Die Toten auf ihre Plätze!
Über Herlinde Koelbls Fotoprojekt „Targets“ als Buch und als Ausstellung, den Russe Arkade Babtschenko und Clint Eastwoods „American Sniper“
Hundert Jahre her ist der Beginn des Ersten Weltkrieges. Mehr als hundert Millionen Menschen sind seitdem in Kriegen gestorben, die so zahlreich sind, dass kaum jemand Buch über die Opfer führen will. Der Kriegsveteran als Protagonist, gerade auch im Kriminalroman, erlebt eine Renaissance, dies noch hin bis zu der für Populärmythen besonders empfänglichen F.K. Rowling. Unter dem Pseudonym Robert Galbraith schrieb sie übereinen Privatdetektiv namens Cormoran Strike, der ein Bein in Afghanistan ließ (siehe auch die Crimemag-Besprechung „Rowlings Kuckucksei“). Am 19. Juni wird der zweite Cormoran Strike-Roman erscheinen, „The Silkworm“, bei uns im November 2014 dann bei Blanvalet.
Man vergleiche mit dem gerade in der ARD zu später Stunde ermittelnden, modernisierten „Sherlock, dessen Watson ebenfalls versehrt aus dem Afghanistankrieg heimkehrte “ (wer Benedict Cumberbatch und Martin Freeman noch nicht erlebt hat, hat etwas versäumt). Von den Frontsoldaten Chandler, James M. Cain und Willeford bis zu den Figuren Wambaughs, Crumleys, James Lee Burkes und vieler anderen zieht der Krieg seine Furchen in der Kriminalliteratur.
Allem medialen Großaufgebot zum Trotz aber ist er uns immer noch so fern, der Krieg. So uneigentlich. So entkörperlicht. So ohne eine derart ins Mark gehende Anschauung, die das menschliche Stammhirn, die atavistische Wurzel unserer Zivilisation, auf immer kollektiv davon heilen würde. „There is no ‚modern‘ world“, sagt der keineswegs dumme und in viele Konfliktgebiete gereiste Robert B. Kaplan in seiner aus der Bush-Zeit stammenden Streitschrift „Warrior Politics“ (2002), dem er ein Sun-Tzu-Zitat voranstellte: „Es wird jene Seite den Sieg erringen, die weiß, wann es Zeit ist, zu kämpfen und wann nicht.“ Krieg ist immer noch eine Kraft, die uns Sinn gibt – „War Is A Force That Gives Us Meaning“, betitelte der Auslands- und Kriegskorrespondent Chris Hedges ebenfalls im Jahr 2002 seine Reflexionen. Wie sagt Käpt“n Ahab doch in „Moby Dick“: „… all my means are sane, my motive and my object mad.“
Nüchtern. Sachlich. Brutal. Banal.
Nein, auch Herlinde Koelbls großer und bedeutsamer Fotoarbeit „Targets“ wird es nicht gelingen, dem Töten Einhalt zu gebieten. Nur die Toten, wusste Platon, haben das Ende des Krieges gesehen. Aber Herlinde Koelbl hat immerhin einen Ansatz gefunden, der Entkörperlichung des Krieges an eine ihrer Wurzeln zu gehen und dem Phänomen visuellen Ausdruck zu geben. In fast 30 Ländern hat sie in mehrjähriger Arbeit auf Armeestützpunkten Zielscheiben und Schießplätze fotografiert. Extrem nüchtern. Sachlich. Brutal. Banal. Alltäglich.
Zuerst habe ich diese Fotografien in Buchform gesehen. Jeder, der schon einmal eine Waffe auf etwas angelegt hat, sollte vor der nächsten Munitionsausgabe verpflichtet werden, das großformatige Buch „Targets“ durchzuschauen. Es ist ein wuchtiges, wichtiges Werk. Dann bin ich in Berlin am Voreröffnungstag in die dazugehörige Ausstellung im Deutschen Historischen Museum geraten, habe miterlebt, wie Herlinde Koelbl gerade einen prominenten amerikanischen Besucher durch die zwei Stockwerke der „Targets“ führte, ruhig und ziemlich stumm, an den Reaktionen interessiert, am männlichen Blick auf diese dokumentierte Zielscheibenwelt, hinter der doch so viel mehr steckt als Pappe, Blech, Papier und Plastik.
MOUTs = Military operations in urban terrain
Der Besuch lohnt alleine schon dreier Blickachsen wegen und einer Videoinstallation. Auf der unteren Ebene (es ist der 1. Stock des Museums) finden sich zwei wie Schießgalerien wirkende, langfluchtige Räume, die Decken niedrig, die Lichtgestaltung den Blick nach vorne führend, dabei aber jedes der vielen seitlichen Einzelbilder interessant. Steigt man dann auf einer Seitentreppe eine Etage höher, fällt der Blick auf ein verstörendes Foto (im Buch auf Seite 95). US-Soldaten sammeln vor einem zerschossenen Fahrzeug Körper und Körperteile auf. Diese Mikrosekunde hallt nach, die es braucht, die Zerfetzten als Dummies zu identifizieren. Im Nachblick wirkt die einzige Szene dieser Art im ganzen Konvolut wie ein Filmstill, wie ein Foto vom Set, ein Moment zwischen den Dreharbeiten, in dem die Requisiten wieder hergerichtet werden. Eines der schönsten Filmbücher überhaupt, Gregor von Rezzoris Filmtagebuch von 1966 über die Dreharbeiten von Louis Malles „Viva Maria“ (mit großzügig-frivolen Beigaben der mexikanischen Revolution) lässt hier makaber grüßen: „Die Toten auf ihre Plätze!“ (Volker Schloendorff übrigens war damals als Regieassistent dabei.)
Der zweite Stock versammelt eine ganze Reihe von Übungsorten für MOUTS (Military operations in urban terrain). Mehr noch als wir weiß das Militär schon längst, dass der Krieg in die Städte kommt – und übt entsprechend. Die im amerikanischen Trainingscenter Fort Irwin / Kalifornien aufgebaute arabische Stadt „wurde von Hollywood-Designern entworfen, Moscheen mit goldenen Kuppeln überragen die Häuser, künstliches Obst und Gemüse liegt in den Läden aus, Teppiche zum Verkauf sind an die Wand drapiert. Beim Metzger hängt ein Lamm aus Plastik am Haken, auf dem Hackstock liegt noch Fleisch. Es ist ein Vertrautmachen mit der realen Umgebung ihres nächsten Auslandseinsatzes“, beschreibt Koelbl das in ihrem Vorwort. Im französischen Sisonne gibt es eine neue Anlage mit Dorfplatz, Läden und Boulangerie, die Straßen heißen mehr als 50 Jahren Frieden zum Trotz „Berliner Straße“ oder „Universitätsstraße“. Und überall Ziele, an denen Soldaten konditioniert werden. Nicht zu schießen lernen sie dort, sondern zu treffen. In einer kanadischen Ausbildungsfibel von 1951 hieß es: „The problem is not to STOP fire, but to start it.“ Diese Stelle verdanke ich Joanna Bourkes „An Intimate History of Killing“ (Granta, London 1991).
Die Hemmschwelle zu senken, wirklich drauf zu halten – jeder, der je mit scharfer Munition geschossen hat, weiß um dieses Hitzegefühl. I don’t want a teenage queen / All I want is an M 14…, heißt der wohl bekannteste Drill-Song der US Marines. Kubrick lässt ihn in „Full Metal Jacket“ wieder und wieder singen.
Dann die Einblendung: „Justify your actions“
Und dann steht man zum Abschluss des Rundganges selbst mittendrin. Wer sich in die auf vier Leinwänden spielende Videoinstallation begibt, betritt sie auch körperlich, die Welt der „Targets“. Zu den 22 Kilo ihrer Ausrüstung, meist fotografierte Herlinde Koelbl mit Leica, gehörte auch eine Videokamera. Allermeist musste sie eingepackt bleiben, aber an einigen Orten waren auch Filmaufnahmen möglich. Keine Ahnung, was Harun Farocki aus dem Material gemacht hätte, an Sprödigkeit und Nüchternheit jedenfalls steht ihm die filmende Fotografin nicht nach. Zu Beginn sieht man einen eigens konstruierten Besen große Mengen Patronen zusammenfegen, Zielscheiben fahren vor und wieder zurück. Darunter auch ein Schäferhund. Das Geräusch von Kugeln auf Blech. Ein lautlos auf Gummirädern vorfahrender Zieltorso, der irgendwie sardonisch lächelt. Eine in Kompaniestärke plötzlich aufklappende Feindesfront. Umgekippte, hilflos liegende Hartplastikköpfe, voller Kugelpockennarben, noch lange einsetzbar. Rostende Eisenplatten in Silhouettenform. Verbeulte Fässer. Eine Zielperson, einmal mit Bierflasche, einmal mit Pistole in der Hand. Ein Ausschnitt aus einem Übungsfilm: Eine Frau, die gerade aus dem Auto aussteigt mit etwas in der Hand. Dann die Einblendung: „Justify your actions“.
Ist das zulässig? Ist das richtig? Darum geht es in vielen Facetten von Buch und Ausstellung. Darum geht es im Überbau. Nicht viele Ausstellungen (und zuvor die Projekte) erfahren so viel Unterstützung. Mit dabei sind die Körber- und die Bosch-Stiftung, das Auswärtige Amt und besonders Walter Steinmeier gehörten dazu, die Bundeswehr, ihre Verbündeten und andere Streitkräfte. Die Genehmigungsgeschichte füllt Ordner. Die Subversion des Unternehmens hat also gewiss ihre Grenzen.
Es gibt eigene Ausstellungsführungen für Bundeswehr- und Polizeigruppen. Natürlich auch für Schüler. Im Herbst dann diskutiert die Künstlerin mit Wissenschaftlern und Militär in einer Begleitveranstaltung über „Schießen für den Frieden?“
Testimonials, klassenzimmergeeignet
Am Anfang von Herlinde Koelbls Arbeit stand die Erinnerung an ein vor 30 Jahren aufgenommenes Schwarzweiß-Foto, eine verwittterte Schießscheibe in einer Ackerfurche, für eine Geschichte über die Bundeswehr entstanden, nie veröffentlicht. Es findet sich im Buch auf Seite 8. „Auf einem der großen international genutzten Trainingsplätze sah ich keine Figuren mehr als Übungsziele. Die Soldaten selbst waren die Ziele“, berichtet die Fotografin und wurde aufmerksam für Simulationssysteme und all die mit dem Draufhalten auf Ziele unumgängliche Desensibilisierung. Daraufhin porträtierte Koelbl auch Soldaten. Die Ausstellung zeigt neben den Targets viele nah heran geholte Gesichter. Allerweltgesichter, halt behelmt. Killer sind das nicht. Einer Fotografin entgegenzublicken ist etwas anderes als auf ein Target anzulegen. Hörstationen und Zitate geben Soldaten eine Stimme. Auch das Buch unternimmt diese Gegenüberüberstellungen und strengt sich an, die Kriegs- und Schießrealität in Testimonials zu fassen. Ich persönlich finde dies den schwächeren Teil der Arbeit. Es wirkt wie ein etwas aufgesetzter Versuch, all dem eine Rationalität und letztlich Beherrschbarkeit zu geben. Betroffenenprosa. Ist wirklich noch jemand davon schockiert oder aufgerüttelt von Bekenntnissen wie:
„Ich habe nie Schuld empfunden, Leute zu töten, die den Tod verdienten. In meinen Augen haben sie den Tod verdient, weil sie der Feind sind. Ich bin darauf trainiert, so zu denken.“
Oder: „Als Soldat bin ich bereit, jemanden zu töten, aber auch, getötet zu werden. Das gehört zum Geschäft.“
Oder: „Ich würde für die Kameraden mein Leben geben. Das ist zwar eine schwere Entscheidung, aber ich würde es tun. Ich habe Frau und vier Kinder, eine gute Familie, aber ich würde es machen. Weil das Schuldgefühl, nicht geholfen zu haben oder sich nicht geopfert zu haben, viel schwerer auf einem lastet als das Opfer an sich.“
Frieden schließen? Aber wie bloß?
Solche Sowohl-als-auch-Girlanden machen die Ausstellungsräume letztlich sogar für die großkoalitionär konsenshafte Verabschiedung von Militärkräften in Krisengebiete tauglich. Ja, Krieg ist schlimm und verrückt, aber das macht uns ja gleichzeitig auch unschuldig, weil wir mit etwas Verrücktem Gutes erreichen wollen. Das Buch setzt auf solch besänftigend erträglichen Realitymix noch einen drauf und lässt Gerry Adams in der Mitte einen ziemlich sozialdemokratischen Text über „Frieden schließen“ schreiben. Wie weit doch die edle Theorie und die Wunden der Praxis auseinander liegen zeigt die kürzliche Verhaftung Gerrys, der unlängst ziemlich ungemütlich seiner Vergangenheit wieder zu begegnen hatte. Ein Forschungsprojekt am Harvard College zur oral history der irischen „Troubles“ brachte ihn vorübergehend ins Gefängnis, wo er wegen der von ihm mit zu verantwortenden Hinrichtung einer Witwe und Mutter von zehn Kindern bis zu siebzehnstündige Verhöre durchzustehen hatte.
Meinetwegen kann man aus Buch und Ausstellung auch so etwas wie eine Kolonialgeschichte der Schießscheiben lesen oder eine Evolution der „Faces of the Enemy“ beobachten, wie Sam Keens Standardwerk aus dem Jahr 1986 heißt, in dem er dem Wandel der Feindbilder und deren Konstruktion nachging. Herlinde Koelbl sinniert in ihrer Einleitung über Frieden und Verantwortung, sucht nach Sinn und vernünftigem Zweck in dieser bewaffneten, schießbereiten Welt.
Arkadi Babtschenko erdet das – auf seine Art
Was „Targets“ für mich – neben natürlich Herlinde Koelbls Fotografien – zu einem aufbewahrenswerten Buch macht, ist der Text „Der Kreis des Krieges“ von Arkadi Babtschenko, der den Band abschließt und all der darin dokumentierten Entkörperlichung die sensorische Realität des Krieges und des Tötens zurückgibt. Der das alles erdet. Ein Text, der einen anspringt.
„Die ganze Romantik, die du in den Büchern gelesen hast, wird mit dem ersten Getöteten zur völligen Scheiße. Du blickst auf verbrannte, zerfetzte Menschen und du kapierst, dass du nicht der Mittelpunkt des Universums bist. Zu leicht lässt du dich töten. Du bist nichtig … Gerade noch waren zehn Mann da, und nun sind sie weg. Alles geschieht blitzartig. Die Kraft, die dreißig Tonnen schwere Panzer in Stücke reißt, wirkt lähmend. Du kannst einem 152-Millimeter-Geschoss unmöglich deinen Willen aufzwingen. Hier bist du nicht der Boss.“
Ursprünglich 2011 in „Letter International“ erschienen, geben diese vier Seiten sprödest gesetzten Textes – die asketische Textebene des Buches verlangt mönchische Hingabe – all dem gerade Gesehenen eine Wucht, wie jedenfalls ich sie literarisch selten erlebe. Da ist es dann auch egal, dass die blassen Textspalten des Buches 16 cm breit und diese Textblöcke 23,5 cm hoch sind, keine einzige Leerzeile haben und die normale Augenschweifspanne ganz schön strapazieren.
Der hierzulande viel zu wenig beachtete und bekannte Arkade Babtschenko ist einer der allerwichtigsten Schriftsteller in Sachen Krieg. 1977 geboren, wurde er mit 18 zum Militärdienst eingezogen, musste ein halbes Jahr später im ersten Tschetschenien-Krieg kämpfen. „Eigentlich bin ich nie daraus zurückgekehrt, ich bin dort verschollen“, sagt er über sich und seine Zeit in Grosny und Umgebung. In den zweiten Krieg dort zog er dann freiwillig, als Söldner, für 900 Dollar im Monat. Seine Texte bersten vor Unmittelbarkeit und Sinneseindruck. Wie kaum sonst wo rückt einem bei ihm der Krieg auf den Leib, auf die Haut, durchdringt Nase und Magen, Ohren und Gaumen, lässt Adrenalin hochschießen.
„Der Krieg“, weiß Babtschenko, „ist anziehend, so wie jede Missgestalt anziehend ist.“
Hier ein Zitat: „Den stärksten Eindruck hinterlässt der Geruch. Im Krieg ist er ganz anders. Er lässt sich nicht beschreiben und mit nichts verwechseln. Ein Gemisch aus Dieselabgasen, Staub, bitterem Brandrauch und weiß der Teufel was noch. Manchmal mischt sich Leichengeruch bei. Das Blut hat nicht nur eine eigene Farbe, sondern auch einen eigenen Geruch. Es sind Gerinnsel, es lebt noch. Ist eine Arterie durchschlagen, so sieht das Blut gallertartig aus mit weißen Klümpchen darin; es fließt nicht, es fällt in Batzen aus einem Menschen heraus, man hat das Gefühl, als atmete es, es war ja in ihm drin, es ist auch Mensch – und der Geruch, den es verbreitet, ist ähnlich: schwer wie Schlachtfleisch. Es fällt einem schwer, zuzusehen, doch der Geruch ist noch schwerer. Und er prägt sich deutlicher ein. … Der veränderte Körper beginnt sein Bewusstsein zu ändern. Der Verstand, das Begreifen des Geschehens, schwindet. Man beginnt, ausschließlich mit Hilfe der Instinkte zu leben. Ein guter Soldat sein bedeutet noch lange nicht, genauer schießen und Handgranaten weiter werfen zu können. Ein guter Soldat sein heißt, einen Körper zu besitzen, in dem Instinkte erwacht sind. Es heißt, ein vernünftiger Australopithecus zu werden, in welchem sich der Verstand eines Menschen mit den verfeinerten Instinkten eines Tieres paart. Wer diesen Weg der Rückentwicklung von der Zivilisation zum Affen am schnellsten zurücklegt, wessen Nerven um Bruchteile eines Millimeters dicker geworden sind und wessen Impulsdurchlässigkeit um Nanosekunden höher liegt, der behält recht.“
„Alles, was wir vom Leben wissen, ist der Tod“
Babtschenko betont, dies sind die letzten Zeilen in „Koelbls „Target“: „Der Wehrpaß wird nur in eine Richtung ausgestellt. Aus diesem Kreis – dem Kreis des Krieges – findet keiner mehr zurück.“ Noch keinen Veteranen habe ich so direkt und anschaulich vom Krieg sprechen gehört. Babtschenko gelingt etwas Seltenes: dem Unsagbaren ein Stück weit Stimme zu geben, die Welt des Kriegswahnsinns zu uns Zivilisten zu transportieren. „Kahlgeschorene Jungs, in den Kasernen blutig geschlagen, mit gebrochenen Kiefern und gequetschten Lungen – so trieb man uns in den Krieg und tötete uns zu Hunderten“, sagt er in „Die Farbe des Krieges“. Und dort dann in der Coda:
„Ich liebe dich, Krieg. Ich liebe dich dafür, dass meine Jugend, mein Leben, mein Tod, mein Schmerz und meine Angst in dir sind. Dafür, dass du mich gelehrt hast, dass das dreckigste Leben immer noch tausendmal besser ist als der Tod… Du und ich, wir sind ein Ganzes.“
„Alles, was wir vom Leben wissen, ist der Tod“, heißt es in dem im Januar 2014 bei Rowohlt-Berlin erschienenen „Ein Tag wie ein Leben“, in dem er in vielen Vignetten das Bild einer kriegsversehrten Menschheit zeichnet, in großartigen Reportagen vom Alltag in Tschetschenien und Georgien, Afghanistan und Vietnam, gegenwärtigen und ehemaligen Krisengebieten, vom Zweiten Weltkrieg und den Folgekriegen berichtet. Wie bei sonst keinem zeitgenössischen Autor ist bei ihm jeder Vergleich mit Remarque oder Hemingway berechtigt. Babtschenko lesen!, kann ich nur sagen.
PS. Was mir im Buch wie in der Ausstellung völlig fehlt, das ist der bei Herlinde Koelbl so ganz ausgeblendete Vorgang des „Ins-Visier-Nehmens“, das Zielen über Kimme und Korn oder Fadenkreuz, das Schießen selbst. Seltsam, wo doch der Blick des Fotografen eben das auch tut. Herlinde Koelbl spart das Handwerkszeug des Tötens aus: die Gewehre und halbautomatischen Waffen, ebenso den fetischistischen Umgang mit ihnen. Die vielen Porträtaufnahmen, die Gesichter der auf den Schießplätzen angetroffenen Soldaten, der Schützen also, haben außer der räumlichen Verbindung von Ausstellung und Buch, und wenn man es nicht wüsste, nichts mit den zerbeulten, durchlöcherten Targets zu tun. Was immer das bedeuten mag.
PS. Ein Satz noch von Babtschenko: „Wenn man Kinder töten darf, darf man alles. Die Verbote sind aufgehoben.“ Ich bin ja gespannt, was für einen Film Clint Eastwood uns vorsetzen wird, wenn 2015 seine Verfilmung von „American Sniper“ ins Kino kommt. Die Dreharbeiten in Marokko sind am Laufen, echte Navy SEALS beraten und helfen ebenso mit wie die in Alabama beheimatete Söldnerfirma „ XTreme Concepts“. Bradley Cooper hat die Hauptrolle, Sienna Miller spielt seine Frau. Steven Spielberg war ursprünglich als Regisseur vorgesehen, auch David O. Russell („American Hustle“). Das Buch ist eines der widerwärtigsten Kriegsbücher der letzten 50 Jahre, die Bekenntnisse einer sich im Besitz des richtigen Glaubens befindlichen christlichen Fundamentalisten Dumpfbacke, der Untertitel: „The Autobiography of the Most Lethal Sniper In U.S. Military History.“ Mehr als 150 beglaubigte Abschüsse (confirmed kills) machten den Irak-Krieg-Soldaten Chris Kyle zum bisher tödlichsten amerikanischen Scharfschützen. Er kam dann auf heimischer Scholle auf geradezu alttestamentarische Art „durch das Schwert um“: Ein traumatisierter Irak-Veteran erschoss ihn bei der „target practice“ auf einem Schießplatz in Texas. Kyles erster tödlicher Sniper-Schuss – er beschreibt das völlig unverblümt und um keine Rechtfertigung verlegen – beseitige aus sicherer Entfernung die möglicherweise von einer vermummten Frau ausgehende Gefahr. Sie hatte, aus einem Haus tretend, die Hand ausgestreckt – nach einem Kind.
Alf Mayer, zuerst erschienen Culturmag
AUSSTELLUNG
TARGETS. Fotografien von Herlinde Koelbl
bis 05. Oktober 2014
Täglich 10 – 18 Uhr
Deutsches Historisches Museum
Unter den Linden 2
10117 Berlin
Zur Website des DHM
BÜCHER
Targets
Mit Beiträgen von Gerry Adams und Arkadi Babtschenko
Prestel Verlag, München 2014
240 Seiten mit 220 Farbabbildungen
Begleitbuch zur Ausstellung im DHM Deutschen Historischen Museum
49,95 Euro
Blick ins Buch: hier
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Arkadi Babtschenko
Ein Tag wie ein Leben. Vom Krieg.
Aus dem Russischen von Olaf Kühl
Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2014.
268 Seiten
19,95 Euro
bei amazon kaufen
_________
Ein guter Ort zum Sterben (2009 )
Die Farbe des Krieges (2007)
Der Kreis des Krieges (2011), in Letter International, Nr 93, nachgedruckt in Herlinde Koelbls Tragets, 2014)
Mehr zu Arkadi Babtschenko und zu seinem Blog (in russischer Sprache)
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