Wolfskinder – das ist der gängige Begriff für Menschen, die im Kindes- oder Jugendalter am Ende des zweiten Weltkriegs elternlos von Osteuropa aus über den Kontinent irrten, um Angehörige und eine neue Heimat zu finden. Genaue Zahlen gibt es nicht. Viele der dramatischen Geschichten wurden von den Betroffenen verschwiegen.
Eine (fiktive) Wolfskinder-Geschichte wird nun erzählt. Der 14-jährige Hans (Levin Liam) und sein kleiner Bruder Fritz (Patrick Lorenczat) müssen ihre Mutter (Jördis Triebel) in Ostpreußen beerdigen. Auf dem Sterbebett trägt sie den Jungen auf, sich nach Litauen durchzuschlagen. Dort soll es Bauern geben, die elternlosen Kindern helfen. Interessanterweise ist es der Kleine, Fritzchen, der sich als stark erweist. Hans ist völlig überfordert. Die Unbill der Natur und die Brutalität von Menschen setzen den Umherirrenden zu. Hoffnung gibt das Zusammentreffen mit Christel (Helena Phil) und einigen anderen Kindern. Als Gruppe ist die Chance durchzukommen vielleicht größer. Doch das Bruderpaar wird getrennt. Hans aber wächst über sich hinaus und gibt nicht auf.
Rick Ostermanns Debüt besticht dadurch, dass er tatsächlich aus der Perspektive der Kinder erzählt. Das ist nicht immer stringent, doch weitgehend überzeugend. Wenn da lange kein einziges Wort fällt, der körperliche Verfall der Protagonisten alles erzählt, entstehen starke Momente. Als schwierig erweist sich die diffuse Zeichnung der historischen Situation. Je länger der Film dauert, umso mehr wirkt die Geschichte zeitlos. Was sicher beabsichtig ist, rückt doch dadurch der Aspekt des erzwungenen Verlassens der Kindheit in den Fokus. Gleichzeitig nimmt einem die Ferne konkreter Zeitbezüge aber die Chance, als Zuschauer mit in die Handlung einzusteigen. Man bleibt Beobachter und erlebt selten eine emotionale Anteilnahme. Trotzdem: sehenswert. Im Vergleich zu all den „Events“, mit denen das Fernsehen die Vergangenheit beleuchtet, hat der Film durch seine Strenge eine wohltuende Seriosität. Schön auch, dass Ostermann nie in Sentimentalität abgleitet. Man ist gespannt auf seinen nächsten Film.
Peter Claus
Wolfskinder, von Rick Ostermann (Deutschland 2013)
Bilder: Port au Prince Pictures GmbH
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27. August 2014 um 14:52 Uhr
Erstaunlich, wie schnell selbst aufsehenerregende Filme wie Claire Shortlands „Lore“ selbst aus der Kritiker-Wahrnehmung verschwinden. Als Referenzpunkt werden mutmaßlich süffige Fernseh-Eventfilme genommen, gegen die „Wolkskinder“ in seiner sperrigen Anlage natürlich positiv abstechen muß.
Was „Lore“ auszeichnet und was Rick Ostermanns Film offensichtlich nicht hat, ist eine verstörende Mehrdimensionalität. Lore und ihre Geschwister sind Täter-Kinder, vollgesogen mit dem Gift einer humanitätsverachtenden NS-Weltanschauung, zu stolz und hochmütig um Hilfe zu erbetteln und doch auf Hilfe angewiesen. Ausgerechnet diese deutschen Kinder geraten auf ihrer Flucht vom Süden in den Norden eines zerstörten Landes an das Opfer par excellence: Ein dem KZ entronnener junger Mann, der zu ihrem Retter wird. Doch ein Moment nachhaltiger Irritation bleibt am Schluß. War diese Opfer-Identität nur eine vorgetäuschte, eine angemasste?
Die gerechte Belohnung für diesen kleinen, unabhängig produzierten Film war ein Deutscher Filmpreis 2013.
27. August 2014 um 15:01 Uhr
Lore auf getidan
hier (Georg Seeßlen)
und hier (Peter Claus)
27. August 2014 um 15:05 Uhr
Schön von Dir zu hören, lieber Michael
Danke und beste Grüße
Runhard