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„Hello, who are you?“

Die Medienkunst-Pionierin Lynn Hershman Leeson zeigt uns im ZKM, dass die Zukunft immer schon Gegenwart ist

Ein tragischer Unfall? Die Nase, den markantesten Teil des Gesichts, für immer verloren? Kein Problem: Bioprint-Technologien zaubern das gewünschte Modell aus dem 3D-Drucker. Ein Beispiel einer aus Biomaterial rekonstruierten Nase schimmert wie die Kronjuwelen im Spotlight. „The Infinity Engine“, die Unendlichkeitsmaschine, heißt eines der neuesten Werke der amerikanischen Medienkünstlerin Lynn Hershman Leeson. Zu der begehbaren Installation gehören außerdem genmanipulierte, phosphoreszierende Fische, die es in den USA in jeder Tierhandlung zu kaufen gibt. Projektionen erzeugen im Besucher das Gefühl, sich in den Gängen eines sterilen Labors zu befinden. Über 1.000 Fotos von genmanipulierten Lebewesen, Pflanzen und Nahrungsmitteln sind bis unter die Decke tapeziert. Wer da wieder raus ist, fragt sich, ob das die Zukunft war. Aber nein, es ist die Gegenwart.

„The Infinity Engine“ ist das Herzstück der weltweit ersten Retrospektive von Lynn Hershman Leeson im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe. Sie packt uns an einer wunden Stelle. Wir kennen sie, die Problematik der Gentechnologie, spätestens seit 1996, als Dolly, das geklonte Schaf, die Medienbühne betreten hat. Aber das ist schon lange her. Lynn Hershman Leeson hat es nicht vergessen. Auf die Frage, was nach dem Hype der Social Media und dem Ausverkauf unserer Daten komme, nennt sie die Gentechnologie. Diese Dinge würden wirklich unser Leben verändern.

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Lynn Hershman Leeson, Still aus der Installation Room of One’s Own (1995, Digitaldruck © Lynn Hershman Leeson)

Die amerikanische Künstlerin reagiert seit fünfzig Jahren wie ein Seismograph auf die Abgründe der technisierten Gesellschaft, aber kaum jemand wollte das sehen oder hören. Eine Frau, noch dazu eine Feministin, die sich mit Neuen Technologien befasst! Dabei sind alle ihre Werke durchdrungen von einer existenziellen Energie, die im Hintergrund immer einen verletzlichen Menschen erahnen lässt. Ihr Fazit: „Ich versuche in der Gegenwart zu leben, weil die meisten Leute in der Vergangenheit leben. Wenn du in der Gegenwart lebst, denken die Leute, du lebst in der Zukunft, weil sie nicht wissen, was passiert in ihrer Zeit“,

Lynn Hershman Lesson, 73, ist die wohl einflussreichste Pionierin der Medienkunst, außerdem Filmemacherin, Professorin an unterschiedlichen amerikanischen Universitäten, preisgekrönt in allen Disziplinen, sie lebt in San Francisco und New York. In ihren interaktiven Arbeiten verwendete sie erstmals Laserdisc, Touchscreen, später dann Rechner oder das Internet. Ganz in der Tradition Mary Shelleys, die 1818 den Longseller „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ publizierte, schuf Hershman Leeson Cyborgs, die in der Lage sind, mit Menschen in Kommunikation zu treten. „Hello, who are you?“, begrüßt uns Agent Ruby jenseits der Monitorscheibe.

 

„Ich versuche in der Gegenwart zu leben,

weil die meisten Leute in der Vergangenheit leben.

Wenn du in der Gegenwart lebst, denken die Leute,

du lebst in der Zukunft,

weil sie nicht wissen, was in ihrer Zeit passiert.“

 

Die neuen Technologien hätten keine Geschichte gehabt, begründet sie ihre außergewöhnliche Materialwahl. In der Kunstwelt stehe man immer im Wettbewerb mit alten Dingen. Kurze, aber klare Aussage. Selbst Peter Weibel, selbst Medienkünstler und Theoretiker, Chef des ZKM, wirft sich ihr verbal zu Füßen: „Ich verdanke dir wichtige Impulse meiner eigenen Karriere“, bekennt er. Beide sitzen während des Interviews in großer Eintracht auf einem Sofa, als gehörten sie zum Inventar der Ausstellung.

Lynn Hershman Leeson trägt noch immer die dunklen Locken, die in den 1970er-Jahren zu ihrem Markenzeichen wurden. Das Haar verschattet mitunter ihr Gesicht, wie in den vielen Selbstporträts, die in der Ausstellung zu sehen sind. Etwa auf einer Schwarzweiß-Fotografie in Form eines riesigen i-Phones. Das Glas ist zersprungen, unter den Rissen ist ihr Antlitz zu erkennen.

Ein anderes Gesicht, das wie die Wiederkehr des ewig Gleichen aus den dunklen Kammern der Ausstellung auftaucht, gehört dem Filmstar Tilda Swinton. Sie ist die bevorzugte Darstellerin Hershman Leesons. Gleich in vierfacher Ausführung spielte sie 2002 in dem Kinofilm „Technolust“, einer Satire über eine Wissenschaftlerin und ihre drei geklonten Alter Egos mit den Namen „Ruby“, „Olive“ und „Marine“. Ihr Hauptproblem ist es, an ihr Hauptnahrungsmittel zu kommen: männliches Sperma. Der feministische Unterton ist unüberhörbar. Auch auf diesem Gebiet hat Lynn Hershman Leeson Bahnbrechendes geleistet. 2010 setzte sie mit dem Dokumentarfilm „Woman Art Revolution“ der feministischen Kunst der vergangenen vierzig Jahre ein Denkmal.

Die Bandbreite ihres ein halbes Jahrhundert umspannenden Werks sprengt bis heute den herrschenden Kunstbegriff. „Für mich ist es Kunst, aber ich benutze immer hybride Formen“, sagt sie mit Blick auf ihr Genlabor, das sie mit Wissenschaftlern zusammen erarbeitet hat, „nichts, was ich tue, ist gradlinig.“

Die Retrospektive selbst funktioniert wie eine Zeitmaschine. Aus dem Schwarz der Wände leuchten die eleganten Foto-Montagen, die „Phantom Limbs“, aus den 1960er-Jahren auf. Models, deren Extremitäten durch elektronische Apparate ersetzt sind. Wie in einem verspiegelten Labyrinth tauchen parallel die Ikonen ihres Werks auf. Eine rot-orangenes Outfit etwa erinnert an Roberta Breitmore, eine Kunstfigur, die Hershman Leeson mit Pass und Girokonto ausstattete und über fünf Jahre in deren Haut schlüpfte. Roberta sei eine virtuelle Person gewesen, eine Vorläuferin ihrer virtuellen Figuren im Internet, sagt sie und weist auf ihr Spiel mit Identitäten hin. „Haben sie die Puppen mit der Kamera im Auge gesehen: Eine ist wie Roberta gekleidet, trägt eine Brille wie sie. – She is always behind me.“

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Lynn Hershman Leeson, Reach aus der Serie Phantom Limb (1987 Foto ©: Lynn Hershman Leeson)

Fotos, Einladungskarten und Presseartikel erzählen in Karlsruhe von ihren zahleichen Performances und Projekten der 1960er- und 1970er-Jahre. Rekonstruiert ist die Dinner-Performance für den Kunsthistoriker und Duchamp-Sammler Arturo Schwarz, bei der in den Weingläsern Goldfische schwammen und das Geschirr sich in surreale Skulpturen verwandelt hatte. „Einen Großteil meiner Arbeiten hatte ich schon vergessen“, bekennt Lynn Hershman Leeson völlig ungerührt. Peter Weibel diagnostiziert anhand ihres Werks ein „phobokratisches Zeitalter“, das geprägt sei vom Geschlechterkonflikt und dem Verlust über die Kontrolle der eigenen Daten, siehe NSA.

Kein Zweifel, mit dieser Ausstellung ist es dem Team des ZKM ist gelungen, einen technisch aufwendigen Gerätepark in eine einzigartige Bilderlandschaft zu verwandeln. Ein Eldorado für uns Voyeure, das uns jedoch immer wieder in die absolute Gegenwart katapultiert. Etwa mittels der netzwerkbasierten Installation „Present Tense“, die aktuelle Daten über den Grad der Wasserverschmutzung in Karlsruhe anzeigt und uns gleichzeitig mit Unterwasseraufnahmen von schwimmenden Kindern unterhält.

Carmela Thiele

erschienen am 13. / 14.12.2014 in taz am Wochenende

Movie Trailer: Teknolust [Independent Science Fiction Film by Lynn Hershman Leeson]

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AUSSTELLUNG

Lynn Hershman Leeson: Civic Radar

13.12. bis 29.3.2015

im ZKM, Karlsruhe

Der Katalog erscheint 2015