Die freie Presse, ein kompliziertes, manchmal ekliges und manchmal kreatives Durcheinander von ehrenwerten, nicht so ehrenwerten und ehrlosen Personen und Institutionen, ist drauf und dran, die Fähigkeit zu verlieren, Erzählungen der Welt zu erzeugen, mit denen eine demokratische, liberale und kapitalistische, oder auch eine postdemokratische, digitalkontrollierte und finanzkapitalistische Gesellschaft richtig‘ leben kann. Der Markt kann sich ‚Qualitätsjournalismus‘ bald nicht mehr leisten.
Was ist eigentlich die Aufgabe einer „freien Presse“? Schwer zu sagen. Jedenfalls nicht das, was wir im Heimat- und Sachkunde-Unterricht darüber gelernt haben, wenn wir da überhaupt irgendwas über irgendwas gelernt haben. Es hat wohl viel eher etwas damit zu tun, gegenüber einer unübersichtlichen, chaotischen, widersprüchlichen Welt „Erzählungen“ zu erzeugen.
Der ehrenwerte Journalist versucht eine Erzählung zu kreieren, die sich möglichst, nun ja, realistisch an die Partikel des Wirklichen hält. Er (oder natürlich sie) versucht möglichst viele Partikel des Wirklichen zusammen zu bringen, bevor er seine Erzählung anbietet, die er mit den Instrumenten der Aufklärung bearbeitet. Der ehrenwerte Journalist reflektiert aber auch die Grenzen seiner Erzählfähigkeiten und die Grenzen der Erzählbarkeit. Und der ehrenwerte Journalist steht sich selber und seiner Erzählung kritisch gegenüber und ist bereit, sie im Zweifelsfall zu revidieren.
Der nicht so ehrenwerte Journalist kreiert die Erzählung, die er schon mehr oder weniger fertig im Kopf hat, die Erzählung, die seiner Einstellung, seinem Milieu, seinem Wissensstand, seinen Interessen entspricht. Er wird im Zweifelsfall Partikel der Wirklichkeit ausblenden oder entsprechend interpretieren, um seiner eigenen Erzählung von der Welt nicht zu widersprechen. Der nicht so ehrenwerte Journalist will die Welt seiner Erzählung (oder der seiner Auftraggeber) unterordnen. Wenn dieser nicht so ehrenwerte Journalist doch ehrenwerter als ein gar nicht ehrenwerter Journalist sein will, dann erklärt er seinen Lesern und Leserinnen immerhin, wie die Erzählung aussieht, die er im Kopf hat, bevor er die Welt aktuell erzählbar machen will.
Der ehrlose Journalist dagegen kreiert die Erzählung, die von ihm gefragt und abgefragt wird. Von seinen Auftraggebern und von deren Kunden, den Zuschauern, Zuhörern und Lesern. Dem ehrlosen Journalisten sind die Partikel der Wirklichkeit nur Anlass und Material, marktgängige, interessengesteuerte Geschichten zu erzeugen. Er ist weder selbstkritisch wie der ehrenwerte Journalist noch konsistent wie der nicht so ehrenwerte Journalist, sondern opportunistisch und skrupellos. Ein Unrechtsbewusstsein hat er im Übrigen nicht, denn „die Leute wollen es ja so“.
Natürlich gibt es diese Unterscheidung in der Wirklichkeit einer freien Markt-Presse nicht so klar, wie sie in der Theorie scheinen mag. Je härter das Geschäft wird, desto grauer seine Zonen. Manchmal wird auch die gesamte Maschinerie von einem moralischen Selbsterschrecken erfasst (wieder, nur zum Beispiel, hat die gierige Presse im Fall der „Charlie Hebdo“-Attentate mit dem Leben von Geiseln und Zeugen gespielt, und wieder, wie hierzulande im Fall Gladbeck, weht ein Hauch der Zerknirschung durch die Presselandschaft – ein sehr schwacher Hauch, um genau zu sein) oder, umgekehrt, von einem Schub des vielleicht nicht wirklich bewussten, dafür um so selbstgerechteren Opportunismus. Es entsteht eine Mainstream-Erzählung, deren Sog sich nicht einmal mehr die ehrenwerten Journalisten vollkommen entziehen können. Klumpen der Mainstream-Erzählung sind so mächtig, dass selbst die Kritiker jede Abweichung von ihr mehr oder weniger umständlich rechtfertigen müssen. Das auftrumpfende „Man wird doch noch mal sagen dürfen“ von rechts wird beantwortet von einem zaghaften „Wenn ich hier etwas einwende, heißt das natürlich nicht, dass …“ von liberallinks.
Beispiel Ukraine-Berichterstattung
Die Ukraine-Berichterstattung der freien deutschen Presse war mehrheitlich voreingenommen, genormt, propagandistisch infiziert und am Ende politisch gefährlich. Das heißt aber nicht, das eben muss ich jetzt sagen, dass die Erzählung der Gegenseite weniger voreingenommen, genormt, propagandistisch infiziert und am Ende politisch gefährlich wäre.
Zweifellos hat ein solcher Sog den deutschen Journalismus bezüglich der Ukraine-Krise erfasst, in der Produktion einer Erzählung, die „uns“ passt, und mehr noch, die ein entsprechendes „Wir“ erst erzeugt. Mit einer denkwürdig militanten Nebenerscheinung, nämlich dem radikalen Ausschluss aller Kritik und Selbstkritik, der Denunziation aller Dissidenz. Da wird dann jede Kritik an einer Erzählung umgedeutet in eine „feindliche“ Gegenerzählung. Eines der dümmsten, gleichwohl bis in die „seriöse“ Presse verbreiteten Schnappwörter war dann „Putinversteher“. Ja, sollte man etwa darauf verzichten, die Protagonisten einer Erzählung zu verstehen, so weit dies möglich ist, nämlich einerseits als machtpolitische Spieler, Verfolger von Interessen, Taktierer und Strategen, und andererseits als mehr oder weniger fiktionale Gestalten eines Medien-Imaginariums?
Gegenschnitt: „Lügenpresse!“ Die furchtbare Pegida-Bewegungsversammlung von Nazis, die jetzt schon wissen, dass sie nachher keine gewesen sein werden, hält dieses Schild nicht umsonst hoch, auch das in direkter Übernahme des Neonazi-Rituals: „Die Presse lügt. Die Presse lügt“ skandieren sie, denn sie selber wollen Erzählung werden und nicht erzählt werden.
Jede Art von fundamentalistischer, vor-aufklärerischer und antidemokratischer Selbstinszenierung beginnt mit dem großen Bruch, mit der dogmatischen Grund-Differenz: Ab hier gibt es zwei Wahrheiten, zwei Wirklichkeiten, die eine, die allgemeine (liberale und „linke“, die ungläubige und ketzerische), die andere, die wahre, die an Logik und Empathie nicht gebundene privilegierte und eschatologische Wahrheit einer Religion bzw. eines religiös modellierten, dogmatischen, exkludierenden Codes. Es ist das große Konstrukt: WIR und DIE ANDEREN.
Insofern bedeutet das „Lügenpresse“ der Pegida ganz und gar nicht, dass man den Medien als Nachrichtenübermittlung oder Erzählmaschine nicht traute. Man ist da, ganz im Gegenteil, nachgerade presse-süchtig. Wenn ein als Lügenschleuder durchaus bekanntes Blatt eine Lügengeschichte über das Verbot von „Weihnachtsmärkten“ durch üble Allianzen von Islamisten und „Liberalen“ druckt, egal ob das das Werk eines karrieresüchtigen Praktikanten oder einer Koksnase der alten Garde des ehrlosen Journalismus ist, dann wird dies sofort und umstandslos „geglaubt“. Und glauben, ja sich berauschen kann man am besten an den Bildern, die die „Lügenpresse“ von der eigenen Präsenz macht. „Lügenpresse“ ist also kein kritischer Einwurf, sondern es beschreibt den Trennungsstrich zwischen einer „falschen“ Weltsicht der Allgemeinheit und der „richtigen“ Weltsicht der Privilegierten im Innenraum der a-logischen und un-empathischen „Wahrheit“. Es erklärt den Bruch mit der demokratischen, liberalen und humanistischen Erzählungspluralität.
Hilfloser Journalismus
Das „Wir sind das Volk“ ist dann das notwendige Pendant zu „Lügenpresse“, oder umgekehrt. Es entsteht eine Gegen-Erzählung aus der nationalistischen, rassistischen und fundamentalistisch-religiösen Sicht. Politiker, die mit dieser Bewegung oder ihren Mitläufern „reden wollen“, missverstehen das schon ganz richtig. Sie begreifen, dass „das Volk“ (eine Fiktion, die sich bei Bedarf verwirklichen lässt) in Deutschland immer weit rechts steht, und sich durch das kategorische „Lügenpresse“ schlicht dem demokratischen Diskurs entzogen hat. Weil es sich aber auch um „Wähler“ handelt, muss man das Volk eben (mithilfe einer zum gleichen Gestus bereiten „Lügenpresse“) irgendwie da rechts wieder „abholen“. Die bevorstehende Spaltung von Pegida vollzieht sich genau an diesem Punkt, zwischen den „Gesprächsbereiten“, die vielleicht schon wieder in die Mainstream-Erzählung zurück fließen (diese freilich selber weiter nach rechts treiben), und jenen, die das „Lügenpresse“-Schild nicht anders verstehen als konsequenten, radikalen und im Kern „religiösen“ Bruch mit der allgemeinen politischen Kultur, mit dem Diskurs, der Debatte, der demokratischen Vielstimmigkeit überhaupt.
Was hat das eine mit dem anderen zu tun, abgesehen davon, dass sich eine freie Presse, die sich an allen Ecken und Enden in der Krise wähnt, gern einmal ex negativo die zweifelhaft gewordene Bedeutung bestätigen lässt? Und dass es der Kritik immer das Wasser abgräbt, wenn sie scheinbar Beifall von der falschen Seite bekommt. Muss die Kritik, die beharrlich der Presse, auch jenseits ihres Segments der Ehrlosigkeit, das Lügen vorhält, sie nun nicht in Schutz nehmen vor den partialfaschistischen „Lügenpresse“-Anwürfen, die eine Straße weiter, eine Rechtsbewegung weiter in manifeste Gewalt gegen die Presse und ihre Vertreter umschlägt?
Es ist, wieder mal, schwierig. Die freie Presse, ein kompliziertes, manchmal ekliges und manchmal kreatives Durcheinander von ehrenwerten, nicht so ehrenwerten und ehrlosen Personen und Institutionen, ist drauf und dran, die Fähigkeit zu verlieren, Erzählungen der Welt zu erzeugen, mit denen eine demokratische, liberale und kapitalistische, oder auch eine postdemokratische, digitalkontrollierte und finanzkapitalistische Gesellschaft „richtig“ leben kann. Von einer Kraft in einem demokratischen System von Kontrolle, Freiheit und Balance ist sie zu einem Geburtshelfer dieses „Volks“ geworden, das sich von ihr nichts mehr erzählen lassen will, jedenfalls nichts, was es nicht hören will. Der Markt kann sich „Qualitätsjournalismus“ bald nicht mehr leisten, und der einzelne Berufsjournalist kann sich nicht mehr leisten, durchweg ehrenwert zu bleiben. Von einer demokratischen Instanz wird die „freie“ Presse schließlich zu einem populistischen Resonanzraum. Wir sehen großen, einstigen Leuchttürmen des mehr oder weniger ehrenwerten Welt-Erzählens beim Lichterlöschen zu. Es wird immer schwieriger zu sagen, was es eigentlich ist, was es gegen die „Lügenpresse“-Bedrohung zu verteidigen gälte.
Die nicht erzählte oder schlecht erzählte Welt aber ist genau die, in der sich Fundamentalismus, Barbarei, Intoleranz und Terror am Ende ausbreiten. Die Faschisten jeder Couleur wissen, warum sie als erstes die freie Presse angreifen. Die Demokratie, oder was aus ihr geworden ist, weiß aber nicht, wie sie sie verteidigen könnte.
Georg Seeßlen, taz 13-02-2015
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2. März 2015 um 11:56 Uhr
Georg Seeßlen, taz 13-02-2014. ??? Es war ganz sicher 2015 🙂