Das Wort von der „Krimi-Inflation“ ist selbst so inflationär gebraucht worden, dass man es nur noch mit Vorsicht verwenden mag. Aber alle, die glaubten, die Begeisterung für den Krimi habe inzwischen den Zenit überschritten, mussten sich eines besseren belehren lassen. So sind 2005 – täglich! – knapp 19 Stunden Kriminalfilm im Fernsehen ausgestrahlt worden, wobei die Statistiker nur die Haupt-Programme in ihre Zählung aufgenommen haben. Und es geht weiter. Die Ausweitung von Sendezeiten, die Entwicklung neuer Subgenres, die Plagiierung von Erfolgsformaten, zumal von skandinavischen Formaten, ist so unübersehbar und statistisch so eindrucksvoll belegt, dass sich längst nicht mehr von einer bloßen Mode oder einem kurzfristigen Boom sprechen lässt.
Der Krimi scheint unser Leben mehr und mehr zu bestimmen. Um keinen Zweifel zu lassen: Gerade weil heute kein Film mehr ohne die zentralen Elemente des Krimis auskommt, ist der Krimi weder gut noch schlecht. Er ist nur so gut und so schlecht wie die filmische Fähigkeit und die gedankliche Reflexion seiner Macher. Die handwerkliche Perfektion in der Inszenierung von Spannung und Verbrechen hat auffällig zugenommen, aber sehr oft bieten solche Filme auch nicht mehr das. Sie machen sich – so meine These- damit selbst seriell und überflüssig. Nur da, wo der Krimi wieder Anschluss gewinnt an eine tiefere Beschäftigung mit Welt, Gesellschaft und den Menschen, eröffnet er neue Perspektiven für unser Welt-Verstehen.
Aus der Schmuddelecke ist der Kriminalfilm längst heraus und geht laufend neue Allianzen ein. Etwa mit dem Kriminalroman als seinem historischen Vorläufer. Nur zwei Beispiele: Nach Büchern von Elizabeth George wurde die Fernsehfigur des blaublütigen Inspektor Lynley entwickelt, nach Büchern von Henning Mankell die Figur des sozialpessimistischen Kurt Wallander. Als massenkulturelles Phänomen ist der Krimi zum Untersuchungsgegenstand auf vielen Tagungen und Festivals geworden. Den Kinofilm als seinen älteren Halbbruder stellt der Fernseh-Krimi seit vielen, vielen Jahren in den Schatten. Zumindest in Deutschland. In der bereits zitierten Nutzungs-Untersuchung der „Media-Perspektiven“ findet sich auch der schöne Satz: „Für dieses Genre kann ein deutlicher Nachfrageüberhang festgestellt werden.“
„Mord(s)programm“ titelte 1998 die Evangelische Akademie in Tutzing und auch hier, auf dem Krimifestival in Daun, wurde dem Krimi wiederholt schon theoretisches Rüstzeug verpasst. Aber alle Analysen haben eine begrenzte Halbwertzeit, denn dieses Genre ist unablässig in Bewegung und verlangt immer wieder neu unsere Aufmerksamkeit. Es verändert sein Erscheinungsbild und seinen Charakter. Von der psychologischen Einfühlung bis zur naturwissenschaftlichen Untersuchung reichen die Ermittlungsformen.
Mehr noch: Der Krimi mit seinen Formen und Gesetzmäßigkeiten greift über auf andere fiktionale, mediale Bereiche. Möglich ist diese Ausweitung, weil – so meine These – der Krimi perfekt die Affekte anspricht, die das moderne Subjekt so beherrschen wie keine anderen: Angst, Verdacht, Zweifel. Die Gewissheit eines Universums, in dem der Mensch sich verortet fühlt und der unschuldige, naive Blick auf die Mitmenschen wie die Dinge ist uns abhanden gekommen. Nach einem Wort des Medien-Philosophen Boris Groys bestimmt der Verdacht die Kunst der Gegenwart: „Nur der Verdacht scheint uns auf den ersten Blick glaubwürdig überzeugend zu sein.“
Mord ist ihr Hobby
Was Groys für die moderne, abstrakte Kunst reklamiert, scheint zu einem Organisationsprinzip der Gesellschaft geworden zu sein. Eine diffuse Regung lässt ganz normale Menschen zu Privatdetektiven werden. Sie haben zwar keine Lizenz zum Schnüffeln, keinen Auftraggeber als sich selbst, aber das hindert sie nicht, der Welt mit Skepsis und Misstrauen zu begegnen. Der Detektiv ist nach Groys „der symbolische Vertreter der medialen Öffentlichkeit.“
Ob die Ermittler nun den Rang eines Hauptkommissars wie im „Tatort“ bekleiden, Mitglied einer „Soko“ in – ganz neu – Stuttgart – sind, als alerter ZDF-Pater Castell im Dienst des Vatikans stehen oder als skurriler Buchhändler Wilsberg im beschaulichen Münster ihrem detektivischen Hobby nachgehen, macht nur einen graduellen Unterschied aus. Der offiziöse, an Beamten- oder Kirchenrecht gebundene Status macht die drei erstgenannten Ermittler ein wenig gestrig. Aber sie bewahren sich einen Rest von Autorität und sie haben im Ernstfall das Recht erst mal auf ihrer Seite.
Das Kriminal-Genre, egal ob filmisch oder literarisch, ist auch in Deutschland in der Hochkultur angekommen. Die Ankündigung des Suhrkamp-Verlags, ab 2009 sein Programm durch eine eigene Krimi-Reihe erweitern zu wollen, kann als allerletztes Signal gewertet werden. So wie Fußball gesellschaftsfähig geworden ist, so steht es auch um den Krimi. Martialisch hat Suhrkamp sein neues Unternehmen mit dem Slogan überschrieben: „Am Anfang war der Mord“. Eine kleine, folgenschwere Buchstaben-Spielerei mit dem Bibelwort des Evangelisten Johannes, der seine Botschaft mit dem Satz begonnen hat: „Am Anfang war das Wort.“ Nun soll nicht mehr die Verkündigung, die Ankündigung oder die Verheißung kommenden Heils zählen, sondern nur noch die schreckliche Tat. Eine Blut-Tat zumal.
Die Welt als Krimi
Am Anfang steht eine Leiche, Schuld und ein Verbrechen, das sich nicht mehr gutmachen lässt. Es ist schon sehr aufschlussreich, dass in unsere säkulare Welt durch die Hintertür der Glaube an biblische Schuld und sündhafte Verstrickung wieder Einzug hält. Mit diesem PR-Slogan und einer wohl eher aus der Lust am Gag gewonnenen Haltung steht der feine Suhrkamp-Verlag nicht allein: Andere Verleger waren auf den Rettungsring einer umsatzträchtigen Krimi-Bibliothek schon früher gekommen. Doch wohl keiner hat dieser Erkenntnis so schön Ausdruck gegeben wie der kleine, feministische Ariadne-Verlag, der seine Reihe regionaler Krimis mit „Der Krimi ist ewig“ annonciert. In der Konsequenz gesprochen bedeutet das: Die Weltgeschichte – ein einziger großer Kriminalfall. Aber stimmt das?
Die unbedingten Verteidiger des Krimis würden einen solchen Satz jeder Zeit bejahen. Sie würden eine Vergleichbarkeit zwischen dem Mord der Klytämnestra an ihrem Gatten Agamemnon und jedem beliebigen Gattenmord in einem modernen Krimi ziehen und so die Geschichte als Blutbad deuten. Aber das greift nach meinem Ermessen zu kurz, denkt zu abstrakt, und ist zu dichotomisch auf die beiden Prinzipien Gut und Böse fixiert. Vielmehr ist es unsere Aufgabe hier, den Unterschied zwischen diesen den mythischen Taten und vielleicht auch den Shakespearschen Königsdramen und den Verbrechen in der modernen Medienwelt genauer zu untersuchen.
Was macht die Berichterstattung über Kriminalität heute so faszinierend? Was lässt die „Tagesschau“ nicht zögern, ihre Hauptabendnachrichten mit der Verhaftung des jungen Deutschen Marco W. im türkischen Antalya aufzumachen? Wie bringt es ein wegen Vergewaltigung einer englischen Minderjährigen angeklagter Jugendlicher tagelang auf die Titelseiten der Zeitungen? Wie kann ein solcher Kriminalfall zu diplomatischen Verstimmungen zwischen zwei verbündeten Nato-Staaten führen? Kurzum: Was macht Kriminalität so spannend , was macht das Krimi-Genre so sexy?
Gefühlte Angst
Wenn wir bei den drei von mir erwähnten Affekten Angst, Verdacht und Zweifel bleiben, dann ist es zuerst einmal die Tatsache, dass der Krimi seine Geschichten um die Angst herum organisiert. Reale Angst und gefühlte Angst sind dabei nicht zu unterscheiden. Der Krimi packt den Zuschauer beim tiefsten und am wenigsten zu beherrschenden Affekt, der eng mit der Verunsicherung der Moderne zusammenhängt. Der Soziologe Ulrich Beck hat das „Risikogesellschaft“ genannt.
Diese Angst mag sich im täglichen Leben ganz banal auf die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes beziehen, aber sie hat immer eine existentielle Dimension. Es ist des Nachdenkens wert, dass die Geburtsstunde des „Tatorts“, der als Musterbeispiel für den eigenständigen deutschen Krimis gelten kann, vor nunmehr fast vierzig Jahren schlug. Die 68er Jahre werden heute erinnert als Zeit der Studentenrevolte und der sexuellen Befreiung. Sie waren aber auch die Zeit, da das bundesdeutsche Wirtschaftswunder seine ersten kleinen Risse bekam. Streiks, die in der deutschen Nachkriegsgesellschaft de facto abgeschafft schienen, flackerten wieder auf. Bei Ford in Köln, in den Krefelder Phrix-Werken, bei den Stahlkochern im Ruhrgebiet. Die Ölkrise zu Beginn der 70er Jahren tat ein übrigres, um Arbeitslosigkeit nicht nur als hypothetische Möglichkeit, sondern als realistische Gefahr wahrzunehmen.
Während die eine Fraktion deutscher Filmemacher „Rote Fahnen sieht man besser“ oder „Schneeglöckchen blühen im September“ drehte – Filme, die nach damaligen Maßstäben sozial relevant und realistisch waren, und sich und den Betroffenen Mut und Durchhaltewillen verabreichten – erfanden andere im Verein mit rührigen ARD-Fernsehredakteuren wie Gunther Witte die föderal organisierte Krimireihe „Tatort“.
Unterhaltungsfernsehen, das auf Spannung und Entspannung setzt, in dem soziale Probleme unter dem weiten Mantel des Krimigenres verhandelt werden sollten, das mit der Angst der Zuschauer mehr oder minder virtuos spielte und – unter der Hand und gar nicht so sehr im Bewusstsein seiner Schöpfer – in symbolischer Form gleichzeitig die Abfuhr von konkreten Ängsten besorgte.
Sozialer Tod
In Deutschland, wo der Besitz von Arbeit traditionell einen besonders hohen Stellenwert besitzt, bewältigte damals der Krimi, wo es immer um Leben oder Tod geht, auch die unbewusste Angst, einen sozialen Tod durch Ausscheiden aus dem Arbeitsleben zu erfahren. Und er tut es auch noch bis heute, selbst wenn diese seine Aufgabe inzwischen eher als unmodern belächelt wird. Krimis haben in ihrer Geschichte immer wieder soziale Unruhe als ihren Treibsand in sich aufgenommen. Schon Bert Brecht und Hanns Eisler gingen in den 40er Jahren ins Kino, um Kriminalfilme zu sehen mit der schönen Begründung: „Treiben wir soziale Studien.“
Aber dieser Satz war doppeldeutig, denn er war auch gedacht als Entschuldigung dafür, wenn die geistige Arbeit stockte und Unlust aufkam. Was Brecht und Eisler in den dunklen Kinosälen New Yorks suchten und dabei riskierten, auf den Philosophen Ernst Bloch zu treffen, der mit denselben Absichten gekommen war, erfreut heute quer durch alle Schichten und unabhängig vom Alter und Geschlecht weite Bevölkerungsgruppen.
Es geht dabei nicht mehr in erster Linie um die Bewältigung realer Angst, für die der Krimi ein Katalysator ist, sondern um die Erzeugung von Lust an der Angst, die der Krimi wie kein anderes Format beherrscht. Angstlust will Thrill und der größtmögliche Thrill ist die Frage nach Leben oder Tod. Angstlust ist ein Palliativ gegen einen anderen Wesenszug der Moderne: den Ennui, die innere Leere, die Unlust, Unzufriedenheit. So erklärt sich, dass in den am besten versorgten Bevölkerungen der Welt, den nordischen Wohlfahrtsstaaten, die Krimis blühen. Ein Sehnsuchtsland, eine traditionell friedliche Region mit den niedrigsten Kriminalitätsraten in Europa liegt seit Jahren in einem Krimi-Rausch. Aber mit zunehmendem Wohlstand steigt auch die Unzufriedenheit.
Pippi Langstrumpfs Enkel
Die gesellschaftliche Langeweile schreit nach künstlich erzeugter Spannung. Dieses Phänomen, das sich gerade wieder im Wahlkampf des ölreichen Staates Norwegen beobachten ließ, könnte man platt mit der volkstümlichen Weisheit erklären: Wer keine Sorgen hat, der macht sich welche. „Was ist nur aus Pippi Langstrumpfs Enkeln geworden?“, fragte sich ein deutscher Literaturkritiker fassungslos bei der Besichtigung des Stieg-Larsson-Buchs „Vergebung“. Larssons groß angelegtes Romanwerk ist durch den plötzlichen Tod seines Autors zwar an ein vorzeitiges Ende gekommen, aber schon die „Milleniums-Trilogie“ liefert eine eindrucksvolle Schilderung dessen, was uns in den unterbliebenen Bänden erwartet hätte.
Der Wohlfahrtsstaat Schweden ist in dieser und anderer Kriminalliteratur nur noch ein Zerrbild seiner selbst. Geheimdienst, Konzernmafia und Rechtsextreme sind wie auch in anderen Krimis die wahren Strippenzieher im Land und liefern im Verbund mit Menschen voller psychischer, ja psychopathischer Störungen die Blaupause für eine Flut von neuen kriminalistischen Romanen. Schweden ist aber auch ein schönes Beispiel dafür, wie fiktionalisierte Angst in reale, gesellschaftliche Angst umschlagen kann und wie sich beide wechselseitig befeuern. Im Musterland Schweden werden heute keine Wahlkämpfe mehr geführt mit Slogans für verbesserte Integration und soziale Gerechtigkeit. Stattdessen werben die großen Parteien für eine bessere, noch bessere Sicherheitspolitik im Inneren des Landes und begeistert geht das Fernsehpublikum auf telegene Verbrecherjagd.
Die Gesellschaft, wie die Krimis sie zeigen, hat nur noch entfernt mit einer alltäglich erlebten Wirklichkeit zu tun. Hier zeigt sich gleichzeitig die Maßlosigkeit des weltlichen Heilsversprechens der Moderne wie auch die tief sitzende Angst, dass dieser materielle Reichtum morgen schon zu Ende sein könnte. Und weil diese Angst so unerklärt ist, so scheinbar unbegründet und so offensichtlich nichts mit realen Vorkommnissen zu tun hat, liegt in ihr ein Wiederholungszwang. Ein Zwangsverhalten, wie wir es aus Neurosen kennen. Und hierhin gehört auch der dritte Affekt: der Argwohn, der Zweifel, der Verdacht, das Misstrauen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. „Wir können nicht betrachten, ohne zu verdächtigen“, sagt der Kulturtheoretiker Boris Groys. Der Krimi, der hinter Schichten und Schichten von Verdacht und Zweifel immer neue Abgründe findet, wird zur Metapher für das Weltverhältnis des modernen Subjektes.
Exportartikel
Das deutsche Fernsehen hatte dies offensichtlich schon früh erkannt und nicht nur und nicht erst mit der Etablierung des „Tatorts“. Davor und daneben erfand es „Derrick“ und „Der Alte“. Als Erbe des DDR-Fernsehens kam nach 1989 der „Polizeiruf“ hinzu, um nur ein paar Marken und Titel aufzuführen. Der deutsche Fernsehkrimi ist jahrzehntelang zu einem Exportartikel geworden. Über diese Filme haben ausländische Zuschauer die Deutschen und ihre Mentalität kennengelernt. Bewunderung für die deutsche Fernseh-Landschaft und ihre Kommissare spricht noch heute aus einem Artikel der „New York Times“, die ganz verwundert den Vergleich anstellt, dass die aktuell langlebigste amerikanische Fernseh-Serie 20 Jahre alt ist und wie mickrig sich die Erfolgsgeschichte von „Law and Order“ im Vergleich zu 40 Jahren „Tatort“ ausnimmt. Dass andere, ältere US-Serien wie „Columbo“ mit Unterbrechungen über 30 Jahre lang durchgehalten hat, sei der Fairness halber angemerkt.
Ausgerechnet der Kriminalfilm mit seiner Allgegenwärtigkeit und seiner Über-Präsenz ist in den Augen vieler Sender ein Unterscheidbarkeitsmerkmal für die Zuschauer, zumal in der ARD. Deren Publikum hat im Fernsehalltag ohnehin kaum überwindliche Schwierigkeiten, die föderale Struktur zu durchblicken. Die immer wieder gestellte Frage nach dem Ranking der „Tatort“-Schauspieler verschafft den einzelnen Sendern innerhalb der ARD-Konkurrenz auch ein Stück Identität. Die Namen von Intendanten mögen schnell in Vergessenheit geraten, der Name eines Götz George als Duisburger Rüpelkommissar Horst Schimanski gehört zur deutschen Fernseh-Ikonographie.
Egal, welche Rollen George sonst noch gespielt hat, welche Herausforderungen und Preise ihn auch immer noch erwarten mögen: Den Schimanski wird er nicht mehr los. Trotz seiner, oder besser gesagt – gerade wegen seiner Anstößigkeit. Dieser verlockende Ruf von „Tatort“ und Krimigenre wirkt heute noch und immer stärker auch auf Darsteller, die sich eigentlich ihre Rollen in Film und Theater aussuchen können. Im Zeitalter der Serie, mit der die deutschen Sender durchweg eher unglücklich hantieren, gewährt dieses Format den Schauspielern und Schauspielerinnen die Möglichkeit, nicht nur in einem Film Eindruck zu hinterlassen, sondern eine ganze Reihe von Filmen maßgeblich zu prägen.
Selbstreferentielle Schleife
Krimis sind aber auch Anker in der Endlosschleife von Programmen und damit in ihrer Bedeutung nur vergleichbar der „Tagesschau“. Die nicht ganz unberechtigte Hoffnung auf Profil-Gewinnung führt bei den betreffenden Sendern zu leicht nachvollziehbaren Reaktionen. Mit dem Einsatz eines etablierten Krimis sind die Programmplaner des Fernsehens ihrem Idealbild eines berechenbaren Sendeschemas ein Stück näher gekommen: Eine gute Akzeptanz ist nahezu garantiert. Zufall und andere unwägbare Faktoren sind auf ein erträgliches Maß reduziert. Was im Umkehrschluss aber auch heißt: Der große Wurf, die überraschende filmische Entdeckung wird unter den Vorzeichen des Genres und seiner Gesetze kaum gelingen.
Der „Tatort“ ist aber auch ein schönes Beispiel dafür, wie sehr das Fernsehen dazu neigt, sich in einer selbstreferentiellen Schleife zu reproduzieren. Anfang Oktober kommen im Kölner Emons-Verlag in relativ hoher Auflage die ersten sechs „Tatort“-Bücher heraus. Vom Drehbuch zum Film und vom Film weiter zum Kriminalroman: Das Alte wird in immer neuer Form reproduziert. Damit ist der Zirkelschluss perfekt. Schöner lässt sich Bewegung bei gleichzeitigem Stillstand nicht dokumentieren, besser lässt sich aber auch die Attraktivität eines Genres nicht belegen.
Damit imitiert der Kriminalfilm eine Transformation, wie sie sich zwischen Literatur und Hörbuch bereits abgespielt hat. Der Hörfunk selbst tut das Seine, um möglichst auch von der Popularität des Fernseh-Krimis partizipieren. Die jüngst erfolgte Einführung des Radio-„Tatorts“ ist als eine doppelte Reverenz zu verstehen: Ans das Genre wie an das Konkurrenzmedium.
Zielloser Stress
Auch eine relativ junge Fernseh-Kulturinstitution mag sich dem Quoten-Versprechen des Kriminalfilms nicht entziehen. Die Rede ist von ARTE, deren Programmdirektion vermutlich auch „Tatort“-Wiederholungen zeigen möchte. Bis es soweit mal kommt, behilft man sich in Strasbourg mit Repeats von „Der letzte Zeuge“ oder versammelt wie in diesem Sommer unter dem Titel „Die großen Detektive“ in einer Krimi-Reihe sehr unterschiedlicher Filme.
Trotzdem oder gerade deswegen wird in Kritikerkreisen immer wieder beklagt: Der deutsche Krimi habe keinen Biss mehr, er sei bequem geworden, zum zu oft wiederholten Abziehbild seiner selbst geworden. Die Krimi-Inflation habe genau das vernichtet, was der Krimi ein Mal geleistet habe: die Profilierung. Kulturtheoretiker schießen von einer anderen Seite. Der Krimi sorge für Berechenbarkeit trotz ständiger Anspannung. Er ergehe sich in „ziellosem Stress.“ Das Fernsehen verliere, um es mit den Worten des österreichischen Kulturwissenschaftlers Robert Pfaller zu sagen, über die Konzentration auf ein Fach, auf eine einzige Dramaturgie den „Zauber des Mondänen“. Denn der ständig wiederkehrende, aber nur zu bekannte Thrill führe zur Gleichförmigkeit und zur Ermüdung. Die feinen cineastischen Unterscheidungen zwischen film noir, film policier oder Gangsterfilm ebnen sich ein – zumindest im Fernsehen.
Die Prinzipien von Thrill und Spannung sind inzwischen in Fernsehen ubiquitär. Kein Fernseh-Magazin, das auf sich hält, kommt ohne Undercover-Agenten aus; journalistische Lockvögel, die mit versteckter Kamera die Probe aufs Exempel machen. Zu einem Spezialgebiet dieser Art von Reportage hat sich die Disziplin „Wir begleiten die Exekutive bei der Arbeit“ herausgebildet. Leute vom Amt, die Hartz IV-Empfänger wie Pizzeria-Besitzer kontrollieren und die gleichzeitig vom Fernseh-Publikum kontrolliert werden.
Erfolgsmischung
Zu Beginn seiner Erfolgsgeschichte hatte der Fernsehkrimi sich das Soziale einverleibt. Henning Mankell begann als nicht sonderlich erfolgreicher Autor für sozial-realistische Stoffe. In dem Moment, wo er dieselben Stoffe mit einer Krimihandlung versah, begann sein Aufstieg zum millionenfach verkauften und weltberühmtem Krimiautor. Das war die Erfolgsmischung. Immer mehr Substanz der bis dahin realistischen Stoffe hat das Genre seitdem aufgesaugt, um den Kommissar- und Detektivgeschichten Brisanz zu verleihen. Jetzt hat sich das Genre über die bis dahin respektierten Grenzen ausgeweitet und dringt in immer neue Formate ein. Es marginalisiert die realistischen Fernsehspiele immer weiter.
Hans Janke, in dessen Zeit als Fernsehspiel-Chef das ZDF zum „Krimi-Sender Nummer eins“ unter den großen Kanälen aufgestiegen ist, beschreibt es in der Umkehrung so: „Das sozial-realistische Erzählen hat an innerer Kraft verloren.“ Diese Skepsis lässt sich ganz konkret am Programm ablesen. Ein Sender wie das ZDF hat nicht nur viele Sendeplätze für Krimi-Formate (der eingangs erwähnte neue Krimi-Schauplatz Stuttgart lässt die „Soko“-Familie auf sieben Ableger wachsen). Nein, der Drang zum Krimi lässt auch das Kernstück des fiktionalen Programms aus Mainz nicht unberührt: Der „Fernsehfilm der Woche“ auf dem Primetime-Sendeplatz am Montag besteht mittlerweile zu einem Gutteil aus Kriminaldramen, die leicht verkappt eigene Reihen konstituieren.
Beispiel: Auf den „Mord am Meer“, damals noch von Matti Geschonneck und mit Heino Ferch, folgte „Das Geheimnis im Moor“ mit Christian Redl und kommt jetzt „Der Tote im Spreewald“, ebenfalls mit Redl als Kommissar Krüger in der Hauptrolle und märchenhafe Naturlandschaft liefert den geheimnisvollen Hintergrund. Diese Geneigtheit zum Krimi und die Verführungskraft des Krimis lässt sich nicht nur beim ZDF beobachten. Sie trifft auf alle anderen Sender ebenso zu und sie berührt jede Redaktion, wenn es um die Bestückung von Fiction-Sendeplätzen geht. Es erfordert jedes Mal Überlegung, dieser verlockenden Versuchung nicht zu erliegen. Aber einen Film mit stark krimiverwandten Zügen dort einzuplanen, gilt als durchaus legitim und ist gängige Praxis.
Spekulation mit der Spannung
Noch ein Beispiel: Im:“Boxhagener Platz“, dem Roman von Torsten Schulz, wird deutsche Geschichte, wird DDR-Vergangenheit unter schwarzhumorigen Vorzeichen behandelt.. Es fließt Blut, ein Mord ereignet sich. Gewalt ist Initial und Handlungsmotivation. Ohne die Spannung, die immer aus einem Mord entsteht, geht offenbar nichts mehr. Ist es da ein Wunder, dass ein Thriller-Spezialist wie der bereits erwähnte Matti Geschonneck sich diesem Stoff zuwendet? Noch dazu für eine Kino-Verfilmung?
Diese Spekulation mit der Spannung lässt sich auch bei einem so renommierten Autorenfilmer wie Christian Petzold wiederfinden, was ich aber als Beleg dafür werten möchte, welche Möglichkeiten ein überlegter Umgang mit Gewalt und Spannung bietet. Auch die Filme des Michael Haneke kreisen um Gewalttaten und deren Konsequenzen, ohne dass man Filme wie „Caché“ oder jetzt „Das weiße Band“ ernsthaft als Krimi wird bezeichnet können. Dazu sind die Handlungen zu rätselhaft, dazu ist der Wille nach Aufklärung zu schwach ausgeprägt.
Aber das sind leider künstlerische Ausnahmen. Für den Mainstream gilt: Die beherrschenden Prinzipien des Krimis, Verdacht und Argwohn, sind in alle anderen fiktionalen und auch dokumentarischen Formate des Fernsehens eingewandert. Selten gibt es noch einen Fernsehfilm ohne Leiche, selbst wenn die Aufklärung des Todes keine große Rolle mehr spielt.
Krise des Patriarchen
Noch eins ist auffällig: Der Krimi war und ist die Form, in der sich die weibliche Emanzipation im Fernsehen am deutlichsten durchgesetzt hat. Der Krimi ist im deutschen Fernsehen durch die vielen Kommissarinnen feminisiert worden. Es sind Frauen, die die (symbolische) Ordnung der Dinge, die aus den Fugen geraten ist, wieder herstellen. Und so verhält sich der Krimi zur Wirklichkeit der Gesellschaft zwar nicht wie das Abbild zum Original, denn im kriminalpolizeilichen Alltag sind die Dinge noch nicht so weit gediehen wie in den Medien. Dort sind die Frauen immer noch deutlich in der Minderheit. Aber mit der wachsenden Verweiblichung eines Genres legt auch der Krimi deutlich Zeugnis ab von der viel beredeten Krise des Mannes als Patriarchen. Der Mann, der – zumal im Krimi – heute eher als Zerstörer denn als Garant der Ordnung dasteht.
Weiter: Die Dramaturgie, die Weltsicht und das Vokabular des Krimis sind die Taktgeber unseres modernen Lebensgefühls. Aktuell glauben 61 Prozent der befragten Deutschen, dass die Kriminalität zugenommen habe, auch wenn die amtliche Statistik zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Als Indiz kann die auffällige Häufung von krimi-affinem Vokabular angesehen werden, das uns in der Politik auf Schritt und Tritt begleitet. Als vor ein paar Wochen nach den Landtagswahlen in Thüringen, Saarland und Sachsen sowie den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen die Wahllokale geschlossen hatten und die Medien-Berichterstattung auf allen großen Kanälen begann, da war kein Wort so häufig zu hören wie das Wort „Spannung“.
Ein eher bieder-seriöser Chefredakteur begeistert sich in seiner „Thüringer Runde“ an der schier unerträglichen Spannung, die den Zuschauer an diesem Abend erwarte. Dabei waren die deftigen Niederlagen der Ministerpräsidenten Althaus und Müller schon nach den ersten Wahl-Prognosen klar. Fraglich war allenfalls noch ihre genaue Höhe.
Re-Enactment
Ähnliches gilt für den Sport. Auffällig ist, wie etwa die Sportart Fußball sich in ihrem Reglement verändert hat, um den Erfordernissen einer medialen Spannungsdramaturgie zu genügen. Nicht zufällig werden Cup-Matches in schöner Regelmäßigkeit mit Schlagzeilen wie „Pokal-Krimi ohne Ende“ bedacht. Jede Bundesliga-Partie wird längst nach Spielschluss so theatralisch live-haft und spannungsreich nachinszeniert, als gäbe es keine aktuellen Berichte und keinen Internet-Spielstand-Ticker. Es handelt sich hier um ein Re-Enactment eines abgeschlossenen Vorgangs, dessen Spannung um so wohliger genossen werden kann, als das Ergebnis schon bekannt ist.
Überhaupt ist Re-Enactment zur dramaturgischen Allzweckwaffe auch in anderen Bereichen des Fernsehens geworden, besonders bei vielen historischen Filmen. Bei immer mehr Geschichtsfilmen – im Fernsehen wie im Kino – besteht der starke Verdacht, dass die Filmemacher die Archive der Vergangenheit nur plündern, weil deren Material so aufbereitet werden kann, dass einem inneren Ungenügen an unserer oft nur noch als virtuell empfundenen Gegenwart abgeholfen werden soll: Weltgeschichte, die sich personalisieren lässt; Dramatik, die als hautnah und authentisch empfunden werden kann.
Es ist ja nicht so, als lebten wir in einer katastrophenarmen, gar unkriegerischen Zeit. Doch sinnlich fassbar, begreiflich, nachvollziehbar sind die mörderischen Auseinandersetzungen im Irak, Afghanistan und anderswo längst nicht mehr. Weder für die handelnden Akteure noch für das Millionenpublikum daheim vor dem Bildschirm. Je undurchsichtiger und unlösbarer die Konflikte unserer Gegenwart sind, desto tröstlicher wirken Geschichtsfilme mit ihrer genau kalkulierten Dramaturgie von Spannung und Lösung, auch wenn vordergründig von großen Menschheits-Katastrophen erzählt wird. Re-Enactment in Krimi-Manier garantiert, dass hier keine großen Differenzierungen, die sich aus einem genauen Blick auf die Historie ergeben würden, den Genuss an einer schematischen Darstellung des Konflikts von Guten und Bösen trüben.
Verbotene Liebschaften
Das vierte und letzte Feld unserer Betrachtung ist das am stärksten verminte. Es ist das Feld der erotischen Lust. Auch dieser Genuss ist unter Verdacht geraten. Wie anderen Lüsten ist auch ihm „der Zahn gezogen worden“, wie der slowenische Psychoanalytiker Slavoi Zizek angemerkt hat. Im Kriminalfilm treffen wir regelmäßig auf Liebesaffären und mehr oder weniger explizite sexuelle Akte. Aber als Genre hat der Krimi ein chronisch angestrengtes Verhältnis zur Lust, weil er alles mit seinem universellen Verdacht durchtränkt.
In den Rahmen dieser Dramaturgie passen verbotene Lieben und perverse Vorlieben aller Art. Lust und Liebe führen hier zu Mord und Totschlag, zu kleineren Eifersuchtsdelikten, zu hässlichen Denunziationen, zu perfiden Intrigen. Weil der Krimi die Überschreitung von Grenzen behandelt, interessiert er sich für die Extreme der Lust in ihrer Verwandlung ins Verbrechen.
Modernste Variante ist die Vorliebe des Krimis für die Missbrauchsthematik. Die ist zu einem beherrschenden Thema des gesellschaftlichen wie medialen Diskurses geworden. Und es ist schwer auszumachen, wo hier die Henne und wo das Ei ist – eine Festlegung, die in unserer medialen Welt wohl auch gar nicht mehr möglich ist. Tatsächlich ist mit der Verbreitung des Internets zumindest die Aufmerksamkeit auf alle Spielarten des Kindesmissbrauchs gelenkt worden. Aber auch in den Nachrichten ist regelmäßig von der Entdeckung und Zerschlagung von Kinderporno-Ringen die Rede.
Die Medien haben in ihren fiktionalen Programmen das Thema längst entdeckt und deklinieren es in allen Variationen durch. Von der Verfolgung eines wahren Falls von Missbrauch bis zur fälschlichen, denunziatorischen Beschuldigung eines Täters ist dort alles zu finden. All diese Filme gehen auf einem schmalen Grat zwischen Informationsrecht und Emotionalisierung der Umstände einer solchen Tat. Natürlich bieten Spielfilme die Chance, die in diesem Fall besonders tief sitzenden gesellschaftlichen Ängste gezielt anzusprechen. Ekel und Faszination liegen auf diesem Gebiet nah beieinander.
Gier nach dem Skandal
Das Kind als das wehrlose Opfer schlechthin mobilisiert ganz andere Affekte als die vielen erwachsenen Leichen das können. Das klingt zynisch, aber Zynismus ist den modernen Medien inhärent. Die Gier nach ständiger Aufmerksamkeit wird zur Gier nach dem Skandal. Der Triebtäter und der Serienkiller befriedigen diese Gier am nachhaltigsten.
Was macht den Triebtäter so attraktiv? Fritz Langs Klassiker „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ gibt darauf die klarste Antwort. Der Triebtäter stellt sich durch seine Tat nicht nur außerhalb des gesellschaftlich legitimierten Rahmens, er steht auch außerhalb der Gemeinschaft der normalen Verbrecher. Zum Schluss jagen ihn beide einträchtig. Man kann die These wagen: Wenn eine Zeit wie die unsere auf diesen Verbrecher-Typ fokussiert, dann hat sie das Verbrechen als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit akzeptiert. Sie hat die Grenze zwischen dem, was für sie normal ist und dem, was als exterritorial angesehen wird, neu justiert. Nachdem die Verkettung von sozialen Ursachen und kriminellen Ergebnissen immer wieder erzählt worden ist, ist damit auch klar geworden, wie stark jede Gesellschaft das Verbrechen in sich birgt und wie schwer eine Grenzziehung ist.
Deutlich jenseits dieser Grenze steht der Triebtäter. Seiner Tat haftet etwas Unfassbares an. Im Innern dieses Menschen lauert das Unbegreifliche, dem sich mit Vernunft und Aufklärung nicht beikommen lässt. Er repräsentiert das Böse schlechthin. Er ist der moderne Teufel. Er ist der klassische Einzeltäter, auf den sich dramaturgisch alles Interesse, alle Abscheu oder Mitleid fokussieren lässt. Bei aller Beunruhigung darüber, das so etwas möglich ist, hat die Existenz des Triebtäters zugleich auch etwas sehr Beruhigendes. Für diese Art von Kriminalität ist die Gesellschaft nicht ursächlich haftbar zu machen, hier geschieht etwas, was außerhalb ihrer schuldhaften Verantwortung liegt.
Die postmoderne Errungenschaft dieses Genres besteht darin, das soziale Erklärungsmodell durch ein genetisches ersetzt zu haben. Früher scheiterten die Menschen an gesellschaftlichen Hindernissen, sie wurden aus Klassenhass zu Verbrechern. Heute scheitern sie an sich selbst, an ihren schlechten Erbanlagen. Wo ein genetischer Defekt vorliegt, da haben Richter nichts mehr zu melden, da schlägt stattdessen die Stunde der psychiatrischen Gutachter und der Neuro-Wissenschaftler.
Exponierte Vertreter dieser Zunft- wie der Bielefelder Hirnforscher Hans Markowitsch – sind ja mittlerweile der Meinung, in absehbarer Zeit gezielt in das menschliche Gedächtnis eingreifen zu können und Erinnerungen – etwa an unliebsame Vorgänge – auslöschen zu können. Warum also nicht auch bestimmte Hirn-Dispositionen auf medizinischem Weg aufheben und den Triebtäter auf diese Weise von sich selbst erlösen? Bis es soweit ist, gilt das alte Gesetz des Strafens, der Kontrolle und künftig das neue der präventiven Wegschließung.
Eisige Sorgfalt
Der Krimi reagiert hier seismographisch auf unsere Zeit, in der sich die Paradigmen von der Gesellschaftswissenschaft auf die der Naturwissenschaft verschoben haben. Am deutlichsten wird das, wenn man sich den unheimlichen Erfolg und die nicht minder unheimliche Reputation zu erklären versucht, die amerikanische Fernseh-Kriminalserien bei Teilen unserer Medien-Intelligenz genießen.
Nehmen wir als Beispiel die Marine-Polizeiserie „Navy CIS“, deren siebte Staffel derzeit bei Sat.1 läuft, zeitgleich am Sonntag gegen den „Tatort“ und offensichtlich als bewusstes Kontrastprogramm für ein jüngeres Publikum eingesetzt. Bei aller Anerkennung für die „eisige Sorgfalt“ (SZ), mit der auch diese US-Serie bis ins Detail in Szene gesetzt worden ist, muss doch festgehalten werden: Aus der Dramaturgie dieser wie auch anderer amerikanischer Serien spricht eine unübersehbare gesellschaftspolitische Resignation. Von den Lebenden lässt sich keine Wahrheit erfahren, deren Wahrheit ist relativ, weil immer subjektiv und von kleinlichen Interessen gefärbt. Also schlägt die Stunde der Pathologen: Die halten sich an die Toten, aus deren Überresten sich eine unbestechliche, objektive Wahrheit destillieren lässt.
Hinter dieser Selbstbescheidung steht trotz aller Witzigkeit der Dialoge und Skurrilität der Personen eine Perspektivbeschränkung. Anders als in früheren Zeiten wird nach den Worten des Kulturwissenschaftlers Robert Pfaller „ein Verbrechen nicht mehr auf seinen sozialen Tatbestand überprüft, eben entsprechend dem Gedanken, dass der Verbrecher nur durch die Gesellschaft kriminell wird. Stattdessen werden naturwissenschaftlich generierte Fakten in den Mittelpunkt gerückt. Das Sezieren sterblicher Überreste dient in Wirklichkeit der Verschließung und der Abwehr weitaus ekligerer und bedrohlicherer Fragen, nämlich nach der gesellschaftlichen Dimension des Verbrechens.“
Kein Grund zur Entspannung
Eine Serie wie „Criminal Minds“, die gleich im Anschluss bei Sat.1 läuft, macht den Übergang von klassischen Kriminalgeschichten zu ihren postmodernen Nachfolgern besondern anschaulich. Die althergebrachte Lösung des sonntäglichen Krimi-Passionsspiels, bei dem die Ordnung der Gesetze durch ein Verbrechen eine Zeitlang außer Kraft gesetzt wird, um über die Aufklärung des Verbrechens am Ende wieder machtvoll re-installiert zu werden, hat keinen Bestand mehr. Das Verbrechen – in diesem Fall der Terrorismus – wird nicht aus der Welt geschafft. Es wird in seinen Tiefen und Hintergründen nicht oder nicht mehr restlos aufgeklärt. Es bleibt ein Stück Ausnahmezustand erhalten.
Der klassische Wechsel von Beunruhigung und Ruhe gilt nicht mehr. Wir ahnen, dass kein Grund zur Entspannung vorhanden ist. Mit anderen Worten: Die Angst bleibt ständig wach. Hintergründig bei „Navy CIS“, wo die Background-Stories von Wunden und Traumata erzählen, die globale Konflikte im Nahen Osten oder in Mittelamerika in die Seelen von Opfern wie Tätern geschlagen haben. Vordergründig bei „Criminal Minds“, wo ein Bombenanschlag nur erfolgt, um falsche Spuren zu legen und vom wahren Zentrum einer noch bevorstehenden Aktion abzulenken.
Im Krimi steht immer mehr auf dem Spiel. Es ist längst nicht mehr sicher, dass die Guten mit heiler Haut davonkommen. Folge für Folge steht das Leben aller Beteiligten zur Disposition. Auch und gerade bevorzugt das Leben der Ermittler. Dass der Job eines Polizisten mit Risiken und Gefahren verbunden ist, ist bekannt und im Kino seit den Tagen von „Phantomas“ ein altvertrautes Muster. Doch die Dauer-Gefährdung, in die der Krimi seine Helden versetzt, ist schon sehr auffällig. Ohne dass der Detective sich selbst und seinen Körper im Kampf um die Wahrheit und die Rettung des Landes einbringt, scheint kaum noch ein Krimi zu funktionieren.
Der Ermittler wird zum Täter
Das gilt nicht nur für die hochgelobten amerikanischen Serien, die deutschen haben da mittlerweile nachgezogen. Der Kommissar, der in die Gewalt eines Verbrechers gerät und ihm hilflos ausgeliefert ist, ist zum Stereotyp vieler Krimi-Plots geworden. Der Ermittler, der selbst zum Opfer wird, ist eine Figur, die beim Zuschauer enorm viel Mitgefühl und Spannung auslöst und in dieser außerordentlichen Notlage erscheint dramaturgisch auch das schärfste und letzte aller polizeilichen Mittel nur angemessen: Der Todesschuss, in Deutschland finaler Rettungsschuss genannt.
Damit schließt sich ein fataler Kreislauf: Der Ermittler wird selbst zum Täter. Und obwohl dieser Schuss dienstlich erlaubt und angemessen ist, wird der Schütze im moralischen Sinn schuldig. Eine Schuld, die ihn später unweigerlich wieder einholen wird. Und ein neuer tödlicher Zirkel setzt sich in Bewegung.
Der moderne Kriminalfilm amerikanischer Prägung ist von einer ungeheuren Verdichtung und Beschleunigung gezeichnet. Vor lauter Sehnsucht nach der kriminellen Tat und lauter Gier nach atemloser Spannung wird alles redundant, was nicht direkt mit dem Verbrechen, seiner Anbahnung und seiner Verfolgung hat. Sozialer Realismus verflüchtigt sich bis in Spurenelemente, die sich auf Indizien von Herkunft und Lebensumstände beschränken.
Innerhalb des Krimis kann es gar nicht genug Krimi geben. Was – bei Licht besehen – nicht ohne groteske dramaturgische Verrenkungen und Glaubwürdigkeitsverluste abgeht. Nehmen wir als Beispiel die Folge „Wenn einer trägt des anderen Last“ aus der BBC-Serie „Inspektor Lynley“. Da rückt ein angeblich berühmter Menschenrechtsanwalt ins Fadenkreuz der Ermittlungen. Das Prädikat, Retter unterdrückter ethnischer Minderheiten zu sein, bewahrt den Juristen nicht davor, als Frauenmörder verdächtigt zu werden. Noch dazu als Wiederholungstäter.
Gesellschaftliche Paranoia
Krimis wie dieser fühlen sich magisch angezogen von Tabuthemen und sexuellen Perversionen. Diese Filme bergen keine Wahrheit mehr in sich, die Aufklärung eines Falls ist eher Routine denn Krönung der Handlung. Sie sind Manifeste einer gesellschaftlichen Paranoia. Müllplatz oder Zwischenlager von abstrusen Ängsten und bodenlosen Gewaltphantasien. Die Vermengung von Themen, Handlungsfäden und Schauplätzen trägt noch mal zur Spannungssteigerung bei.
Gegen Schluss noch mal ein Beispiel, das mich womöglich als Nostalgiker erscheinen lässt, aber der Kontrast zur Gegenwart ist so auffällig, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte: Altmodisch und gleichzeitig aufschlussreich war die Begegnung mit Jean Gabin als Kommissar Maigret, am vergangenen Sonntag bei ARTE. In Jean Delannoys Film „Kommissar Maigret stellt eine Falle“ aus dem Jahr 1958 ist ausgerechnet ein Serienmörder der Gegenspieler der berühmten Simenon-Figur.
Dieser Kommissar hat keine Fähigkeiten, die ihn zum Spezialisten machen. Ihm sind naturwissenschaftliche Erkenntnisse fremd, aber Maigret hat etwas anderes: Er hat Menschenkenntnis. Man glaubt ihm auf Schritt und Tritt, dass er sich Jahre seines Polizisten-Lebens auf der Straße, auf Bahnhöfen und im Rotlicht-Milieu aufgehalten hat. So drückt es sein Schöpfer Simenon im Interview aus und so stimmt es: Diesem Kommissar ist nichts Menschliches fremd.
Allein diese Erfahrung versetzt ihn in die Lage, den vierfachen Frauenmörder zu überführen. In einer Art psychotherapeutischer Sitzung, gemischt aus subtilem Terror und ständiger Beruhigung, bringt er den Täter zum Geständnis. Der Mörder: Ein Metzgersohn, der nicht Metzger werden wollte, und der lebenslänglich ein armes Würstchen war. Nebenbei: Was dieser alte Kinofilm an sozialrealistischen Detailbeobachtungen aus einem vor-modernen Paris liefert, macht ihn 50 Jahre nach seinem Entstehen zu einem lehrreichen wie aufregenden Zeitdokument.
Tanzplatz des Teufels
Zeit, ein Fazit zu ziehen. Der philosophische Zweifel begleitet die Geisteswissenschaften und die Erkenntnistheoretiker quer durch die Kulturgeschichte. Doch auffällig ist, welch eine Wendung ins Finstere dieser Zweifel in der Moderne genommen hat. Nicht mehr allein das Subjekt und seine Möglichkeiten stehen in Frage. Plötzlich erscheint die gesamte Welt als eine dunkle, nicht mehr präzis fassbare Bedrohung. Hinter der Oberfläche verbirgt sich Unbekanntes und in diese tieferen Schichten vorzudringen, bringt vieles, aber auf keinen Fall das Gute zum Vorschein.
Man kann dies interpretieren als die moderne Fassung des alten religiösen Glaubens, wonach die Welt der Tanzplatz des Teufels ist. Nur gibt es keinen Gott und kein Jenseits mehr, wo Heil zu finden wäre. Die Unruhe und der Zweifel treiben den Menschen unerbittlich vorwärts und seine Neugier, der er schon die Vertreibung aus dem Garten Eden verdankt, drängt ihn dazu, unermüdlich nach der Logik hinter den Erscheinungen zu fragen.
Die moderne Arbeit am Sinn ist die Arbeit des Dechiffrierens und Demaskierens. Doch das Ergebnis dieser Arbeit ist alles andere als erbaulich. Eine Menschheit, der die positiven Utopien weitgehend abhanden gekommen sind, stößt bei ihrer Suche nach Sinnhaftigkeit von Leben und dem Wesen der Natur beinahe zwangsläufig auf immer neue Schichten von Schmutz. Auch der Glaube an das Numinose, an das außerirdisch Göttliche, das noch die David-Lynch-Serie „Twin Peaks“ auszeichnete, lebt nur noch in amerikanischen Mystery-Serien wie „Akte X“ fort.
Sozialrelevantes Inszenieren
Für die Düsternis unserer Zeit wird der Krimi zur beherrschenden Metapher und Leitfigur. In ihm kommt nicht nur im soziologischen Sinn die Krankheit unserer Gesellschaft ins Bild, er wird darüber hinaus zum medialen Auslöser unserer Affekte, ohne die wir unser Leben als banale Reihe von bedeutungslosen Tagen leben würden. Denn der Affekt als das, was vom Gefühl übrig geblieben ist, ist die bescheidene Existenzform des modernen medialen Subjektes.
Zum Schluss noch etwas Persönliches: Ich habe als Redakteur noch nie einen „Tatort“ oder eine Krimi-Serie betreut. Das war meine freie Entscheidung. Im Gegensatz zu meinem alten Freund Hans Janke bin ich nämlich der Meinung, dass das soziale Erzählen nicht an innerer Kraft verloren hat. Es mag in eine Krise gekommen sein und sich Elemente des Krimis wie zur Verjüngung injiziert haben. Aber: Jede dramatische Form kommt mal in eine Krise und das wird auch dem Krimi nicht anders ergehen. Andererseits: Auch wenn sozialrelevantes Inszenieren heute nicht umhinkommt, die verbrecherischen Elemente von Wirklichkeit mit zu bedenken und zu inszenieren, so liegt sein Fokus doch nicht auf der Aufklärung eines Verbrechens, sondern in der Möglichkeit, sich dazu zu verhalten und trotzdem sein Leben zu leben. Deswegen liebe ich – um nach dem alten Maigret-Film auch ein aktuelles Beispiel zu geben – einen Film wie Paolo Sorrentinos „Il Divo“ mit seiner elliptischen Erzählweise, die der Unübersichtlichkeit der italienischen (und nicht nur italienischen) Politik so angemessen ist. Umgekehrt empfinde ich einen Mafia-Krimi, in dem der Ehrenwerten Gesellschaft gnadenlos aufklärerisch der Prozess gemacht wird, als hilflos und redundant.
Krimi ist zwar ein Element unserer Gesellschaft, aber nicht die Metaphysik unserer Gesellschaft.
Autor: Michael André
Vortrag: TATORT EIFEL, 11. bis 20. September 2009, Daun, Krimifestival in der Vulkaneifel
Text: veröffentlicht in epd Film
- Johannes Willms: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert - 4. November 2019
- Clemens Klünemann: Sigmaringen. Eine andere deutsch-französische Geschichte - 19. September 2019
- Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert - 1. August 2019
Schreibe einen Kommentar