. Das ZDF behauptet nun, der Fake sei keiner, sondern «Satire». Der Finger also ein Fakt. Fuck!

Aber auch wenn Böhmermann nicht hinter Varoufakis gestrecktem Finger steckt, hat er ein subersives Meisterwerk vollbracht: Denn seit seiner Botschaft denken wir nicht mehr über ein Symbol nach, sondern über Fragen der Wahrheit, der Integrität und ihrer medialen Vermittlung und Verzerrung. Und manchmal braucht es den Umweg der Kunst, um diese hervorzuholen.

Simone Meier

Quelle: watson

Bild: screenshot ZDF neo