Das Hans Otto Theater hat durch seine Lage einen Vor- und Nachteil zugleich: die Nähe zu Berlin. Der Nachteil: die Konkurrenz ist enorm. Potsdamer Theaterbegierige reisen schnell mal in die Hauptstadt und zurück. Die Berliner reisen ungern. Es dürften weniger sein, die von dort nach Potsdam ins Theater eilen als umgekehrt. Was den Berlinern schadet. Denn das Hans Otto Theater, gesegnet mit einem Ensemble starker Schauspielerinnen und Schauspieler, lohnt den Besuch sehr viel häufiger als beispielsweise das Deutsche Theater Berlin.
Nachdem vor kurzem erst Shakespeares „Was ihr wollt“, inszeniert von Michael Talke, die Premiere war am 28. März, ins Potsdamer Hans Otto Theater lockte, und die Reise mit aufregend-anregendem Schauspiel belohnt wurde, ist nun Arthur Schnitzlers „Komödie der Verführung“ zu empfehlen. Inszeniert hat der Intendant Tobias Wellemeyer, dessen Adaption von Solschenizyns „Krebsstation“ noch in bester Erinnerung ist.
Das von Wellemeyer nun herausgebrachte Stück, uraufgeführt vor 90 Jahren in Wien, seither so oft nicht gespielt, hat einen irreführenden Titel: weder geht’s komödiantisch zu, noch feiert die Lust an (etwa erotischer) Verführung ein Fest. Allenfalls ist ein Schlachtfest zu sehen, vom Autor kurz vor dem Weltbrand 1914 angesiedelt, in Potsdam nun klug und unaufdringlich im Hier und Heute angesiedelt, da wir ja wieder fleißig den Tanz auf dem Vulkan zelebrieren, Bankenkrise und militärische Auseinandersetzungen inklusive.
Erzählt wird von Verlierern, von Menschen, die in ihrer Selbstsucht viel Zerstörung anrichten, oftmals an sich selbst, von Typen, die nur das eigene „Ich“ sehen, nie das Gegenüber. Die Schlüsselfigur taucht am Anfang als so etwas wie die Gastgeberin einer Wohltätigkeitsgala auf: Franziska von Degenbach. Rita Feldmeier, die Grande Dame des Hans Otto Theaters (die man endlich einmal wieder in einer ganz großen Rolle sehen möchte!), entlarvt sie mit brillantem Understatement als dem Alkohol und stoischem Pragmatismus ergebene „Dame der Gesellschaft“, die von Politik nichts wissen will, die auch sonst nur wenig weiß, abgesehen davon, wie’s sich mit viel Geld gut leben lässt, ohne Rücksicht auf Verluste. Diese von Degenbach zeigt stets Haltung, nimmt aber nie zu etwas oder jemandem Stellung. Sie hält sich raus, aus allem, und das bewahrt sie davor, anders als nahezu jedermann und jedefrau im Stück, unterzugehen. Auch wenn sie am Ende gar nicht mehr auftaucht, meint man im bitterbösen Schlussbild doch ihr giftiges Lachen zu hören. Es ist das scheußliche Lachen derer, die im eigenen Dunstkreis den Duft der großen Welt zu wittern meinen.
Mit dem Schlussbild, der verzweifelten Umarmung zweier sich Liebender, die zueinander nicht können, weil sie zu einander nicht ehrlich sein können, sind unter Tränen viele Opfer, gar Tote, zu beklagen. Da sich Claudia Renner (als Seraphine, eine Geigerin) und Dennis Herrmann (in der Rolle des lebensuntüchtigen Lebemanns Max) schluchzend in den Armen liegen, triumphiert die menschliche Dummheit (die sich in Gier jeder Art zeigt) über das, was wir so gern als Mitmenschlichkeit oder auch Nächstenliebe bezeichnen. Als Zuschauer wird einem da erschreckend klar: Wir sind nicht nur Zeugen der unheilvollen Umarmung, wir sind dabei, tun mit, wenn wir uns dem Rausch der heutigen Profitraserei ergeben, dem Rausch nach den Uraltgesetzen, die unter dem Schlagwort „Brot und Spiele“ bekannt sind.
Star des Abends, wiewohl sämtliche Mitwirkenden exzellent agieren, ist zweifellos die in Potsdam schon vielfach zu Recht umjubelte Melanie Straub im Part der erst leicht somnambul, später dann schlichtweg geistesgestört wirkenden Aurelie von Merkenstein. So wie hier gezeigt, darf man ihr Gestört-Sein als Folge der gesellschaftlichen Normen und Zwänge, vor allem dem zur Anpassung an die Regeln des Funktionierens, begreifen. Melanie Straub setzt auf leise Töne, auf nervöse Anspannung, auf das Schweigen in langen Pausen – und erzielt damit sensationelle Effekte ohne Effekthascherei. Große Schauspielkunst voll prallem Mensch-Sein, was (Straub zeigt es so, dass man eine Gänsehaut bekommt) oft eben auch heißt, zum Menschlein zu verkümmern.
Regisseur Wellemeyer, der von Bühnenbildner Harald Thor, Kostümgestalterin Tanja Hofmann und durch die Musik von Markus Reschtnefki prachtvoll in seinen Intentionen unterstützt wurde, tat gut daran, seinen Schauspielerinnen und Schauspielern zu vertrauen. Er lässt sie ohne Kreischen und Toben agieren, lässt sie die Suggestivkraft des Leisen entfalten, und, ganz wesentlich, er erlaubt ihnen, den Figuren Geheimnisse zu lassen. Das macht aus dem Theaterabend einen Abend für Zuschauer, die sich gern emotional packen lassen, die dabei aber das Denken nicht abschalten. Wer gutes Theater sehen möchte, sollte sich diese Schnitzler-Adaption auf gar keinen Fall entgehen lassen!
Peter Claus
Komödie der Verführung
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