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Wer als Berliner gutes Theater sehen möchte, muss reiselustig sein. Ein wenig zumindest. Denn das kontinuierlich qualitativ überzeugendste Theater weit und breit wird in Potsdam am Hans Otto Theater offeriert.

Natürlich gibt es auch hier Ausrutscher, wie etwa im Sommer die zur Comedy vermurkste Freiluft-Version der Komödie „Ladies Night“. Wie überall gibt’s hier und da was zu meckern. Aber im Vergleich von Top und Flop bietet das Theater der Brandenburgischen Landeshauptstadt sehr viel mehr auf der Habenseite als Deutsches Theater, Schaubühne, Berliner Ensemble, Maxim Gorki Theater, HAU in der deutschen Hauptstadt zusammen.

Zu danken ist der Erfolg der klugen Strategie der Leitung, Theater erst einmal und vor allem für die Potsdamer zu machen und nicht, wie zu viele der vorherigen Intendanzen, permanent und starr Richtung Berlin zu gucken, zu versuchen, mit Star-Gastspielen, die keinen künstlerischen Gewinn bringen, die Leute aus Charlottenburg, Wilmersdorf oder Tiergarten anzulocken. Tobias Wellemeyer und sein Team, seit 2009 in Potsdam am Werk, punkten diesbezüglich mit Bescheidenheit. Und das mit einigen durchaus waghalsigen Unternehmungen, die nicht auf gedankenlosen Konsum ausgerichtet sind. Bravo!

Derzeit gilt es, gleich mehrere der Novitäten anzupreisen. Jüngste Offerte in der Reithalle: „Frühlings Erwachen (Live Fast – Die Young)“, Nuran David Calis’ 2007 herausgekommene Adaption des berühmten Adoleszenz-Stückes von Frank Wedekind. Regie geführt hat Andreas Rehschuh, der schon mehrfach in Potsdam inszeniert hat, „Ladies Night“ beispielsweise im Holzfäller-Stil, dafür „Der Widerspenstigen Zähmung“ mit wunderbar leichtfüßiger Phantasie. Clou seiner neuesten Arbeit: es spielen ausschließlich Studenten des 3. Studienjahres Schauspiel der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“.

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Frühlings Erwachen! – von links: Lilli Meinhardt (Wendla), Yannick Fischer (Melchior), Davide Brizzi (Moritz), Teresa Schergaut (Ilse), Filip Grujic (Hans), Christopher Reinhardt (Ernst) und Marie Luise Stahl (Martha); Foto HL Böhme

Rehschuh hat den Abend ganz auf sie abgestellt, lässt jede und jeden Können zeigen, die Talente zur Entfaltung kommen. Das ist rotzig und frech und mutet verblüffend authentisch an, und – der Kritiker, der den Stoff schon in -x Varianten in noch mehr Aufführungen gesehen und sich dabei schon oft arg gelangweilt hat, staunt – die Aufführung ist derart emotionsgeladen, dass einem Tränen in die Augen schießen. Die aber schwemmen den Gedankenreichtum nicht weg. Man geht aus dem Theater und diskutiert das Thema „Schwierigkeit des Erwachsenwerdens“ mit Vehemenz. Dazu freut man sich, einige junge Akteure gesehen zu haben, die das Zeug zu Schauspielern haben. Ein Name sein genannt: Teresa Schergaut. Ein einziger Klumpen Talent! Wie sie (in zwei Rollen) schier unzählige Nuancen zwischen Zicke, Mutter, Verzweifelter, Göre, Träumerin, Wuchtbrumme und Angstgetriebener auffächert, das lässt einen nur staunen – und ihr wünschen, dass sie gute Berater für ihre Zukunft hat!

Um die Schwierigkeit, erwachsen zu werden, geht es neben vielem anderen auch (in einem Geflecht von Themen) im Haupthaus in „Zorn“. Das Stück der Australierin Joanna Murray-Smith, das inzwischen nach Hamburg, wo die deutsche Erstaufführung war, auch in Düsseldorf herausgekommen ist, und sich dort ansieht wie ein müder TV-Krimi, erreicht in der klaren Inszenierung von Elias Perrig in Potsdam eine aufregende Intensität. Die feinnervige Auseinandersetzung mit Lebenslügen, Fragen der Moral, Selbstbetrug, in gesellschaftlicher wie ganz individueller Hinsicht, erreicht eine enorme Spannung, weil nicht auf Effekthascherei gesetzt wird. Die Schauspieler, allen voran Andrea Thelemann, müssen ganz langsam und leise die Tünche von den von ihnen verkörperten Figuren abtragen. Wie das geschieht, ist gänsehautträchtig. Denn da sitzt man plötzlich im Parkett und fängt an am eigenen Selbstbild zu kratzen. Mehr kann Theater wohl kaum provozieren!?

Sehr anregend ist daneben (wiederum in der Reithalle) „Das permanente Wanken und Schwanken von eigentlich allem“, eine Uraufführung. Autor John von Düffel hat sich dafür von seinen „Wassererzählungen“ anregen lassen, Tobias Wellemeyer selbst inszeniert. Das Faszinierende in diesem Fall: es passiert äußerlich so gut wie nichts. Zwei Monologe und ein Dialog sind kunstvoll ineinander verschachtelt. Immer agieren Menschen, die an Kreuzungen des Lebens angekommen sind, und die nun nicht wissen, welchen Weg sie einschlagen sollen. Da geht es dann auch um Verführbarkeit. Was im Dialog zweier Frauen besonders zugespitzt wird. Die eine will der anderen ihren Job abtreten. Dabei handelt es sich um ein dubios anmutendes Schauschwimmen in einem Swimmingpool. John von Düffel geht es aber nicht um die Frage, ist das anständig oder nicht. Er will offenbar vor allem zeigen, wie leicht es ist, Menschen zu etwas zu bewegen, das ihnen an sich gar nicht zu eigen ist, sie zu verführen. Deutlich wird dabei schließlich eine pointierte Reflexion dessen, was als „Sektenunwesen“ seit Jahren im öffentlichen Diskurs herumschwirrt. Auch hier: sehr präsente Akteure, die einen – in diesem Fall vor allem über die Sprache und das Sprechen – mit starkem Sog in das Geschehen ziehen.

Und obendrein: „La Cage aux Folles“. Grad war die „olle Kamelle“ in Berlin in der Bar jeder Vernunft arg brav und bieder und, leider, ja, auch das: staubig, aufgewärmt worden. Dort schien es einem, es ist nun langsam aber sicher an der Zeit, den vor Jahrzehnten ganz herrlich spitzen Beitrag zu Toleranz an sich und insbesondere in Bezug auf sexuelle Selbstverwirklichung ad acta zu legen. Kaum Wirkung über den puren Klamauk hinaus. In Berlin. In Potsdam nun ganz anders: Da schafft es die Aufführung gar – und ein größeres Kompliment ist im Jahr 2014 kaum möglich! –, dass in einer Sonntagnachmittagsvorstellung Zuschauer empört über „so etwas“ das Theater in der Pause verlassen. (Was freilich zeigt, wie wichtig das Stück denn doch noch heute oder heute wieder zu sein scheint, schließlich steigt die Intoleranz gegenüber Schwulen und Lesben hierzulande in den letzten Jahren ja mit beängstigender Rasanz wieder an… )

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La Cage – v.l.n.r.: Andres Esteban (Chantal), Bernd Geiling (Albin/Zaza), Daniel Meßmann (Phaedra); Foto: HL Böhme

In Potsdam, auf der großen Bühne, im Haupthaus, hat Regisseur Ulrich Wiggers Show und Zeitkritik bestens verbunden. Und er hat Schauspieler, die zu Entertainern reifen, die hinter allem Schick und Schischi und Spaß das Ernste offenbaren. Bernd Geiling, verlässlicher Charakterinterpret in Postdam, brilliert als Albin / Zaza mit schöner Männlichkeit, die alle Tunten-Klischees ad absurdum führt, überrumpelt einen geradezu mit Charme und Grandezza. Er spielt alle um sich herum an die Wand, selbst Musical-Profi Anthony Kirby. Auch der zeigt als Butler Jacob (alias Zofe Claudine) keineswegs nur Klamauk (wie so viele andere an anderen Theatern vor ihm in der Rolle), sondern legt Verletzlichkeiten frei und sorgt damit für Spannung. Doch Geiling ist der Star, der das nicht ausstellt. Nix da mit Ranschmeiße ans amüsierwillige Publikum. Er setzt als Hauptdarsteller viel mehr darauf, die Leute mit blitzendem Lächeln zu ködern, um ihnen dann das Elend des Traurigseins zu zeigen. Damit erreicht er eine emotionale Stärke, der man sich als Zuschauer nur zu gern ergibt. Und auch hier passiert, was in Potsdam erfreulicherweise in letzter Zeit oft passiert: Man geht am Ende nicht raus und hakt ab, sondern hakt gedanklich nach und diskutiert und streitet. – Kurzum also: Wer gutes Theater genießen möchte, fahre nach Potsdam!

Peter Claus