Der Begriff „Artworld“ wurde Mitte der 60er Jahre von Arthur Coleman Dato geprägt, dem einflussreichen amerikanischen Kritiker und Pionier der Kunsttheorie, der 89jährig am 27. Oktober 2013 verstorben ist. Anders als die traditionelle Repräsentationskunst, die mit den Mitteln des Schönen, Guten und Wahren die Macht und den Einfluss der Kirche, der Fürsten und der Großbourgeoisie manifestierte, steht die „Artworld“ für das komplexe Bezugssystem moderner Gegenwartskunst, das nur im Kontext ökonomischer, gesellschaftspolitischer, wissenschaftlicher und philosophischer Zusammenhänge zugänglich und erklärbar ist. Die grenzüberschreitende Ausrichtung der Kunst fand in der Formulierung des „erweiterten Kunstbegriffs“ ihren programmatischen Ausdruck. Den Sündenfall datiert Danto auf den 21. April 1964, als Andy Warhol in der New Yorker Stable Gallery die „Brillo Boxes“ als amerikanische Konsumversion der Readymades von Marcel Duchamp präsentierte. Pop Art, das soll Kunst sein, war die empörte Frage gerade auch der Vertreter der New York School of Art um Clement Greenberg, die mit dem abstrakten Expressionismus und in der zweiten Phase mit den Colour Field Paintings eine spezifische amerikanische Kunst gegen den Eurozentrismus der École de Paris durchsetzen wollten. Aber es gab in den 60er/70er Jahren mit der Minimal-, Land- und Conceptual Art jede Menge Gegenentwürfe zur New York School. Mit performativer Kunst traten in Europa die Wiener Aktionisten und die Fluxus-Bewegung an, um eine freie durch Kunst bestimmte Gesellschaft zu etablieren.
Das natürlich ist nur ein kursorischer Abriss der Nachkriegskunst. Gewiss aber hatte Danto Recht, dass entscheidende Impulse von Warhol und selbstverständlich Duchamp ausgingen, der als „Godfather“ dieser Entwicklung – 50 Jahre nach der Entstehung des ersten Readymade und nach mehr als vier Jahrzehnten des Schweigens und Rückzugs aus dem Kunstbetrieb – 1963 in Pasadena eine viel beachtete Retrospektive mit seinen als Antikunst verstandenen Werken feierte. Noch heute – weitere 50 Jahre später – ist der Einfluss Duchamps auf die postmoderne Objektkunst der jüngsten Künstlergeneration allgegenwärtig.
Auf der einen Seite steht eine politisierte „kritische Kunst“, die mit Interventionsstrategien und Dekonstruktionstechniken den Kunstbetrieb unterläuft. Es geht ihr um die Rahmenbedingungen künstlerischer Praxis mit dem Ziel einer Humanisierung der Gesellschaft. Feminismus, Gender, Aids, Urbanität, Postfordismus und Postkolonialismus sind zentrale Fragen, die auf den heute weltweit fast 100 Biennalen und Triennalen verhandelt werden. Die Documenta 10 unter Catherine David (1997) und die Documenta 11 unter Okwui Enwezor (2002) waren Plattform der kritischen Kunst. Die Ausrichtung und Organisation bestimmt ein Netzwerk international organisierter Kuratoren. Es kursiert das böse Wort des Kuratismus als neue Kunstform mit Impresarios und Ideenvirtuosen, die eingeschüchterte Künstlerindividuen zu lebenden Argumenten und Beweisträgern ihrer Ideen werden lassen.
Die von vielen Kritikern im Vorfeld der Documenta 12 begrüßte Kampfansage gegen den Kunstmarkt kam nicht von ungefähr. Es ist der Kunstmarkt, dem bis heute eine entscheidende Rolle auf die weitere Entwicklung zukam. Ausgangspunkt waren die 80er Jahre, einer Ära, als die konservativen Führer Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Helmut Kohl das politische Weltklima bestimmten. Nach langen Jahren kunsttheoretischer Diskurse war unter dem Motto „Hunger nach Bildern“ wieder Malerei – Flachware im Jargon des Kunstmarktes – angesagt. Die Kunst des Neoexpressionismus, der Transvanguardia, der „Jungen Wilden“, der „Picture Generation“ und der Appropriation Art trieben die Preise in bis dahin nicht für möglich gehaltene Höhen. Künstler wie Richard Prince, Jeff Koons und Haim Steinbach wurden zu Protagonisten einer Bewegung, die alle Skrupel gegen eine kommerzielle Verwertung von Kunst aufgab und sich offensiv auf den Kunstmarkt einließ. Kein Gedanke mehr an die elitäre Vorstellung eines künstlerischen Œuvres als Lebenswerk. Bad Painting, Deskilling und schnelle Karrieren nach dem Vorbild des Showbiz bestimmten die Kunstszene. „Jeder Mensch ist ein Künstler“, lautete noch Anfang der 70er Jahre Joseph Beuys´ Credo einer romantischen Verbindung von Kunst und Leben. „Jeder Künstler ist ein Mensch“, war kaum zehn Jahre später die lakonische Antwort des Punk-Künstlers Martin Kippenberger.
Der Kunstboom der 80er Jahre – es wird behauptet, dass in dieser Dekade mehr Kunst verkauft wurde als in allen Jahrhunderten zuvor – brach Ende 1990 innerhalb weniger Monate komplett zusammen. Als Ursache wurden die gescheiterten Großmachtträume japanischer Investoren und der Zukunftsbranche des spekulativen Markts der neuen Technologien ausgemacht. Aber so einfach ist es nicht. Das internationale Geschäft steht in einem engen Zusammenhang mit weltpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Es geht um Macht und Gegenmacht. Auf die Artworld bezogen um Positionen des Widerstands, wie sie die Counter Culture der Beatniks und Hippies und die Pop Art in den 50er/60er Jahren propagierten. Die Venedig-Biennale 2013 unter Massimiliano Gioni brachte mit der Abart, Outsidern und Anthroposophen wie Rudolf Steiner Anhänger von Alternativgesellschaften in einen zeitgenössischen Kontext mit dem Kunstmarkt. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich in Zehnjahresrhythmen. Dem Aufschwung des Kunstmarkts in den 60er Jahren unter dem von John F. Kennedy verkündeten Motto der „New Frontier“ folgte der Niedergang in den 70er Jahren mit dem Verlust des Vietnam-Kriegs und der Ölkrise. Dann die spektakuläre Wiedergeburt in den 80ern und der Bruch 1990. Er war maßgeblich darauf zurückzuführen, dass die westliche Welt sich nach dem überraschenden Zusammenbruch des Sowjetreichs völlig neu organisieren musste und ihre finanziellen Mittel dringend für die Integration der östlichen Märkte benötigte.
In der Folge, unter den Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush, bestimmten die Finanzmärkte und ein entfesseltes Bankensystem das Geschehen. Riesige Mengen Geld wurden freigesetzt und bewirkten ab 1998 einen Aufschwung des Kunstmarkts, der die Zahlen der 80er Jahre weit übertraf.
Einen wesentlichen Einfluss hatte Ende 1999 die Entscheidung der internationalen Auktionshäuser, junge Gegenwartskunst in ihr Programm aufzunehmen. Die Auktionen waren ein Schock, konterkarierten sie doch die Aufbauarbeit der Galerien. Von vielen, nicht zuletzt auch Künstlern, wurden sie als Verrat an der Sache bewertet. Die Verärgerung der Galeristen hielt sich aber in Grenzen. Schnell erkannten sie die Chance, durch gezieltes Mitbieten die Marktpreise junger Kunst stabil zu halten und – besser noch – rechtzeitig vor geplanten Eröffnungen in die Höhe zu treiben. Maßgeblichen Einfluss nahmen auch die Großmeister und Milliardäre Bernard Arnault, François Pinault und Charles Saatchi, die mit offenem Visier dazu übergingen, Kunst für ihre globalen Marktstrategien zu instrumentalisieren. Und mit dabei die vielen Spekulanten und Finanzjongleure, die im Überfluss des Geldes auf junge Kunst setzten, langfristig in dubiosen Fonds angelegt und kurzfristig über Auktionen wieder auf den Markt geworfen.
Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte ist nicht frei von Ironie. Angetreten mit dem Ziel der Avantgarde, die Kunst jenseits elitärer Vorstellungen im Leben der Menschen zu verankern, ist sie eben dort wieder angekommen. In einer Gesellschaft des Spektakels mit gesponserten Events und Großveranstaltungen, die Kunst zu Kulturbetriebsmitteln degradieren, und in einem Kunstmarkt mit Spitzenpreisen für wichtige Arbeiten, die nur wenige Reiche und exquisite Kunstinstitutionen aufbringen können. Man darf diese Entwicklung getrost als Refeudalisierung der Kunst verstehen. Signifikant die von Pinault finanzierte Ausstellung von Jeff Koons auf Schloss Versailles im September 2008. Aber es sollte nur eine Woche später der 15. September 2008 sein, der wie kein anderes Datum ein Schlaglicht auf die Zusammenhänge von Kunst, Kommerz und Spekulation geworfen und Geschichte geschrieben hat. Es ist der Tag, an dem Damien Hirst unter Umgehung seiner Galerien und maßgeblichen Förderer Charles Saatchi, Jay Jopling und Larry Gagosian bei Sotheby’s London mehr als 200 speziell für die Auktion hergestellte Werke einlieferte und für sagenhafte 111 Millionen Pfund versteigern konnte. Und es war der Tag, an dem in New York die Lehman Brothers Bank Bankrott erklären musste mit Auswirkungen, die bis heute weltweit ganze Volkswirtschaften beschäftigen.
Die Spekulanten, insbesondere die Investmentbanker und Hedgefondmanager, sind nach dem Lehman-Bankrott inzwischen weitgehend verschwunden, und mit ihnen der Kunstmarkt, der so exzessiv auf den Hype des Jungen und Neuen setzte. Die Programmgalerien tun sich schwer. Und doch vermelden die Medien immer neue Rekordpreise für Kunst. Die Reichen dieser Welt schert die Krise wenig. Sie setzen auf anerkannte Kunst, die sie auf Auktionen und bei den Spitzengalerien, die längst einen großen Teil ihres Umsatzes als Kunsthändler erzielen, auf dem „secondary market“ erwerben. Für die Reichen ist Kunst Anlage, man spricht von einer Flucht in die Sachwerte in Zeiten der Niedrigzinsen, auch gelegentlich von Geldwäsche; in erster Linie ist für sie Kunst aber ein Statussymbol.
Die Kunst ist in der heutigen Gesellschaft zu einer neuen Leitkultur aufgestiegen und wie der Spitzensport und das Showbiz im System der internationalen Unternehmen und Massenmedien fest verankert. Produkte und Nachrichten erfahren durch sie eine Aufwertung. Es geht um Wünsche, Sehnsüchte und die Individualität der Menschen. Die Grenzen zu Design, Mode und Werbung sind längst überschritten. Als kreatives Potenzial werden Kunst und Kultur auf allen Bezugsebenen angezapft und vermarktet. So berichtete unlängst das deutsche Boulevardblatt „Bild“ von der Eröffnung der Art Cologne: „Wichtige Kunst, noch wichtigere VIPs! Kunst ist zur Religion der High Society geworden. Ehrengast beim Auftakt war Gabriele Inaara Begum Aga Khan. Sie war noch schöner als so manche dargebotene Kunst.“
Die Entwicklung ist unerbittlich und nicht nur vorübergehender Hype, wie einige unerschütterliche Optimisten meinen. Kunst als Religion, und diese These wird nicht nur von Boulevardblättern vertreten, scheint absurd, aber trifft den Nerv einer Gesellschaft, die jenseits der überdrüssigen, demoskopie-geleiteten Machtpragmatik westlicher Politik und der ungelösten weltweiten Kulturkämpfe einen gemeinsamen Nenner in Zeiten der Postmoderne sucht. Es geht um Sinnhaftigkeit und höhere Bedeutung. Im Kunstbetrieb stehen hinter der Verklärung der Kunst zu einer Heilsbotschaft aber Geld, Macht und Ansehen als die harten Währungen. Der Kunstbetrieb ist ein Partizipationsmodell im Sinne der alten surrealistischen Formel Dreams that Money can Buy. Die Traumfabrik Kunst ist – mit großer und kleiner Münze – allen zugänglich. Aber für Spitzenarbeiten werden wie im Sport und Showbiz weiterhin Spitzenpreise bezahlt. Die viel beschworene Blase wird nicht platzen.
Der Künstler hat im Zuge dieser Entwicklung eine enorme Aufwertung bis hin zur Idolisierung erfahren. Aber der Erfolg ist durch die Affirmation des Kunstsystems, die Anpassung an geschmackliche Vorgaben und die Abhängigkeit von Galeristen und Kuratoren teuer erkauft worden. Was Neues und Eigenes schaffen, dagegen, aber doch immer dabei sein, ist ein Spagat, der nur wenigen gelingt. Zu verzeichnen ist eine Rückkehr der Kunst zum Stil, zum Können, zum Wissen und zu Techniken der lange verpönten Repräsentationskunst. Es sind Bilder und Arbeiten, die politisch korrekt sind, aber kaum eine Chance haben, in die auf Tabubrüche und Grenzüberschreitungen setzenden massenmedialen Netze Eingang zu finden. Stars der Szene sind zweifellos die Künstler, die ihr Kunstschicksal selbst in die Hand nehmen und eigene Institutionen schaffen, die sie mit bezahlten Mitarbeitern lenken und verwalten. Künstler wie Matthew Barney, Olafur Eliasson, Damien Hirst und Jeff Koons stehen für diese Richtung, die an das Modell der Künstlerfürsten vergangener Zeiten anknüpft.
Privatsammler gehören aufgrund ihrer persönlichen Beziehungen zu Künstlern, Galeristen, Auktionshäusern, Museen und Kritikern zu den wichtigen Netzwerkern des Kunstsystems. Aber sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie unter den Bedingungen des Kunstsystems an einem Rollenspiel mitwirken, das nur temporären Charakter hat. Die Museen und anderen Kunstinstitutionen sind mit ihren Ausstellungsprogrammen finanziell und zeitlich so in Anspruch genommen, dass für Aktivitäten im Bereich ihrer Sammlungen wenig Raum bleibt. An kompletten Sammlungen besteht deshalb wenig Interesse; meist sind nur einzelne in die Sammlung der Museen und Institutionen passende Arbeiten und Werkgruppen erwünscht. Die Zurückhaltung der Institutionen ist ein wesentlicher Grund dafür, dass in den letzten Jahren so viele Privatmuseen entstanden sind. Aber auch diese Lösung ist für die große Mehrzahl der Sammler persönlich und finanziell zeitlich limitiert. Der Traum so vieler, sich mit ihrer Sammlung ein Denkmal zu setzen, dürfte von wenigen Ausnahmen abgesehen ausgeträumt sein.
Das Ergebnis dieser Untersuchung ist ernüchternd – was nicht das Schlechteste sein muss. Kunst ist ein Spiegel der Gesellschaft. Jede Zeit hat die Kunst, die sie verdient. Wir sehen professionelle Geschäftemacher, Spekulanten, verführte Sammler und erschöpfte Künstler. Kunst als Gegenmacht? Seit Beginn der 60er Jahre wird der Kampf gegen das Subjektive gefochten. Das heutige Kunstsystem hat vielfältige Formen der Abhängigkeit und Manipulation bis hinunter zum Boulevard entwickelt. Es erscheint unabweisbar, den Künstler als Subjekt und Person des Widerstands neu zu entdecken. Und das durchaus auch im Sinne der so lange verdrängten politischen Kunst. Wie fragil die politischen Systeme sind, offenbaren die vielen Freiheitskämpfe und Revolten der heutigen Zeit. Das mächtige China weiß sich gegen Ai Weiwei nur durch Hausarrest zu wehren. Kurioserweise hat man ihm das Handy und den Zugang zum Internet wohl in der Hoffnung gelassen, dass irgendwann ihm niemand mehr zuhört und er zu einer bloßen Fiktion wird. Weiwei gebührt mit seinem wagemutigen politischen Protest höchste Achtung und doch ist er längst in das marktorientierte und finanzielle System der internationalen Kunst eingebunden. Seine Arbeiten werden zu Höchstpreisen verhandelt. Auf der Biennale in Venedig 2013 wurde er im französischen Pavillon als deutscher Beitrag im Austausch zum französischen Beitrag des albanischen Künstlers Anri Sala im deutschen Pavillon ausgestellt. Es heißt, dass dieser Deal von deutschen und französischen Staatssekretären ausgehandelt wurde, selbstverständlich unter maßgeblicher Übernahme der Kosten. Mit freier Kunst hat das wenig zu tun.
Mir liegt es fern, Kunst in Kategorien der Haltung, Authentizität, Kreativität, ja selbst der Autonomie und Freiheit zu definieren. Es sind Leerformeln des immer Neuen, die nur im Kontext der Geschichte, wie sie beispielhaft für die Entwicklung der Nachkriegskunst skizziert wurde, Bedeutung gewinnen. Schon gar nicht steht es mir zu, für andere Sammler, die ganz andere Ausgangspunkte und Interessen haben, zu sprechen. Der Fokus meiner Sammlung liegt in den Bereichen der Counter Culture und Conceptual Art. Ich bin dabei, diese Positionen weiter auszubauen.
Das immer wieder behauptete Ende der Kunst wird nicht stattfinden. Die Artworld ist für immer neue Entwicklungen offen. Dieser Herausforderung muss sich auch bei kritischer Sicht jede ernstzunehmende Sammlung stellen.
Harald Falckenberg, Februar 2014
Alle Bilder: Ausstellung © Gianfranco Baruchello
GIANFRANCO BARUCHELLO – CERTAIN IDEAS. RETROSPEKTIVE
14. JUNI − 28. SEPTEMBER 2014 IN DER SAMMLUNG FALCKENBERG, HAMBURG-HARBURG
MEHR INFORMATIONEN
über die Sammlung Falckenberg
- Artworld 2013. Jede Zeit hat die Kunst, die sie verdient. - 3. September 2014
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