BÜCHERBRIEF AN MARJA

Liebe Marja,

eigentlich sollte dieser Brief schon vor Wochen geschrieben sein, vor Monaten, wenn ichs mit der Wahrheit genau nehme: aber dann krieg ich angesichts dieser Monate einen Schreck über die lange Dauer des Liegengebliebenen, und bin lieber weniger wahr: Wochen sind auch schon ganz schön daneben, so daneben wie dieses eigentlich, mit dem der Brief beginnt: das ist nicht das Wahre: vielleicht ist das also gar kein Brief sondern die Ausrede, dass wieder mal keiner zustandekommt. Und überhaupt ließe sich, was ich dir schreiben wollte, viel besser im Reden erledigen, weil ich es für geschriebene Worte nicht mehr genau genug hinkriege: etwas, das ich gelesen habe, ist verschwunden, aus den Seiten abgehauen: erst war es da, und dann nicht mehr. Zumindest hab ichs nicht mehr gefunden, in dem Buch von Uwe Dick, in dem er sich über die Kleingeisterei lustig macht und über die zugeknöpften Haltungen und die Wortwörtlichkeit, die bei näherer Betrachtung auf was ganz anderes hinausläuft. Und zwischen den „Doppelkinnheads“ und den Leuten, die verschieden sind, „obwohl sie noch herumlaufen“, stand auch was über eine Arznei, nach der einer jammert, der gar keine Beschwerden hat: was soll er bloß nehmen, wenn er gesund ist: aber es stand eben besser da, knapper und komischer formuliert, in bräsigem Dialekt, glaub ich. Und ich finds nicht mehr. Im ganzen Buch nicht. Und weil Dick alphabetisch Begriffe in fettem Schwarz hervorgehoben hat, wie Herz und Hochverrat und Quantitäter, hab ichs auch so versucht: und unter Apotheke nachgeschlagen, unter Gesundheit und unter Rezept: nix zu machen.

Ich hab eine Freundin in Bologna, die geht ganz selbstverständlich davon aus, daß die Dinge im Haus hinter ihrem Rücken ständig ihre Plätze wechseln: und dann liegt die Vase unter dem Kissen auf der Couch und der Briefkastenschlüssel im Kühlschrank neben den Tomaten, die da gar nicht hingehören, und der Kuli ist sowieso immer weg, egal, wie häufig es ihn gab. Oder Martin, aber das hab ich dir bestimmt schon erzählt, so ewig, wie das her ist, als es noch Demos gab in Frankfurt, Studentenrevolten: und Martin war keiner, der da mitlief: aber gerade die geraten ja oft in Situationen, die ihre gar nicht sind. Also war er genau in dem Augenblick in der Schillerstraße, als eine Demo brutal aufgelöst wurde und die Bullen Jagd machten auf die rennende Meute, die in  alle Richtungen davonspritze. Und weil die Behelmten im Zweifelsfall nicht lange nachfragten, bevor sie mit dem Knüppel zuschlugen, hielt Martin es für ratsam, der Sache aus dem Weg zu gehen und in ein Café abzutauchen. Damals gabs da so ein vornehmes, Fürst oder Förster, vielleicht kam auch kein F vor: es war jedenfalls keins, in dem sich blicken ließ, wer auf Widerstand gagen den Staat setzte: nur ältere Damen dort, die nach Veilchenpastillen aussahen, und Männer mit Pelzkragen und manikürten Fingernägeln. Aber das ist noch nicht die Geschichte: ist ja auch noch nichts verschwunden. Erst eine Woche später, als Martin den Ort genauer in Augenschein nehmen wollte, in dem er Zuflucht gefunden hatte: vielleicht noch einen kleinen Mokka auf das geglückte Entkommen. Nur: das Café war weg. Die Schillerstraße rauf und runter, und er lief mehrmals: kein Café Förster oder Fürst oder eins ohne F. Als hätte er die Gefahr damals geträumt. Oder als sei er jetzt nachträglich in eine Erzählung von Borges geraten, wo die Dinge nur existieren, solange sie von vitalem Belang sind. Und ein kleiner Mokka zur Reminiszenz ist kein ausreichender Grund. Ich kannte das Café übrigens: es neigte tatsächlich dazu, aus dem Blickfeld zu fallen: es gab Tage, da tauchte es einfach nicht auf, wie sehr man auch nach ihm Ausschau hielt. Aber ein Text, der, nachdem man ihn gelesen hat, aus dem Buch verschwindet, ist etwas anderes als ein Café, das sich auflöst, wenn man falsch hinguckt. Oder ein Schraubenzieher, der nicht mehr da liegt, wo man ihn garantiert hingelegt hat.

Zum Glück findet man bei Uwe Dick jede Menge anderer „Stirnstößel“ und ein hübsches Schmankerl von einem „Lürika, dem wo a Tomatn ins Fensta leicht, und ea schaugts fiaran Sonnaaufgang O“. Und sind „Quarimben“ und „Zilunden“ nicht einfach wunderbare Worte? Ganz gleich, was sie heißen: unter „Prellwitztriller“ stellt sich ja auch jeder was anderes vor.

Dir einen herzlichen Gruß
Ingrid

PS

Liebe Marja,

schöner Mist: wenn mit den Dingen auch die Erinnerung verschwindet. Obwohl: da es ums Verschwinden geht, ist es letztlich nur konsequent. Und wir sind immer noch beim Thema. Martin hat geschrieben, das Café hieß tatsächlich Först, da war ich nah dran: aber nicht mit dem, was ich noch wußte von seiner brenzligen Lage. Ich spekulier jetzt mal nicht, warum ihm mein Gedächtnis einen glücklicheren Ausgang verpaßt hat, ich geb dir nur seine Zeilen weiter: „…und von wegen, glücklich entkommen: vor der tortentheke haben die rüssel auf mich eingeprügelt, und die reaktion der bedienerinnen hinter der theke und der besucher im café war so, als ob diese situation (und damit ich) überhaupt nicht existierte.“

Kannst mal sehn, was das Hirn im Laufe der Jahre alles unter den Tisch fallen läßt. Und da ich grad beim Richtigstellen bin: ich hab mir Uwe Dicks ‚Stirnstößel‘ ein weiteres Mal vorgenommen: klar, ist das von dem ratlos Gesunden jetzt wieder drin, allerdings ganz woanders. Keine Ahnung, was den Autor geritten hat, den Satz unter dem Stichwort ‚Feuilleton‘ zu vermerken, zwischen ‚Feder‘ und ‚Fiesionen‘, aber da steht er: „Herr Apotheker, heit feiht ma gar nix, wos soi i denn do einehma?“.
War’s das? Das war’s.
Ingrid

© 2014  ingrid mylo

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Cover © Residenz Verla

Uwe Dick: Spott bewahre!

Residenz Verlag 2012

16,90 EUR

Lustprinzip im Oberstübchen

„Verklemmte lachen nicht. Sie licheln.“ Ein Satz, mitunter ein einziges Wort genügt Uwe Dick, um ins Bild zu lüpfen, was jeder gut, doch oft nicht gern versteht: „Deppokratie“, „Doppelkinnheads“, „Faadfood“, „Meinungsschappi“…

Seit mehr als 50 Jahren sind manche dieser Foppformeln und Fangworte, Freud’sche, nein: höchst freudvolle Versprecher des Poeten und Bürgerrechtlers via Mundfunk in Umlauf. Die hier versammelte Auswahl dokumentiert Literatur als Widerstand: „Staatsbegräbnis? – Ja WANN denn endlich?!“ (Residenz Verlag)

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