Die belgische Politologin Chantal Mouffe spricht sich gegen die Konsensorientierung der Eliten aus.
In ihrem Sachbuch „Agonistik“ spürt man die Lust an der politischen Debatte.
Deutschlandradio Kultur > Lesart > Beitrag vom 14.08.2014
Download & Wiedergabe erfolgen hier direkt vom Server des Anbieters
Die Linke neu denken
Seit dem Epochenbruch von 1989 müht sich diese gebeutelte Spezies um eine neue Raison d’etre. Zu ihren prominentesten Vordenkerinnen zählt die belgische Politologin Chantal Mouffe. Die 1943 geborene Wissenschaftlerin, die derzeit an der University of Westminister in London Politische Theorie lehrt, legte zusammen mit ihrem Mann Ernesto Laclau Mitte der 1980er Jahre die Studie “Hegemonie und radikale Demokratie” vor. Darin entwickelte sie eine Strategie der linken Hegemoniebildung, die auf den Ideen des italienischen Marxisten Antonio Gramsci aufbaut. Seitdem ist sie Stammgast auf allen Konferenzen gegen den Neoliberalismus, für Demokratie und die Zukunft der Linken.
Vehement streitet Mouffe dort und in ihren Schriften für eine Radikalisierung der Demokratie. Den herrschenden politischen Eliten wirft sie Konsensorientierung vor. Und sie beklagt den “Mangel an Alternativen, die den Bürgern angeboten werden”. Mit Straßenkämpfen und autonomem Furor hat Mouffes Lust am politischen Konflikt freilich nichts zu tun. Denn in ihrem dritten Buch ficht die Politologin in sechs Aufsätzen und einem Interview für jenes Set von Regeln und Institutionen, mit denen sie die Gegensätze, die in jeder denkbaren Gesellschaft immer existieren werden, friedlich austragen will. Ihre “Agonistik” leitet sich vom griechischen “Agon”, dem Wettstreit ab. Mouffes, schon in ihrem letzten Buch “Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion” (2007) bis zum Überdruß wiederholtes Credo: Aus Kontrahenten dürfen keine Feinde werden. Man soll sich niemals in Ruhe, aber am Leben lassen.
Wie ihr geistiger Schirmherr Gramsci räumt die Politologin der Kultur einen zentralen Rang in ihrem Konzept ein. Kunst ist für sie das ideale Medium für “gegenhegemoniale Interventionen”. Denn sie schaffe “Räume des Widerstandes”, die das “gesellschaftlich Imaginäre untergraben”. Und mache sich an die “Ausarbeitung neuer Welten”. Freilich lauert auch in diesem überfälligen Versuch, ein unterschätztes Politikfeld zu erschließen, die Gefahr, es zu instrumentalisieren. Wenn die Kunst “neue Subjektivitäten” und “Leidenschaften” ausbilden soll, ohne die für Mouffe keine antikapitalistische Anstrengung auskommt, reduziert sie diese auf die Rolle eines Emotionsgenerators.
Handfester aufgelegte Systemüberwinder dürften Mouffes Definition von radikaler Demokratie als “endlosem Prozess” als Schwenk zum Reformismus der Sozialdemokratie werten. Nachhaltig wendet sie sich in “Agonistik” sowohl gegen radikaldemokratische Blütenträume wie auch gegen die “Empire”-Theoretiker Tonio Negri und Michael Hardt – lange Zeit die geradezu kulthaft verehrten Lieblingstheoretiker der Linken. Weder glaubt sie an die “präsentische Demokratie” der Straße: Sabotage oder Subversion sind ihr fremd. Noch plädiert sie für die “Desertion” aus dem Staat zugunsten einer machtfernen “Republik der Multitude” mit ihren führerlosen Netzwerken.
Stattdessen plädiert sie dafür, die Politik mit und in den Institutionen mit den außerparlamentarischen Kämpfen zu verbinden. Der langsame Zerfall der Arabellion wie auch der Occupy-Bewegung belegt, wie berechtigt ihr Plädoyer für diese mühsame Doppelstrategie ist. Vorbildhaft findet sie diese Strategie bei der Neuen Linken Lateinamerikas verwirklicht. Mouffes Lob der Politik des argentinischen Präsidenten-Ehepaars Néstor und Cristina Fernández de Kirchner kommt einem heute allerdings reichlich deplatziert vor. Das Land musste bekanntlich gerade Staatsbankrott anmelden. Diese Sichtweise verdankt sich vermutlich Mouffes langjähriger Lebenspartnerschaft mit Ernesto Laclau. Der 1935 geborene Politologe stammt aus Buenos Aires und lehrte auf Einladung von Eric Hobsbawm lange Zeit in Oxford. Im April dieses Jahres verstarb er in Spanien an einem Herzleiden.
Mouffes erfrischend direkt und klar geschriebenes Buch ist ein Plädoyer für mehr radikale Politik. Es steckt voller spannender Ideen. Etwa, wenn sie Europa als “Demoi-kratie” redefinieren will – eine “föderale Union” kulturell und institutionell unterschiedlichorganisierter Staaten und Völker anstelle des homogenen europäischen Demos, der der EU vorschweben mag. Oder wenn sie für eine multipolare Welt plädiert, weil diese weniger Gefahr laufe, “der Entstehung extremer Formen von Antagonismen Nahrung zu geben”. Mit welcher politischen Formation und welchen konkreten politischen Maßnahmen sie ihr Projekt durchsetzen will, bleibt aber offen– ein nicht ganz unbedeutendes Manko des Buches.
Die “neue Vision”, die sie darin beschwört bleibt allgemein, formelhaft und unkonkret. Etwa der Vorsatz, die “Hegemonie des neoliberalen Globalisierungsmodells zu brechen, die EU vom angelsächsischen Kapitalismusmodell zu distanzieren oder Mouffes “postsozialdemokratisches ökologisches Projekt”. Die Gretchenfrage der politischen Linken: “Wer ist eigentlich das revolutionäre Projekt?” bleibt ebenfalls unbeantwortet. Mouffes Warnung freilich, dass sich politische Energie sinnlos in Gewalt entlädt, wenn feste Institutionen und Regeln fehlen, bewahrheitet sich derzeit auf der ganzen Welt dramatisch. Wenn sie im Hinblick auf ihre Hauptthese von “agonistischem Respekt” spricht, wird freilich klar, dass es ihr, zumindest in diesem Buch, mehr um eine allgemeine politische Ethik beziehungsweise um eine alternative Institutionenlehre geht.
Nur ihr sympathisches Plädoyer für ein nicht vom Westen dominiertes “Pluriversum” – eine Vielzahl von Hegeomien auf der ganzen Welt – bekommt dann eine werterelativistische Schlagseite, wenn sie daraus die “Akzeptanz der Pluralität der Auffassungen im Hinblick auf die “Menschenrechte” ableitet. Wer diese so “umformulieren” möchte, “dass eine Vielzahl an Interpretationen möglich ist”, macht sie wirkungslos.
Ingo Arend
Chantal Muffe: Agonistik – Die Welt politisch denken
214 Seiten, 16,40 EUR
bei amazon kaufen
- Alltag mit Corona: Berlin - 23. Dezember 2020
- Streit um neuen documenta – Aufsichtsrat in Kassel - 12. Dezember 2020
- Eberswalde zeigt Walter Womacka. Der Staatskünstler soll damit nicht rehabilitiert werden. Er dient als Gegenstück zu Agit-Pop-Künstler Hans Ticha. - 24. November 2020
Schreibe einen Kommentar