Voll krasse Überschrift, was? Nö, die ist nicht nur blöd, geschmacklos und pubertär, sondern auch im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie ineffizient. Sie, liebe Leserin und lieber Leser, haben den Artikel zwar bis hierher gelesen, entweder wegen der Überschrift oder trotz ihrer, aber bis ich erklärt habe, was es mit ihr eigentlich auf sich hat, ist die Wirkung auch schon wieder beim Teufel.
Also: „Tötet Angela Merkel“ ist nur meine allmonatliche Hommage an Christoph Schlingensief. Das muss man daher als Kunst verstehen, bzw. als Verbeugung vor ihr, wenn überhaupt. Zweitens: Ich habe gar keinen Hund. (Ich hatte mal einen; sie hieß Miss Smith, war herzallerliebst, tendierte aber zu lustvoller Kleptomanie.) Und nicht zuletzt: Ihr habt auch gar keine Warhols, jedenfalls keine echten, auf die ein Hund sowieso nicht pissen könnte, weil sie zu hoch hängen. Höchstens steht noch irgendwo ein Exemplar von der Bananen-Platte der Velvets herum. Da ginge es natürlich.
Entwarnung also. Wir reden hier nicht über Merkel und Warhol, Tod und Pisse, sondern über das dreifache Gesicht von „kapitalistischem Realismus“. Die Überschrift selber ist ein Beispiel für eine erste Variante. So wie der sozialistische Realismus ein Idealbild heroischer, kollektiver Anstrengung für eine mehr oder weniger strahlende Zukunft erzeugen sollte, um zur gleichen Zeit alle westliche Dekadenz und den arbeitenden Massen fremde Abstraktion zu meiden, so erzeugt der kapitalistische Realismus ein Trashbild individueller libertärer Obszönität für eine mehr oder weniger glamouröse Gegenwart bei gleichzeitiger Meidung aller ethischen und ästhetischen Begrenzungen. Kapitalistischer Realismus erzählt von der Freiheit, die man sich herausnehmen kann, wenn man in der Position dazu ist. Das hier ist meine Kolumne, und ich mach’ damit was ich will. Solange sie mir jemand abkauft. Und ich sage, in möglichst lärmiger Form die unangenehme Wahrheit: Dass es in diesem System vollkommen normal ist, dass ein Menschenleben weniger Wert ist als ein unbepisstes künstlerisches Anlageobjekt.
Würde ich meinen Hund allerdings tatsächlich dazu bringen können, einen Warhol anzupinkeln, wäre er selber Autor oder wenigstens Instrument eines zweiten kapitalistischen Realismus. Nämlich des Eingriffs in eine „Wertschöpfungskette“. Das Ruinieren durch Urinieren wäre selbst wieder Kunst, wenn auch eine vorerst wertmindernde statt wertsteigernde. Allerdings vermag man sich durchaus einen Kunstmarkt vorzustellen, der den „Pissed Warhol“ in den Rang eines Meta-Kunstwerks höbe. Es käme, vielleicht, auf den Hund an. Und wenn tatsächlich jemand, ich wage gar nicht daran zu denken, auf die Idee käme, Angela Merkel anzugreifen? Im Dienste der Kunst? Es fände sich gewiss jemand, der das Attentat zum Kunstwerk erhöbe, so wie man den Anschlag auf die Twin Towers als „größtes Kunstwerk“ gefeiert hat. Natürlich war das ein politischer und moralischer Skandal (wie er nun mal typisch ist für den kapitalistischen Realismus), aber zugleich offenbarte es den Kern dieser Kunst- und Lebenshaltung: dass ein Effekt bedeutender ist als Menschenleben.
Dass kapitalistischer Realismus inhuman ist, offenbart sich selbst in seiner dritten, der langweiligsten Variante, nämlich der Ästhetisierung und Dramatisierung des Einverstandenseins. Dieser kapitalistische Realismus will weder etwas „Realistisches“ über das System (Ideologie und Praxis des Neoliberalismus) aussagen, noch will er dessen Effekt- und Spektakelsucht für die eigenen Absichten nutzen. Er geht nur davon aus, dass Mitmachen besser als Draußenbleiben ist. Dieser kapitalistische Realismus übernimmt die drei großen Dogmen des Neoliberalismus (um sie gelegentlich bis an die Grenze zur Parodie zu steigern):
- Es gibt keine Alternative
- Wer verliert ist selber schuld
- Die Antwort auf eine Krise der Kapitalisierung ist noch mehr Kapitalisierung.
Diesen kapitalistischen Realismus gibt es in den begeisterten Formen (Kunst, die die Lebensräume der Superreichen dekoriert und sich darüber freut, welche tolle Freiheit sie dabei hat, zum Beispiel), mehrheitlich indes in fatalistischen, zynischen und nihilistischen Varianten. Und in diesem kapitalistischen Realismus vereinen sich auch wieder, wie zu ganz großen Zeiten der Kunst, die Ästhetik, der Glaube und die Macht.
Der kapitalistische Realismus wird zur Grundüberzeugung, zur Metaphysik und zur Ikonographie des Menschen unter dem Neoliberalismus. Er ist das Design des Lebens. Er erfasst die Nutznießer wie die Opfer in seinem „Da kann man nichts machen“ und „Nimm, was du kriegen kannst“.
Womit wir bei Gerhard Schröder wären. Er ist so etwas wie der „Johannes der Täufer“ von Neoliberalismus im Allgemeinen, des Merkelismus im Besonderen. Seine Politik des „Da kann man nichts machen (außer es selber machen, gründlicher und effektiver als die anderen)“ ist, wie nun mehr als deutlich wird, die andere Seite des „Nimm, was du kriegen kannst“. Reden wir nicht über Moral und Bewusstsein dieses Menschen, reden wir über den späten Gerhard Schröder als Gesamtkunstwerk des kapitalistischen Realismus. So vereint er in sich alle drei Varianten, wenn auch nicht gerade auf besonders kunstvolle Weise.
Sein Verhalten – und damit verbunden: die „Performance“ – weist auf ein offensichtlich noch nicht geklärtes Problem in der Entwicklung von Finanzkapitalismus und Postdemokratie hin, das, verborgen genug, schon in dem „Bimbes in Tüten“-Happening von Helmut Kohl anklang: Sollen die Vertreter des postdemokratischen Regierens (die Manager der Macht) lediglich Erfüllungsgehilfen oder doch am besten Mitglieder der neuen Oligarchen-Klasse sein, die die Welt unter sich aufteilt? Beziehungsweise: Wie viel Millionen muss ein Politiker oder Ex-Politiker bekommen, damit sich in ihm nicht der Widerspruch zwischen „armer“ Politiker und reicher Klasse ganz persönlich auftut (so wäre er ein Kandidat für „kapitalistischen Realismus“ der ersten Kategorie, als Kasper der Würdelosigkeit)? Das kapitalistisch-realistische Gesamtkunstwerk Gerhard Schröder jedenfalls zeigt auf, dass die Sehnsucht nach dem Dazugehören, das sich im kapitalistischen Realismus nun einmal in Geld ausdrückt stets größer ist als traditionell an Gesetz und Transparenz gebundenes Regierungshandeln. Nicht „Reich-Sein“ ist der Kern dieser Installation, sondern „Zu-den-Reichen-Gehören“. Ein bisschen wenigstens.
Kapitalistischer Realismus ist auch das Wesen unserer Mainstream-Medien. Deshalb betreiben sie, was die Ukraine anbelangt zum Beispiel, ein anektionistisches Phantasma, und was die sozialen Konflikte im Inneren anbelangt, eine radikal parteiische Projektion: Das Subjekt Mensch in diesem Kapitalismus ist nicht der arbeitende, sondern der konsumierende Mensch, nicht der kämpferische, sondern der funktionierende Mensch. Was interessiert mich das Tarifrecht, wenn ich zu spät zu meinem Meeting komme? Kapitalistischer Realismus als Street Art ist die großformatige Stilisierung endlich befreiter Selbstsucht. Daher betreibt der kapitalistische Realismus der Mainstream-Medien eine schrille Performance zugunsten der neuen Verhältnisse: die Gier nach neuen Märkten, einschließlich neuer, billiger Arbeitskräfte, die weiter helfen, die Arbeit im Wirtschaftsraum zu entwerten, und den Hass auf Gewerkschaften und ihren Widerstand gegen diese Entwertung. Der kapitalistische Realismus zeigt, kapitalistisch und realistisch genug, dass die Arbeit keine Chance gegen das Kapital hat. Seine Kunst nun liegt darin, dies in gefällige Bilder und Geschichten zu verwandeln. Oder in das Pathos der Selbstentwürdigung. Darin liegt der Triumph des kapitalistischen Realismus, dass er wirklich jeden zu erreichen imstande ist, vom Artflipper auf der Jagd nach einem Damian Hirst-Punkt bis zum ergriffenen Leser einer Bild-Zeitungsüberschrift. Vom Nachwuchs-Schnösel bis zum resignierten Ex-Linken. Vom Freak bis zum Hipster.
Wie jede Kunstrichtung, so ist auch der kapitalistische Realismus, die vollendete Einheit von Kunst, Politik und Alltag, durchaus endlich. Da gibt’s Alternativen. Die Verlierer müssen nur aufwachen. Die Kapitalisierung der Welt wie der Kunst ist nicht durch Schicksal sondern durch Propaganda vorgeformt. Etwas besseres als den ästhetischen und geistigen Tod finden wir allemal. Und dann muss man auch nicht mehr solche bescheuerten Überschriften wählen, um noch ein bisschen Aufmerksamkeit für die schlichte Vorstellung zu erhalten, dass mit dem kapitalistischen Realismus weder die Kunst noch die Geschichte zu Ende ist. Und Angela Merkel, bepisste Warhols, Gewaltphantasien und Hunde in nicht artgerechter Umgebung gehören ins Alptraum-Depot.
Georg Seeßlen
Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen in taz
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