Pilgerstätten einer neuen Lust
Auf den Fährten eines neudeutschen Massen-Phänomens
Die Vorlust auf Grün
Der Bus war verdächtig. Der auf einem einsamen Parkplatz an der Landstraße abgestellte Reisebus war der Vorbote dessen, was uns auf den „Oirlicher Schneeglöckchen-Tagen“ erwartete. Massen. Menschenmassen, die vorzugsweise automobil angereist waren, um in einem kleinen Privatgarten die ersten blühenden Blumen der Saison zu bewundern, in Fußgänger-Kolonnen über weite Wirtschaftswege zu stapfen und sich über das Gelände einer rund um ein Landcafé improvisierten Gartenmesse zu schieben. Schauplatz: Ein idyllisches Kaff am tiefen Niederrhein, die Großstadt Düsseldorf ist rund 50 Kilometer entfernt.
Auf ihrem Weg zum Gartenglück haben die Natur-Liebhaber unübersehbare Spuren hinterlassen. Die Seitenstreifen der Landstraße sind kilometerweit zugeparkt, in Oirlich selbst stehen junge Männer in gelben Warnwesten, die die übrig gebliebenen Autofahrer auf eine zum Sonderparkplatz deklarierte Wiese dirigieren. Es ist Samstagnachmittag, die Sonne hat die grauen Regenwolken in die Flucht geschlagen und es gibt in diesen Stunden offenbar nur ein Ausflugsziel: Oirlich und seine Schneeglöckchen. Das halbe Ruhrgebiet scheint auf den Beinen zu sein und lässt sich auch nicht abhalten durch verheerende Verkehrsnachrichten, die nervtötend oft Staus und Wartezeiten von mehr als einer Stunde auf den Autobahnen im Sektor prophezeien. Die Vorlust auf Grün ist stärker.
Die Natur hält unendlichen Trost bereit
In Oirlich treffen sich keine Menschen, für die Garten gleichbedeutend mit Rasen und Grillen ist. Hier sind viele Hobby-Botaniker unterwegs, die mit lateinischen Wörtern selbst für ausgefallene Spezies nicht geizen. Ein älteres Ehepaar an einem Verkaufsstand hat seine bitteren Erfahrungen gemacht: „Leukojum vernum“ – vulgo: Märzenbecher, der Autor – „habe ich schon ein paar Mal gepflanzt und kein Mal sind sie im nächsten Jahr wieder gekommen.“ Sagt die Frau anklagend zum Aussteller und ihr Mann nickt zustimmend. Von der Lust, es auf ein Neues zu versuchen, kann sie der alte Frust offenbar nicht abhalten. Bei einer späteren Begegnung haben sie Plastiktüten in den Händen und daraus lugen, neben – ein paar Winterlingen – eben auch neue Märzenbecher. Mit diesem Trage-Accessoire sind die beiden nicht allein. Die Mehrzahl – so will es scheinen – der Besucher, will außer dem sinnlichen Erlebnis, die ersten Zeugnisse einer erwachenden Natur zu bewundern, selbst Beute machen. Und kauft ein. Beileibe nicht nur Galanthus, von denen im Garten der Schneeglöckchen-Organisatorin Marlu Waldorf allein 400 Varietäten stehen. Die Vermarkter stellen das Gartenjahr in all seinen Verlockungen aus. Im Angebot sind unzählige Sommerstauden. Schwerlilien, Taglilien, Päonien, auch wenn von denen außer viel Mulch noch nichts zu sehen ist. Macht nichts. Gekauft wird trotzdem. Dabei werden hier keine Pflanzen zum Schnäppchenpreis angeboten. Über zwei Dutzend Züchter und Spezialgärtner sind an diesem Wochenende nach Oirlich gekommen. Teils aus England, aus Belgien und den nahen Niederlanden. Teilweise bizarr blühende Helleborus sind im Angebot. Christrosen, die außer dem Namen nichts gemein haben mit jener Massenware, wie sie in Supermärkten und bei Discountern zur Weihnachtszeit für ein paar Euro verramscht werden. Hier lösen ihre Preise zuweilen Schnappatmung aus.
Verwandte dieser Helleborus sind in verführerischem Rotfarben oder intensivem Gelb auch in freier Natur einen Kilometer entfernt im Waldorfschen Garten zu bewundern. Der Garten und das Haus sind nicht sehr groß, aber in aparter Hanglage einer Endmoräne, was besonders am platten Niederrhein als großartige Abwechslung wahrgenommen wird. An diesem Tag ist der Garten besonders klein, weil sich wahre Menschenmengen über schmale Wege und Stege bewegen. Und gaffen und fotografieren, vorzugsweise die in kleinen Pulks versammelten Schneeglöckchen. Oder sich selbst. Mittendrin in dem Gewusel: ein Fernsehteam des regionalen Fernsehsenders. Der TV-Gartendoktor der „Lokalzeit Düsseldorf“ doziert mit schnarrender Stimme, derweil geht die Kamera in Bodennähe und rückt die weißen Blüten und spitzen grünen Blättchen wirkungsvoll in Szene. Mit tödlicher Gewissheit wird in der nächsten „Gartenzeit“ über Oirlich und seine faszinierenden Pflanzen berichtet werden. Alle Jahre wieder. Und keinen scheint dieses Da Capo zu stören.
Vereint in der Hingabe an junges, frisches Grün
Wer gartensüchtig ist, der nimmt nicht Anstoß an der Wiederkehr des ewig Gleichen, sondern begrüßt das Vertraute als lang Vermisstes nur freudig. Die nächsten Garten-Termine in nächster Niederrhein-Nähe liegen bereits aus: Ende März drei Tage lang auf dem Gelände der Krefelder Galopprennbahn, eine Woche später zu Ostern beim Schlossfrühling auf Schloss Dyck. Hier hat sich ein Pflanzen-Tourismus ausgebreitet, den der Dormagener Agapanthus-Gärtner Martin Pflaum beispielhaft verkörpert: Der reist mit seiner Schmucklilien-Kollektion zu Ausstellungen quer durch Deutschland und sagt dann in einer Mischung aus Bescheidenheit und Größenwahn, er betreibe die Gärtnerei nur im Nebenerwerb. Was ein Indiz ist, dass das niederrheinische Oirlich in jedem Winkel der Republik sein könnte. An einem Wochenende winkt die Offene Gartenpforte hier, am nächsten dort. Die Lust auf Garten ist ein Massenphänomen, was auch der unheimliche Erfolg eines nichtssagenden Hochglanzmagazins wie „Gartenlust“ schlagend belegt.
Diese Art der Natur-Liebhaberei lässt mehrere Schlüsse zu: Eine Welt, die mehr denn je aus den Angeln geraten zu sein scheint, braucht zur Stabilisierung der labilen Seelenlage ihrer Individuen Gärten der Sicherheit. Und sei es auch nur einen „hortus conclusus“, der handtuchschmal ist und vom Nachbarn nur durch Zaun oder eine Taxushecke getrennt ist. Wobei ein Paradox Vergangenheit und Gegenwart durchzieht: Früher hatten die Menschen große Gärten und machten (sich) nichts draus, empfanden ihren Garten als Last und Plage. Heute leben sie in Reihenhäuser mit Grünanschluss und kultivieren mit Hingabe jeden Quadratzentimeter und werden am liebsten noch zu „Ackerhelden“, die vom Bauern gepachtete Parzellen abernten und sich einen Sommer-Herbst lang als Selbstversorger wie zu Zeiten der Subsistenzwirtschaft empfinden.
Zum anderen: Auch wenn bei solchen Gartentagen Väter mit kleinen Kindern im Arm unterwegs waren, es dominierten Ehepaare im Rentenalter, Gruppen von alten Freundinnen, Mütter mit ihren längst erwachsenen Töchtern. Eine überalterte, deutsche Gesellschaft war weitgehend unter sich. Vereint in der Hingabe an junges, frisches Grün, an lebendig blühende Pflanzen.
Eine erschöpfte, an sich selbst (ver)zweifelnde Zivilisation findet Trost an einer Natur, die unbeirrt von allen Zeitläuften an sich selbst festhält und immer neue Schönheit hervorbringt. Im Garten leben heimische wie eingewanderte Pflanzen in (scheinbar) bester Harmonie. Wer hält sich schon vor Augen, dass die ursprüngliche Heimat des Schneeglöckchens Kleinasien und das Kaspische Meer ist? Moderne Krisen- wo nicht gar Kriegsregionen. Und auch der Winterling ist trotz des kernigen Namens kein Sprössling Germaniens. Sein angestammtes Verbreitungsgebiet ist Südfrankreich über Italien bis zum Balkan. Die domestizierte Garten-Ästhetik verbietet jeden Gedanken an Bio-Invasoren, die als lästige wie gefährliche Begleiterscheinung des Waren-Austauschs neuerdings nach Europa eingeschleppt worden sind. Stattdessen feiert der menschliche Perfektionswille einen Triumph nach dem anderen.
Letztlich wiederholt sich im Garten etwas, das Rachel Varnhagen vor nunmehr 200 Jahren sinngemäß so ausgedrückt hat: Wir altern unaufhörlich, aber die Natur hält unendlichen Trost bereit. Sie verjüngt sich stets aufs Neue. Ein Trost für eine Gesellschaft, die das Jungsein zur Maxime erhoben hat.
Michael André
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(CC-BY-SA 3.0) Dnalor_01
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