Nahezu alle Kritikerinnen und Kritiker sind sich einig: dieser Spielfilm wird als unvergesslich in die Geschichte des Kinos eingehen. Das Etikett „Meisterwerk“ ist wirklich angebracht. Abgesehen von der, vor allem mit abstrusen Entscheidungen aufgefallenen, Jury eroberte Richard Linklater auch das weithin als kritisch geltende Publikum der diesjährigen Berlinale im Handstreich. Der Jubel war enorm.
Schon mit „Before Sunrise”, „Before Sunset” und „Before Midnight“ hat Linklater Ungewöhnliches geboten. Die zwischen 1995 und 2013 entstandene Trilogie spiegelt, jeweils im Abstand von fast einem Jahrzehnt, die Lovestory einer Französin und eines US-Amerikaners. Es ist von großem Reiz, den Wandel der Figuren in den Zeiten zwischen den Filmerzählungen zu beobachten. Mit „Boyhood“ wagt Linklater noch mehr: Von 2002 bis 2013 traf er sich etwa einmal jährlich für jeweils wenige Tage zum Dreh mit einigen Schauspielern, um Kindheit und Jugend des Mason Jr. (Ellar Coltrane) von Beginn seiner Schulzeit bis zum Studienstart zu verfolgen. Die Erzählung beginnt damit, dass die alleinerziehende Mutter Olivia (Patricia Arquette) mit ihren zwei Kindern, Samantha (Lorelei Linklater) und Mason Jr., von einer Stadt in eine andere zieht. Für den sechsjährigen Jungen ist das nicht so einfach. Immerhin aber können er und seine Schwester nun gelegentlich mit ihrem Vater Mason (Ethan Hawke), einem lebenslustigen Tausendsassa, zusammen sein. Viele ähnlich kleine Ereignisse mit gelegentlich großen Folgen bestimmen die nächsten zwölf Jahre für den heranwachsenden Mason: die Versuche der Mutter, neue Partnerschaften aufzubauen, ihre beruflichen Fortschritte, Umzüge und Schulwechsel, Ausflüge mit dem Vater, die erste Liebe, Schulabschluss und der Beginn des Studiums. – So unspektakulär, wie sich das liest, ist der Film tatsächlich. Doch natürlich ist es schon sehr besonders zu sehen, wie aus zwei Kindern junge Erwachsene werden, wie sich die Generation der Eltern und Großeltern im Lauf der Jahre verändert. Das allein reichte selbstverständlich nicht, um es zu packen. Es ist die geschilderte Lebensgeschichte, die fesselt, noch mehr jedoch ist es die Art, wie das geschieht. Linklater verzichtet dabei auf ein zeitliches oder sonstiges Schema. Scheinbar wahllos wirken die Zeitsprünge, mal kurz, dann wieder recht lang. Doch der Film mutet wie aus einem Guss an. Denn es gelingt, den Reifeprozess der Protagonisten sehr genau zu spiegeln. Irak-Krieg, Harry-Potter-Rummel oder Barack Obamas erster Wahlkampf um das Amt des US-Präsidenten, technische Entwicklungen, etwa im Bereich von Spielekonsolen, und Phänomene der Popkultur dienen als zeitliche Wegweiser, die angenehm unaufdringlich eingesetzt sind.
„Unaufdringlich ist ein entscheidendes Stichwort. Grelle Effekte bleiben aus. Selbst die Auseinandersetzung mit dem Thema Alkoholismus, Olivias zweiter Ehemann erweist sich als gewalttätiger Säufer, bleibt recht verhalten. Wie überhaupt das gesamte Kaleidoskop eher pastellfarben ist. Da gibt es schöne und traurige Momente, es gibt das ganz alltägliche Mit- und Umeinander einer Familie, wie es wohl Millionen Kinogänger kennen dürften. Doch so schön und packend wie Linklater und seine Crew kann wohl kaum jemand davon berichten. Viele Szenen bleiben im Gedächtnis. Da ist etwa jene, wenn Olivia all ihren Mut zusammen nehmen muss, um sich und ihre Kinder vor der Brutalität ihres Ehemannes Nummer zwei zu retten. Oder die Momentaufnahmen kindlicher Konkurrenz der Geschwister. Oder wenn Vater und Sohn über den Wert der Liebe reden.
Rundum zeigt sich, dass Richard Linklater ein exzellenter Drehbuchschreiber ist, dessen Dialoge stets lebensprall aber nie papieren sind. Und seine Darsteller sind einfach grandios. Bei Patricia Arquette und Ethan Hawke verwundert das nicht. Bei Lorelei Linklater und Ellar Coltrane hingegen sehr. Zu allen Begabungen kommt bei Richard Linklater offenbar auch die dazu, schon bei Kindern spüren zu können, ob sie einmal zu Charakterinterpreten heranreifen werden. Man sitzt im Kino und schwelgt.
Peter Claus
Boyhood, von Richard Linklater (USA 2014)
Bilder: Universal
- „Rosenmontag For Future“ Oder: Lachen schult das freie Denken - 9. Februar 2020
- Thilo Wydra: Hitchcock´s Blondes - 15. Dezember 2019
- Junges Schauspiel am D’haus: „Antigone“ von Sophokles - 10. November 2019
Schreibe einen Kommentar