Uwe Nettelbecks „Der Dolomitenkrieg“, Karl Kraus, Adorno und das Edelweiß
Warum die Dolomiten und nicht Vietnam?
Schön, wie manche Bücher ein Eigenleben entfalten, einfach nicht tot zu kriegen sind, um es mit dem zugehörigen Kalauer zu sagen. So verhält es sich mit Uwe Nettelbecks dokumentarischem Montage-Roman „Der Dolomitenkrieg“. Ein eisiges Stück Prosa, ein Lackmustest gegen innere Verrohung. 1976 erschien der damals 95 enge Typoskriptseiten umfassende Text erstmals innerhalb des Sammelbandes „Mainz bleibt Mainz“, einem Vorläufer und sozusagen umfangreichen großen Prospekt der dort auf der letzten Seite angekündigten Nettelbeck-Zeitschrift „Die Republik“. Die wurde ein an „Die Fackel“ von Karl Kraus erinnerndes Geisterreiter- und Außenseiterprojekt, das es bis 2007 auf 125 Nummern brachte.
1979 erschien „Der Dolomitenkrieg“ auf lachsfarbenem Papier als schmales Taschenbuch bei Zweitausendeins/Greno. Nun hat ihn der kleine, feine und exquisite Berenberg-Verlag mit sorgfältiger Ausstattung in den Hardcover-Himmel geholt, den Fließtext der an Raubdrucke erinnernden und ohne jeden Absatz auskommenden Erstausgabe – die Gliederungen von „I,1“ bis „XXXV,14“ befanden sich im endlosen Textfluss – mit Leerzeilen aufgebrochen, einigen Kriegsfotografien und mit einem Nachwort des Frankfurter Soziologen und Adorno-Biografen Detlev Claussen ergänzt. Ein Ausnahme-Buch in mehrerlei Hinsicht, in der jetzigen Form zum Aufbewahren geeignet und bestimmt. Eine illustrierte Ausgabe des seit 1974 vorliegenden Textes hatte Uwe Nettelbeck stets abgelehnt, sich darüber mit Klaus Wagenbach energisch verkracht. (Siehe den im Internet zugänglichen Briefwechsel „Den Wagenbach hinunter“.)
Mit anderen Augen durch die Alpen
Detlev Claussen widmet sein Nachwort einem leider 2008 zu früh verstorbenen anderen Frankfurter, nämlich dem Tausendsassa und frühen Umweltpropagandisten Giovanni „Hans“ Glauber, der die „Toblacher Gespräche“ ins Leben rief und ihn „lehrte, sehenden Auges durch die Dolomiten zu laufen“. Hans Glauber stammte wie der unlängst ebenfalls viel zu früh von uns gegangene Independent-Filmproduzent Karl „Baumi“ Baumgartner aus Südtirol, beide wussten sie mehr als andere von einem Kriegsschauplatz von vor nun 100 Jahren, der auf kleinem Raum all das fokussiert, was die Hirnrissigkeit jeglichen Krieges ausmacht. Baumgartner hielt stets hartnäckig und unbeirrt an seiner Freundschaft zu dem auf seine Weise kriegstraumatisierten serbischen Regisseur Emir Kusturica fest, hatte dessen „Underground“ (1995) gegen alle Widerstände produziert.
Vieles von dem zum Beispiel, was wir über Gletscher wissen, wurde 1916 /17 im mächtigen Eisgebirge der Marmolata in blutigster Versuchsanordnung gesammelt. Wegen des Artilleriefeuers der italienischen Alpini verlegten die österreichischen Landesschützen ihre Stollen und Stellungen tief ins Eis, das Wissen um die Natur des Gletschers wurde zu einer Überlebensfrage. Bei 3 Grad Celsius gefriert menschliches Blut. Auf Seite 23 f. des „Dolomitenkrieges“ finden sich schwer erträgliche Betrachtungen über das Erfrieren (die „congelatio“), auch die Seiten über den Hunger im Krieg sind nicht nett.
Auf sie mit dem Morgenstern!
Den Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges gab es nicht nur auf den Bombenkraterfeldern Flanderns sondern auch in der Senkrechten, mitten im Gebirge. Gekämpft wurde am und im Berg, Stollen untergruben Stollen, teils waren sie 500 bis 1000 Meter lang. Von 1915 bis 1918 gingen sich die Gebirgstruppen Italiens und Österreich-Ungarns in den Steilwänden der Dolomiten buchstäblich an die Kehle. Wie bei Kain und Abel war es oft ein Felsbrocken, mit dem man im Nahkampf am Berg den Gegner erschlug. Der Berenberg-Ausgabe vorangestellt ist ein dem Buch entnommenes Zitat des Alpen-Sonnyboys, Filmregisseurs und Alpenkrieg-Frontsoldaten Luis Trenker, in dem er begeistert die Ausgabe von mittelalterlichen Morgensternen an die Kämpfer beschreibt.
„Am meisten Lärm aber ist um eine neue Waffe los, um ein Ding von mittelalterlicher Wucht, das anscheinend einen magischen Zauber ausübt, um den Morgenstern. Wir haben seit kurzem eine Kiste voll davon erhalten. Diese Morgensterne bestehen aus einem, Hartholzstiel, auf den eine Eisenhülse mit fingerlangen Stacheln gezogen ist. Die Sendung war begleitet von einem Erlaß des Heeresgruppenkommandos, in welchem es hieß, daß mit dem Morgenstern dem Soldaten der Alpenländer eine traditionelle Waffe gegeben wurde … Jeder will also einen Morgenstern haben.“
Luis Trenker war Soldat im Dolomitenkrieg, sein Film „Berge in Flammen“ von 1931 verklärte den Krieg zu einer Art sportlichem Ereignis. Von der Schweizer Grenze bis zum Abfall der Alpen in die lombardische Tiefebene bildeten die Kampflinien eine Hunderte Kilometer lange, geschlossene Eisfront, die fast durchwegs in Höhen von über 3000 Meter verlief und deren tiefste Punkte wie etwa der Tonale-Pass immer noch auf 1900 Meter Höhe lagen. Die Sextner Dolomiten gehörten zu den am meist umkämpften und blutigsten Frontgebieten des Kaiserreiches Österreich-Ungarn, der Katastrophenwinter 1916/17 trug das Seine dazu bei. So forderte zum Beispiel im Dezember 1916 eine gewaltige Lawine an der Punta di Penia, die ein österreichisches Lager niederwalzte, alleine 300 Tote. Der am meisten von den Kriegshandlungen geschundene Berg der Alpen ist wohl der Pasubio. Neben der berühmten Strada Galleria findet man auf diesem Berg Bunkeranlagen, endlose Tunnels, Schützengräben und zahllose Stellungen.
Aus der „Fackel“ verproviantisiert
Viele Aspekte benennt Detlev Claussen in seinem vielschichtigen, mit 37 Anmerkungen versehenen Nachwort. Die Quellenlage Nettelbecks aber lässt er leider außer Acht. Der operiert für den „Dolomitenkrieg“ ganz ohne Hinweise auf Originalfundstellen – völlig untypisch für seine sonstige Arbeit, etwa die großartige voluminöse Sammlung „Fantômas. Eine Sittengeschichte des Erkennungsdienstes“ (1979), wo es heißt: „Aber die Polizisten sind nicht nur die besseren Photographen, sondern auch die besseren Schriftsteller.“
Claussen sind das Thema Krieg wie auch die Motivlage Nettelbecks erkennbar fremd, zweimal betont er, keine Erklärung dafür zu haben, „warum ein weltläufiger Mensch sich Mitte der siebziger Jahre den Dolomitenkrieg vorgenommen hat“, anstelle etwa des damals doch weit virulenteren Krieges in Vietnam. Der Adornit Claussen, was das Nachwort ja nicht uninteressanter macht, ringt auch ein wenig stirnrunzelnd mit der Werklinie Karl Kraus & Uwe Nettelbeck. Gewisse Verbindungslinien zieht er nicht, die offenkundigste, dass Karl Kraus sich großflächig an der Mediendarstellung des Dolomitenkriegs abarbeitete – der bei ihm nicht so heißt und als solcher in keiner Konkordanz und keiner CD-Rom-Suchfunktion vorkommt. Wie weit der Kraus-Bewunderer Nettelbeck sich direkt aus dessen „Fackel“ für den „Dolomitenkrieg“ verproviantisierte, wäre eine eigene Studie wert, aber die Versorgungslinie ist klar. So klar, dass Netttelbeck sie zum Teil unkenntlich mache. In seinem Buch kommt eine authentische Quelle und zentrale Feindfigur von Karl Kraus gar nicht erst vor – nämlich die Kriegsreporterin Alice Schalek.
Karl Kraus und Alice Schalek, die Mutter der Kriegberichterstattung
Kraus rieb sich in seiner „Fackel“ immer wieder an den Dolomiten-Frontberichten der 1917 vom österreichischen Kaiser mit dem „Goldenen Verdienstkreuz mit Krone am Bande der Tapferkeitsmedaille“ ausgezeichneten Journalistin. Und zwar derart, dass sein „Kampf gegen die Phrase“ und gegen den Militarismus auf immer Bestand haben wird. Von Schalek stammen die Bücher „Tirol in Waffen. Kriegsberichte von der Tiroler Front“ (1915) und „Am Isonzo. März bis Juli 1916. (1916).
Aus dem ersteren stammt das Kriegs-Zitat:
„Das Ganze ist so grandios organisiert, so großzügig ausgedacht und angelegt und alles andere ist so vollkommen aus diesem Territorium ausgeschaltet, daß der Beschauer die bisherigen Kulturzwecke völlig vergißt und nichts empfindet als eine Art diabolischen Genusses.“
Mehr als 30 Jahre lang schrieb Schalek für die Wiener „Neue Freie Presse“, die „FAZ“ nennt sie heute noch „die Mutter der Kriegsberichterstattung“. Karl Kraus montierte und zerriss ihre Texte auf eine Art, dass die Journalistin im Juli 1916 eine Ehrenbeleidigungsklage einreichte. Der Gefahr, der Übertreibung bezichtigt zu werden, war sich Kraus dabei durchaus bewusst: „Zitiere ich sie, so glaubt man, ich hätte den Text gefälscht.” In einem runden Dutzend Szenen tritt die Schalek in Kraus’ Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ auf, dem er den Hinweis voranstellte: „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.”
Unsere Wahnwelt aus Rittertum und Heldensagen
In dem zwischen 1915 und 1917, also mitten im Ersten Weltkrieg des letzten Jahrhundert entstandenen Drama, das in mehr als 200 Szenen die Tragödie der Menschheit im Krieg aufzeichnet, rechnet der Satiriker und Dichter Kraus mit einer kriegstreiberisch entfesselten Umwelt ab. Er hatte – auch wenn seine Begrifflichkeiten für Adorniten in summa zu kurz greifen und er für sie sozusagen als ein Bauchdichter gilt – eine klare Vorstellung vom Hauptübel seiner Epoche: „Dem veränderten Leben gesellt sich der alte Geisteszustand.” Will sagen, dass die gesellschaftlichen Umwälzung durch Industrie und Technik nicht zu einem veränderten Bewusstsein führten, sondern an einem Denken festhielt, das sich zäh an einer mittelalterlich-romantische Wahnwelt aus Rittertum und Heldensagen klammerte, wovon auch noch die Nazis profitierten: „In diesem Zweierlei eines veränderten Lebens und einer mitgeschleppten Lebensform lebt und wächst das Weltübel.” Besonders übel hierbei der Journalismus, denn „er dient nur scheinbar dem Tage. In Wahrheit zerstört er die geistige Empfänglichkeit der Nachwelt.“
In den „Letzen Tagen der Menschheit“ gibt es einen eigenen, aus den Dolomiten kommenden „Kaiserjägertod“. Hier ein einige Fundstellen (die sich Nettelbeck aus welchem Grund auch immer entgehen ließ):
KAISERJÄGERTOD: Wie hoch schätzen Sie die voraussichtlichen Verluste?
DER KOMMANDANT: 4000.
KAISERJÄGERTOD: Die Truppen sind befehlsgemäß zu opfern.
DER KOMMANDANT: Exzellenz, es liegt ja so viel Schnee, daß ein ganzes Regiment aufgerieben wird.
KAISERJÄGERTOD: Ein Regiment? Was macht mir ein Regiment!
(Der Kaiserjägertod wird ans Telefon gerufen.)
KAISERJÄGERTOD: Was? Ablösung oder Verstärkung? Herr Oberst, Sie haben auszuhalten bis auf den letzten Mann, ich habe keine verfügbare Mannschaft, und ein Zurück kenne ich nicht, koste es was es will! Was? Einen Tag Ruhe wollen s’ zum Trocknen der Kleider? Was sagen Sie? Ihre armen, braven Tiroler liegen erschossen draußen und schwimmen im Wasser? (Brüllend.) Zum Erschießen sind sie da! Schluß! – So und Ihnen habe ich nichts anderes zu sagen. Die Truppen haben in ihren Stellungen auszuharren, es geht um meine Existenz!
Und dann noch das Edelweiß …
Das Edelweiß übrigens wurde im Dolomitenkrieg zum soldatischen Traditionszeichen und zur Lieblingsblume des Gefreiten Adolf Hitler. Die Hochgebirgstruppe trug es am Kragenspiegel Noch die Gebirgsjäger-Kappe des Ex-Entwicklungshilfeministers Dirk Niebel (FDP), mit der er auf seinen Auslandsreisen herumspazierte, hoffierte solche Gebirgskriegsmythen. (Wir Panzerjäger der Ebene nannten die Mittenwald-Truppen „Muli-Treiber“, waren es doch solch störrische Tiere, die ihnen die Ausrüstung den Berg hochtrugen.) Am 16. Januar 1917 verfügte Kaiser Karl, dass die Landesschützen „in Anerkennung ihrer hervorragenden Leistungen in diesem Krieg von heute an den Namen Kaiserschützen zu führen haben”. Sie galten als „die Aristokraten der Infanterie“.
Die sogenannte Edelweiß-Tradition der Kaiserschützen lebt noch heute in den Gebirgstruppen des Österreichischen Bundesheeres und der Deutschen Bundeswehr weiter. Letztere übernahmen nach dem Abzug des zur Unterstützung der Österreicher entsandten Deutschen Alpenkorps aus den Dolomiten das Traditionszeichen „Edelweiß“. Von den Tiroler Kaiserschützen stammt zahlreiche heute gängige alpine Ausrüstungsstücke, so das Steigeisen mit mehr als vier Zacken, die Seilklemme zum Aufstieg am hängenden Seil und die Bergrettungsgebirgstrage. Genug davon. „Nach Friedensschluss sollte man die Kriegsliteraten einfangen und von den Invaliden auspeitschen lassen“, schrieb Karl Kraus nach dem Ersten Weltkrieg.
PS: Zu Uwe Nettelbeck lohnt es sich, selbst im Internet zu lesen. Ich wünsche spannende Lektüre. Und steige nun in ein weiteres Kleinjuwel des Berenberg Verlages, nämlich Gian Carlo Fuscos „Die Unerwünschten. Als Amerika die Mafia nach Hause schickte.“ Der bei uns schmählich unbekannte Fusco, ein Chronist Italiens, porträtiert in diesem ganz und gar ungewöhnlichen Mafia-Buch eine ganze Galerie von nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in die alte Heimat deportierten amerikanischen Gangstern.
Alf Mayer, Culturmag
Der Dolomitenkrieg
Mit einem Nachwort von Detlev Claussen
Berlin: Berenberg Verlag 2014
152 Seiten
20 Euro
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