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„Ganz zu Anfang meiner Regie-Tätigkeit wollte ich eine Rolle mit Sybille Schmitz besetzen, da erfuhr ich, dass sie tot ist. Niemand wusste etwas Genaueres über ihr Schicksal; die Geschichte hat mich nicht mehr losgelassen. Ich habe ein zärtliches Gefühl für gescheiterte Figuren. Ich verstehe sie in alledem, was sie falsch gemacht haben. Vielleicht hat das auch mit mir selber zu tun. Man sagt zwar immer o.k., du lässt dich nicht so kaputtmachen – aber es kann passieren. Es gibt schon Leute, die darauf warten, dass ich zusammenklappe.“

(Rainer Werner Fassbinder)

S*C*H*A*T*T*E*N

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Schon der Vorspann: Ganz im UFA-Stil. Nicht mehr das Schwarz des alten deutschen Kinos, dafür 100 Arten von Grau. Schreiben wir eine Geschichte des deutschen Films um die Farbe Schwarz herum. Die Unfarbe. Darum, wie sie gefunden, darum, wie sie vermieden wurde. Einige UFA-Filme, Operetten oder Melodramen sind um eine Empfindung des Silbrigen und Seidigen herum aufgenommen. Die Erinnerung an DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS wird immer von einem Übermaß an Silbrigkeit bestimmt. An giftiger Silbrigkeit, um genau zu sein.

Schriften, die Schatten werfen. Mene Menetekel. Und beim Titel: Die Sehnsucht der Veronika Voss, da müssen sich die Schrift und ihr Schatten erst treffen. Nicht, dass aus so etwas ein Interpretationszwang würde. Es ist nur so ein Gefühl… Dass es da etwas Doppeltes geben könnte, etwas Zwei-Deutiges. Etwas, das zueinander gehört und einander verfehlt. Das Licht übrigens, handelte es sich um wirkliche Schatten, würde von links oben kommen. Kein Gotteslicht, wie man so sagt. Und die altmodische Aufblende führt denn auch gleich noch einmal zum Leben und seinem Schatten. Ins Kino. Und im Zuschauerraum sitzt die Hauptdarstellerin. Und hinter ihr der Regisseur. Rainer Werner Fassbinder. Die Hauptdarstellerin leidet. Der Regisseur sieht.

Er sieht, aber er versteht nicht. Wie auch? Man begegnet sich hier „zufällig“ im Zwischenraum von Kinotraum und Körperwirklichkeit, Erinnerung und Projektion.

(Natürlich kennt man sich, was die Handlung anbelangt, nicht. Veronika Voss ist einfach nur in einem ihrer Filme, die sie selber überdauerten, und unter den Zuschauern ist eben einer dieser Cineasten, die Filmen – und Menschen –nicht glauben, sondern sezieren. Doch Fassbinder hat sich in dieser Szene als Schatten von Veronika Voss eingenistet; einer, der für einen Augenblick die Intimität der Beziehung der Leinwand-Frau und der Lebens-Frau durchbricht; er öffnet dieses geschlossene System von Blick und Bild, damit überhaupt ein Plot und ein Diskurs sein können. Die kurze Anwesenheit von Rainer Werner Fassbinder in der Anfangssequenz von DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS enthält eine Kunsttheorie. Eine Kinotheorie. Eine Autorentheorie. Eine RWF-Theorie, die’s ohnehin nur in Bildern gibt.)

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Eine Spritze wird aufgezogen. Für eine Frau, die einer anderen verspricht, alles dafür zu tun. (Oder dagegen.) Eine Kreisblende. Die leidende Hauptdarstellerin schließt die Augen. Lichterglanz. Ein Studio. Der Film SCHLEICHENDES GIFT wird gedreht. Dann kommt die Schlussklappe. Alles handelt von Abschied und Verengung. Wir sehen: Das Kino ist nicht nur eine Kunst des Sehen-Machens, sondern auch eine Kunst der Blickverknappung.

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Es gibt zweifellos giftige Farben, keine Frage. Aber wie ist es in einem Schwarz-Weiß-Film? In einem Schwarz-Weiß-Film gibt es giftiges Licht! Soviel giftiges Licht wie in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS gibt es sonst nirgends. Nicht einmal bei Rainer Werner Fassbinder.

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München 1955. Die UFA-Schauspielerin Veronika Voss (Rosl Zech), einst ein großer Star – man raunt von einer Liebschaft mit Goebbels – erfährt das langsame aber unaufhaltsame Verglühen. Keine guten Rollenangebote mehr, bald gar keine Rollenangebote mehr. Veronika Voss lebt an und in der Praxis von Frau Dr. Katz, einem  Privat- und Geheim-“Sanatorium“, die sie mit der Droge versorgt. Und die ihr Sterben inszeniert. Um an ihr Geld kommen.

 

L-I-E-B-E-&-K-A-P-I-T-A-L-I-S-M-U-S

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Veronika Voss ist Rainer Werner Fassbinder. Oder doch ein Abbild seiner Angst. (In der höchsten Not mit einem Mutter-Bild / dem Nichtmutterbild verschmelzen, und dann gemeinsam untergehen!)

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Dass die Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren eine Fortsetzung von Nazi-Deutschland war, das haben viele Autoren und Regisseure geargwöhnt, als eine Form der kulturellen, der politischen, der ökonomischen Kontinuität unter der Oberfläche. Bei Fassbinder geht diese Beziehung noch einmal tiefer. In den Biographien. In der Ästhetik. In der Liebe.

Was, wenn die Verbindung zwischen Faschismus, Kapitalismus und Demokratie in der Form von Liebe geschähe. Oder ihrer Abwesenheit, was keinen großen Unterschied macht.

Die Liebe ist freilich die tückischste Verbindung zwischen Faschismus und Nachkrieg. Hätte es eine Stunde Null der Liebe geben sollen?

 

A°U°F°W°A°C°H°E°N I°M T°R°A°U°M°W°A°L°D

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Und da steht sie im Regen im Wald. Und es kommt ein Mann (Hilmar Thate) vorbei mit einem Schirm. Und der dreht sich um und fragt freundlich: „Darf ich Ihnen meinen Schirm anbieten“? Und Veronika Voss muss lachen: „Schirm und Schutz“? Und so erreicht man noch die Straßenbahn. Haltestelle Geiselgasteig.

Der Wald von Geiselgasteig ist mit cineastischen Zitaten gefüllt, so viele Liebespaare, die sich im Regen fanden, in einer Straßenbahn, die auch Sehnsucht heissen kann, ganz direkt. Eine Straßenbahn namens Sehnsucht für Veronika Voss! Sie scheint ja auch nur für sie beide zu fahren. (Seltsam, wie oft Straßenbahnen im Film Bilder von Tristesse und Einsamkeit sind…) Der Traum (oder Alptraum) ist von der Leinwand gestiegen, in ein Zwischenreich zwischen Wirklichkeit und Filme Und von Veronika Voss, die von Robert Krohn noch einmal aufgeweckt wird, wäre nicht zu sagen, ob sie die Schrift oder ihr Schatten ist.

 *

Er ist ein Sportreporter, aufs Handfeste gerichtet, sie der unsichere, verschwindende Stern. Es ist erst einmal nicht das, was man eine Liebesgeschichte nennt, die so beginnt. Eher ein Ineinander von Mitgefühl, Neugier, beruflichen Interessen und, na ja, noch ein, zwei weniger klaren Dingen. Jedenfalls trifft man sich am nächsten Morgen wieder, in einem Lokal, das aussieht, wie Lokale in Filmen der 30er Jahre aussahen, und Veronika bittet ihn um 300 Mark.

Einerseits, weil sie das Geld braucht, andrerseits weil es ein Pfand ist. Natürlich drückt sich Liebe auch in Geld aus! Nur nicht so eindeutig, wie es Romantiker und Moralisten gerne hätten.

 * 

Seltsamer Tausch: Das Geld, das für die Droge bestimmt ist, muss zuerst ein Schmuckstück werden. Der Handel klingt logisch, ein Täuschungsmanöver. Aber es ist auch ein symbolisches Spiel. Und ein ökonomisches. Das Feste muss zum Flüssigen werden. Und das, was für die Ewigkeit gedacht ist, zum reinen Augenblicklichen.

 

DIE GESCHICHTE VON DER FRAU, DIE NICHT GERETTET WERDEN WOLLTE

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„Schirm und Schutz!“ – Veronika Voss ist in der Gegenwart nicht angekommen. Ein bedeutender Teil von ihr lebt noch in der Zeit des Dritten Reiches. Oder in der Filmwelt des Dritten Reiches. Und mit einem Männerbild, in dem zugleich das Schutz-Versprechen und die Anbetung der Göttin garantiert waren.

 

W/E/I/SS

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Veronika Voss kämpft um das Licht. Beim ersten Zusammentreffen mit Krohn nach dem Regenabend am Geiselgasteig herrscht sie den Kellner – als „Pagen“ – an, das „abscheuliche“ Licht zu löschen und dafür Kerzen zu entzünden. „Licht und Schatten, das sind die beiden Geheimnisse des Films“, doziert sie dann. Sie redet nie über sich, sie redet immer über das Kino. Als sie auf Krohn vor dessen Wohnung wartet und ihn mit Henriette die Stiegen hinauf kommen sieht, im Nonsense-Dialog um Ottmar und Fritz Walter, bemerkt sie: „Diese Treppenbeleuchtungen sind für Frauen ausgesprochen ungünstig. Finden Sie nicht auch, Fräulein von Hassberg?“

Gerade hat Robert Henriette „mein Kind“ genannt.

Das schleichende Gift tut seine Wirkung, die Person zerfällt. Nein, sie war ja niemals. Es ist die Projektion, die ihren Dienst versagt. Deswegen gibt sie vor, es zu genießen, dass Krohn sie als Mensch sähe, nicht als Star. Aber in Wirklichkeit tut sich da dieses Loch auf, dass sie unbedingt füllen muss.

Es ist die Fassbinder-Frage: Kann man leben durch das Kino, für das Kino, im Kino und vom Kino?

 

BORDERLINE? WHAT BORDERLINE?

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Veronika Voss ist Sybille Schmitz. In Vielem jedenfalls.

Sie war zweifellos der Star, der Veronika Voss gewesen sein könnte, spielte in DER HERR DER WELT, ABSCHIEDSWALZER, DIE UMWEGE DES SCHÖNEN KARL, TANZ AUF DEM VULKAN, DIE FRAU OHNE VERGANGENHEIT, TITANIC. Unter Kollegen galt sie als „verrücktes Huhn“. In den frühen Filmen, wie Carl Theodor Dreyers VAMPYR (1932) ist sie diese durchschimmernde Frau, aus einer anderen Welt, wie man so sagt. Der UFA-Film unter der Naziherrschaft hatte auch Mühe, sie zu erden, das Jenseitige mit dem Blut und dem Boden zu verbinden, der noch in den „harmlosesten“ Komödien spukte.

Aber sie hat schon in der UFA-Zeit ihre Probleme mit der Traumfabrik. Ihr Lebenswandel passt den Filmwächtern nicht; man sagt ihr nach, nicht nur Männer zu lieben. In Wirklichkeit hat sie das falsche Geheimnis. Das Geheimnis der Zarah Leander ist faschisierbar, das von Sybille Schmitz nicht. Sie erhält eine Zeit Arbeitsverbot und muss sich dann mit Propagandafilmen wie TRENCK DER PANDUR „rehabilitieren“, auch soll die Ehe mit dem Drehbuchautoren Harald G. Peterson und der Umzug in die Provinz für Ruhe sorgen. So bleibt nicht viel Vorzeigbares in ihrer Filmografie für die Nachkriegszeit. Und so begann schon ihr Sterben.

Sybille Schmitz war schon auf der Leinwand ein Gespenst der Vergangenheit.

Nach dem Krieg fand Sybille Schmitz kaum noch Rollen; ihr Image war zu schwer, um in die so betont gewichtlose Unterhaltung integriert zu werden, und auch zur expressiven Selbstkarikatur, die so viele UFA-Stars als character actors überleben ließ, schien sie kein Talent zu haben. Sybille Schmitz kämpfte vergeblich mit Depressionen und Drogen; nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihr schließlich in eben jenem Jahr 1955, in dem Fassbinders Film spielt, sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben zu nehmen.

Über die Kontinuität zwischen dem UFA-Film des Dritten Reichs und dem bundesdeutschen Unterhaltungskino ist viel geschrieben worden. Von einigen wenigen abgesehen, die zunächst einmal wegen ihrer Mitwirkung an schlimmer Propaganda Schwierigkeiten bekamen wie Veit Harlan oder Leni Riefenstahl, konnten die meisten Regisseure, Autoren und Schauspieler in der Tat weitermachen. Und weitermachen mit weitermachen. Viele drehten auch gleich Remakes ihrer UFA-Erfolge. Doch gerade an diesen lässt sich feststellen, dass sich eben doch etwas geändert hat. Nicht nur, dass aus der geschlossenen Traumwelt ein offenes System des Entertainment wurde, alle Figuren und Story-Linien verloren drastisch an Verbindlichkeit. So konnte eine Marika Rökk reüssieren, weil sie das Unverbindliche ihrer Erscheinung nur noch ein wenig übertreiben musste, und auch die Treuherzigkeit eines Heinz Rühmann ließ sich, nach Anlaufschwierigkeiten, in den neuen sozialen Kontext übertragen. Wer sich indes diesem Zwang zur neuen Unverbindlichkeit und Offenheit nicht beugen konnte oder wollte, hatte weniger Chancen. Und offensichtlich war das Geheimnis der Sybille Schmitz auch nicht ohne weiteres kapitalisierbar.

Für Sybille Schmitz, die ihr erotisches und soziales Rebellentum in einer Aura von Geheimnis und Verlorenheit aufgehoben hatte, war eine Wandlung in die Unverbindlichkeit kaum vorstellbar. Ihre Tragödie aber, und das ist ein Indiz in einer historischen Lesart von DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS, steckt nicht in der Geschichte der alternden Diva, die kein Publikum mehr findet, sondern sie hat ihre Wurzeln in der Zeit des Dritten Reichs und in der UFA-Traumfabrik selber. Für diesen Kontext hatte sie eine Form gefunden, die eigenen Widersprüche in Maske und Mythos zu verbergen. Sie trug so sehr die Züge einer „faschistischen Frau“ wie die eines ganz Anderen, eines Außerhalb. Jenseits der sexuellen und politischen Ordnungen. Ihr Star-Imago entstand aus dem untrüglichen Empfinden, etwas „Verbotenes“ zu berühren, eine Tür zu geheimen Kammern zu öffnen, ganz kurz an einem Abgrund zu stehen.

Schwer zu sagen: fiel nach dem Krieg der Grund für dieses Verbotene und Geheimnisvolle einfach weg? Oder war es vielmehr noch mehr verboten?

„Jemand wird ein Filmstar, weil er etwas Unsichtbares ausdrückt. Verstehen Sie mich nicht falsch! Nicht, weil er dieses Unsichtbare sichtbar macht. Sondern weil er es unsichtbar sein lässt. Es ist das Unsichtbare, das seine Erscheinung erzeugt. Es ist der Schatten… Ja, der Schatten ist es.“

Dunkle Schatten.

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Veronika Voss ist Rosl Zech. Auch das.

Rosl Zech schaffte, was Sybille Schmitz versagt blieb. Der selbstbewahrende Wechsel zur Unverbindlichkeit. Die „Entdeckung“ von Peter Zadek spielte in einigen Fassbinder-Filmen, bevor DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS ihr großer schauspielerischer Triumph wurde. Danach wechselte sie in die Riege der populären Fernsehschauspielern, spielte in Krimis wie DER ALTE und TATORT, in Familienserien und war in der populären Nonnenserie UM HIMMELS WILLEN als Mutter Oberin muntere Anführerin einer kessen Frauen-WG mit direktem Draht zum Himmel. Und weiter ging es mit Rosamunde Pilcher, Traumschiff und Schwarzwaldhotel. Es war, als müsste sie die glanzvolle Todeserfahrung von DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS übermalen. Als hätte sie zwanghaft „das blühende Leben“ werden müssen.

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SCHNITT!

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DAS DESASTER! Veronika Voss verlangt, dass Robert Krohn sie mit seinem Auto zu ihrem Haus in Starnberg bringt, weil sie die Nacht mit ihm verbringen will. Ein wenig schlafwandlerisch folgt er ihrem Ansinnen, Henriette ist ziemlich machtlos. „Männer müssen immer erst nach dem Warum fragen“, sagt Veronika Voss.

Und dort in diesem Haus, das ganz besonders an das „Mausoleum“ von SUNSET BOULEVARD erinnert, befreit sie erst einmal den Flügel von seiner Schutzdecke (halb jedenfalls, so eilig scheint es ihr), um das Lied Memories are made of this anzustimmen.

Take one fresh and tender kiss 
Add one stolen night of bliss 
One girl, one boy 
Some grief, some joy 

Memories are made of this 

Don’t forget a small moonbeam 
Fold in lightly with a dream 
Your lips and mine 
Two sips of wine 

Memories are made of this

Then add the wedding bells 
One house where lovers dwell 
Three little kids for flavor 
Stir carefully through the days 
See how the flavor stays 
These are the dreams you will savor 
With His blessings from above 
Serve it generously with love 
One man, one wife 
One love through life 

Memories are made of this 
Memories are made of this

Sie kommt, natürlich, nur gerade bis zur zweiten Strophe. Der Ehemann, behauptet sie, müsse den Urlaub allein in Capri verbringen, weil sie ihren Vertrag zu erfüllen habe. Die Sicherungen sind herausgedreht, das ist so seine Marotte. So, dass man Kerzenlicht benötigt.

Noch ein Gespenst. Dieser Mann sollte vielleicht wirken wie Erich von Stroheim in SUNSET BOULEVARD, eine andere Form von Schutz und Schirm, und hat sich doch längst entzogen.

„Ich verführe gern“, sagt sie, „wehrlose Männer.“ Und: „Sie sind doch ein wehrloser Mann?“

In einer Rückblende sehen wir Veronika Voss und ihren Mann (Armin Müller-Stahl) in der Wohnung, wie sie „lebt“, vielleicht, und er hört Nachrichten. „Hier brauchen wir keine Nachrichten mehr, hier holt uns der Krieg nicht mehr ein“, bemerkt sie. Und das Licht soll auch ausgemacht werden. Immer hat sie die Wirklichkeit ausblenden wollen. Und während er trinkt, um abzuschalten, tut sie es zum Dasein. Die Droge, behauptete sie damals, sei Teil ihrer Verführungskraft.

„Immer die gleiche Scheiße. Immer musst du was machen. Immer was herstellen. Können wir nicht einfach so sein wie wir sind?“ Nein, sie will nicht aufhören, sie kann nicht aufhören, Schauspielerin zu sein.

Auch für Krohn wollte Veronika dieses Schauspiel der Verführung, bei der sie „alle Frauen“ sein will, (und keine ist), aber wie rasch verwandelt sie sich in eine heulende Furie, die Krohn vorwirft, ihr etwas zu zerstören, die behauptet, ihn nicht zu kennen, die panisch auf jede Berührung reagiert!

 

DESASTER

Wenn die Eingangssequenz das semantische Dilemma der Frau ohne Schatten beschreibt, dann beschreibt die Desaster-Sequenz ihr sexuelles Dilemma. Was bedeutet: Genauer besehen handelt es sich ja um einen Schatten ohne Frau.

*

Warum lehnt sie das Angebot der Liebe, das sie doch selber so vehement eingefordert hat, so fundamental, so bis in jeden Winkel des Fleisches, ab? Natürlich, das ist die Droge, kann man sagen. Das ist die Hysterie. Eine solche Frau MUSS ja frigide sein, so wollen es unsere Erzählungen der, nun ja, „weiblichen Psyche“.

In der Liebe müsste sie Mensch werden, so geht das los. Sich mit dem Schatten vereinigen oder ihn verlieren. Diese doppelte Frau (ohne Schatten) kann immer nur leben, wenn der jeweils andere Teil stirbt. Wird sie Mensch, wird die Leinwandgöttin sterben (aber auch das töchterliche Häufchen Elend in der Hand der kalten Mutter Katz), wird das Image sterben (und das Drogenweiß), wird Finsternis den Menschen Voss umhüllen. Deshalb kann sie beides nicht. Die große Liebeshoffnung: Ein Desaster. Das kleine Comeback: ein Desaster.

Sie müsste des weiteren Abschied von ihrem Traumreich nehmen, so oder so. Aber was wäre dann? Würde dann nicht Treblinka sichtbar im UFA-Traum?

 

VICTIM OR SACRIFICE, TELL ME!

Wir können uns den Begriff der „Gnade“ bei Fassbinder schwerlich vorstellen. Wer an die Liebe glaubt, kann an die Gnade nicht glauben, und umgekehrt.

Es gibt Dinge, die die Gnade anziehen, und solche, die die Liebe anziehen. Veronika Voss wartet auf die Gnade (der Rolle, zum Beispiel) und kann die Liebe deswegen nur verfehlen.

*

Was die Referenz zu Sybille Schmitz anbelangt, so könnten wir auch argwöhnen, dass sie eben keine Männer mag. Wie war das, als sie Robert Krohn abgeholt hat, um mit ihm in ihr Haus zu fahren? Da hat sie Henriette geküsst. Einfach so.

DAS DESASTER ist der Bruch mit beiden Konzeptionen, der der Sexualität und der der Liebe, die Einheit von Objekt und Subjekt ist radikal zerbrochen. Danach ist das Schicksal für alle Beteiligten besiegelt. Danach muss der Kriminalplot den Rest erledigen.

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Das Haus, in der die sinistre Frau Dr. Katz regiert, ist ein sonderbares Spinnengeweb. Alles ist auf ihre „Praxis“ hin organisiert, in der sie die Menschen mit ihrem Gift gefügig macht.

Katz ist KZ. So einfach ist das?

Hier treffen jedenfalls die Memories der Veronika Voss und des alten jüdischen Antiquitätenhändlers Treibel (Rudolf Platte) und seiner Frau (Johanna Hofer) aufeinander. Er ist morphiumsüchtig wie sie, er möchte vergessen, wie sie nicht vergessen werden will.

Als ihm das schleichende Gift von Dr. Katz verweigert wird, bringen er und seine Frau sich gemeinsam um. Veronika Voss muss noch ein wenig weiter leben.

Die Fortexistenz von KZ- und Euthanasie- Strukturen in medizinischen Einrichtungen der Bundesrepublik ist eine Tatsache, die Herrschaft über Leben und Tod dabei nur modifiziert. Das Haus von Dr. Katz ist ein Gespenst des KZ in der Nachkriegszeit, eines von vielen.

 

TREBLINKINO

Aber natürlich geht es auch weniger konkretistisch. In der Traum- und Todesanstalt von Dr. Katz treffen sich die Erinnerungen an die Zeit des Dritten Reichs, die sonst so sorgsam voneinander geschieden sind: Das Grauen von Treblinka und der Glanz der UFA. Sie werden auf nahezu gleiche Art „behandelt“.

Immer noch wollen sie voneinander nichts wissen. Aber sie können einander nicht mehr entfliehen. Das ist die radikalste Art, die Legende von den „unpolitischen“ UFA-Filmen zu zerstören.

Der alte Jude und die alternde UFA-Diva müssen sterben, weil es ihnen nicht gelang, die Augen zu öffnen.

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Veronika Voss ist krank. Nicht nur, was ihre Sucht betrifft. Sie ist eine manisch-depressive Hysterikerin. Man könnte die Chronik ihrer letzten Lebenszeit als Abschluss einer Fallgeschichte sehen. Die Geschichte einer Frau, die sich zugleich liebt und hasst. Die die Männer zugleich liebt und hasst. Die verführen will und nicht berührt werden will.

Vielleicht bildet sie sich ja auch die ganze Geschichte mit der Dr. Katz und ihrer finsteren Haushälterin nur ein. Vielleicht ist sie in Wahrheit in der Obhut einer wohlmeinenden ärztlichen Institution, die sie medikamentös „einstellen“ möchte, die ihren Freigang fürsorglich beschränken will, die ihren Phantasien in einem gewissen Rahmen nachkommt. Wer weiß. Vielleicht ist sogar Robert Krohn ein therapeutischer Agent?  Und Dr. Katz eine undankbare Projektion des Dr. Caligari.

 

LICHT UND SCHATTEN

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Licht und Schatten. In DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS  muss man sich vor der Helligkeit fürchten. Das ist auch die Zeit der großen Veräußerungen. Das war die neue Zeit: immer bessere Beleuchtung. Alles geschieht durchaus im Licht.

Am furchtbarsten, natürlich, ist die Praxis von Dr. Marianne Katz (Annemarie Düringer), Möbel, Wände, Bilder, Kleider, Kittel, Lichter – weiß wie Schnee. Der Drogenflash und die klinische Reinheit. Dazu kommen die quadratischen Bildelemente, die  Kacheln und Raster, die Veronikas Gefängnis bezeichnen. Weiß ist hier die Farbe des doppelten Todes. Man bringt hier den Schatten zum Verschwinden. Aber damit auch – „das Subjekt“.

Ein Kontrapunkt ist der GI (Günter Kaufmann), dunkle Haut, dunkle Uniform, der einerseits hier wie ein Fremder  wirkt, nie spricht, aber offenbar beständig mit Nützlichem beschäftigt ist, wie dem Verpacken von Drogen. Über diesen GI, so scheint es, geht das Gift der Katz in die Welt.

Und er ist eine Fassbinder-Markierung: „Ich sehe den Rohschnitt von Lola und bin ganz happy, und auf einmal kommt da ein schwarzer GI in die Wohnung. Ich sehe Muster von Veronika Voss, und auf einmal sitzt ein schwarzer Ami in der Küche.“ (Drehbuchautor Peter Märthesheimer)

(Fassbinders Schatten der Liebe.)

*

Wenn Veronika Voss eine versiegende Kraft der Vergangenheit ist, dann sind Robert Krohn und Henriette die perfekten Verlierer –Repräsentanten der Adenauer-Zeit. Zweifellos glauben sie an „die neue Zeit“. Ihre Berufe, ihre Lebensweise, ihre Sprache zeugen davon. Doch ihr Wesen ist die Unentschlossenheit, das Zögern, die Vagheit. Nur so kann man hier leben, und an der Vergangenheit kann man sich nur vergiften. Und so müssen sie scheitern gegenüber den Vertretern des real existierenden Kapitalismus,

Robert Krohn bekennt, dass er nicht weiß, ob er Veronika liebt, und nach seiner Beziehung zu Henriette gefragt, antwortet er: „Ob ich sie liebe? Wir ertragen uns.“

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Henriette, die Fotografin, ist in allem das Gegenbild zu Veronika Voss. Sie ist gelassen und bleibt neugierig. Sie liebt ihn wirklich, und das ist vielleicht mehr als er verdient. Aber hat nicht auch Frau Dr. Katz eine Vergangenheit?

Annemarie Düringer war ein strahlender Stern im deutschen und schweizerischen Film der 50er Jahre, eine sanfte Liebende, eine auch im Leiden Zurückhaltende. Auch sie war dann in den 60er Jahren kaum noch gefragt und kehrte rächend bei Fassbinder als der allerdüsterste Schatten ihres Leinwand-Imagos der Wirtschaftswunderzeit zurück.

Schimmert das durch? Der Schatten einer Frau, die einmal nichts, absolut nichts anderes wollte als dies: zu lieben?

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DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS  ist ein Kriminalfilm. (Einer, der, wie Rainer Werner Fassbinder sagte, weder nach den amerikanischen noch nach den französischen Filmen des Genres sieht.) Jemand also muss eines gewaltsamen Todes sterben. Und etwas muss aufgedeckt werden, mehr oder weniger.

Der Film ist konstruiert aus Blick und Bild. Mit der Eingangsszene, in der Veronika Voss sich selber auf der Leinwand sieht (im Kampf mit der Droge) wechselt sie zwischen den Zuständen. Sie will das (hehre) Bild des Begehrens sein, wenn sie mit Krohn spricht, dann eigentlich immer nur über ihr Leinwand-Imago. Dass Robert Krohn sie retten will, ist, wie in einem klassischen Detektivfilm, daher nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte besteht in dem Impuls, ein Rätsel zu lösen.

Daher wechselt ihre Erscheinung zwischen Indiz und Symbol.

Rätsel und Rettung widersprechen einander, deswegen sitzt ja auch Philipp Marlowe, wie Robert Krohn, am Ende immer allein an seinem Schreibtisch.

Henriette und Robert werden das Ehepaar Treibel finden, das Selbstmord begangen hat, weil Dr. Katz die rettenden Drogen verweigert, weil nichts mehr zu holen ist. Henriette fällt einem Autounfall zum Opfer, der natürlich ein Mord war. Sie war den Machenschaften der Dr. Katz auf der Spur, die sich ihre Opfer durch das Morphium gefügig machte, um an ihr Vermögen zu kommen (so jedenfalls, was den kriminalistischen Aspekt anbelangt). Der Leiter der Gesundheitsbehörde, Dr. Edel (Erik Schumann) hat mit ihr gemeinsame Sache gemacht. Natürlich ist man gegen eine solche Allianz machtlos.

Es gibt keine poetische Justiz.

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DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS  ist eine Parabel vom „Sieg“ des Kapitalismus über die Gespenster des Faschismus. Die Gier der neuen Eliten trifft die Opfer des Faschismus wie das Ehepaar Treibel und eine einstige, sagen wir: Nutznießerin, wie Veronika Voss gleichermaßen. Krohn und Henriette, Vertreter einer schwachen aufklärerischen Demokratie, haben gegen diese Wirtschaftswunder-Täter keine Chancen.

Henriette von Hassberg ist Cornelia Froboess, einerseits, das patente Nachkriegs- und Wirtschaftswunderkind par excellence. Immer noch patent, lange nicht mehr so fröhlich. Dass sich Robert und Henriette ertragen, hängt damit zusammen, wie wenig sie voneinander verlangen. Sprach man nicht einst von der „skeptischen Generation“? Skeptisch vor allem den eigenen Gefühlen gegenüber. Auch sie Teil eines Projekts zum Unverbindlichmachen.

Wenn Robert Krohn davon besessen ist, Veronika Voss zu retten, bzw. ihr Geheimnis zu ergründen, dann ist es an Henriette, Robert Krohn zu retten. Dies praktische Zuwendung, dieses einander Erträglichsein, diese unpathetische Form von Solidarität – wäre das nicht die Lösung (eine Lösung)?

Robert ist von Veronika, wahrscheinlich, auch deswegen so fasziniert, weil sie das Unbedingte und Ausschließliche verspricht. (Natürlich hätte er sich, wollte man’s leichter haben, auch gleich in ein Kino-Bild verlieben können. Die radikalste Lesart für DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS : Ein Mann geht ins Kino und kommt deprimierend folgenlos wieder heraus. Statt etwas zu gewinnen hat er etwas verloren. Aber er funktioniert besser als zuvor. )

Oder: Der Wirtschaftswundersohn will Liebe mit seiner Faschismus-Mutter machen.

Das Kino verspricht das Leben und bringt den Tod.

Dass wir am Ende den Papst aus dem Radio seinen Segen (Urbi et Orbi) spenden hören, könnten wir als Sarkasmus abtun, und dass Robert Krohn, resigniert, zum Sport zurückkehrt, nach einem letzten Versuch des Widerstands, das alles zeigt, wie sich die Verhältnisse unveränderlich gemacht haben. Wir sehen, unter anderem, in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS  einer Gesellschaft beim Versteinern zu.

 

UND WENN SIE NICHT MEHR LEBEN KÖNNEN, DANN STERBEN SIE NOCH HEUTE

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Es ist eine Märchengeschichte vom Mann, der eine Frau retten will, die an ihr Spiegelbild gebunden ist, die sich aber nicht retten lassen will. In der Rolle des Spiegels: das Kino.

Krohn und Veronika haben Partner, die das Verhängnis nicht aufhalten können. Henriette, die junge Liberale, Rehbein, der alte Melancholiker. Zu Rehbein, ihrem ehemaligen Mann, sagt Robert Krohn, dass er Veronika retten will. Der weiß schon, dass das nicht geht. Die hat ihren Tod schon beschlossen, er ist Teil ihrer Inszenierung. Sie muss sich, genauer gesagt, auslöschen. Und sie findet niemand Besseren als jene Frau Dr. Katz als Instrument der Auslöschung.

Also ist vielleicht gar nicht Veronika Voss das Opfer von Dr. Katz, sondern genau umgekehrt die Frau Doktor das Werkzeug der Selbstauslöschung eines Bildes? Versuchen wir es mit Dialektik.

Die Sehnsucht der Veronika Voss ist der Tod.

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Das Wirtschaftswunder verwandelt „Memories“ in Geld. Es verwandelt noch die Energie, die beim Kaputtgehen an den Erinnerungen, so oder so, entsteht, in Geld. Es verwandelt sowohl unterdrücktes Täterwissen als auch unterdrücktes Opferwissen in Geld. Es erstickt die Menschen in Geld. Geld ist das Gift. Das Gift ist das Geld. Geld ist das Licht dieser Zeit, das giftigste Licht. Das Geld im Wirtschaftswunder ist weiß. Das Geld im Wirtschaftswunder weißt. Das Geld im Wirtschaftswunder weiß. Je mehr das Geld im Wirtschaftswunder weiß, desto weniger wissen die Menschen.

Um zu siegen, benötigt der neue Kapitalismus Menschen wie Dr. Katz. Denn sie schaffen das Kapital aus der Negation. Aus dem Sterben, dem Vergessen, dem Verlöschen (der Bilder). Die „ursprüngliche Akkumulation“ der Stunden nach der Stunde Null. Unmöglich eine Dr. Katz ohne ihr politisches Pendant mit dem schönen Namen Edel. Unmöglich das Wirtschafts-WUNDER ohne das Schaffen von Kapital aus dem Tod. (Diese Figuren tauchen, wenngleich in weniger apokalyptischer und weniger expressionistischer Ausformung in allen BRD-Filmen von Rainer Werner Fassbinder auf.)

*

Die ursprüngliche Akkumulation ist immer ein Verbrechen. DIE URSPRÜNGLICHE AKKUMULATION IST IMMER EIN VERBRECHEN!

Die ursprüngliche Akkumulation des Wirtschaftswunders ist weder faschistisch noch antifaschistisch (bei Fassbinder gibt es sie gar explizit bzw. phänotypisch auf beiden Seiten – eine Seitenfährte zur Auseinandersetzung mit Fassbinders angeblichem Antisemitismus); sie teilt nicht zwischen Tätern von einst und Opfern von einst, sondern nur zwischen Gewinnern und Verlierern.

Unnütze Abschweifung: Der Neoliberalismus ist die Wiederkehr des Wirtschaftswunders als Farce. (Oder doch nicht so unnütz: Fassbinders Filme nutzbar machen für eine Kritik des Neoliberalismus!)

 

SCHATTEN

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DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS  ist ein SUNSET BOULEVARD des deutschen Films. Wir erinnern uns: William Holden gelangt in das Haus der Stummfilm-Diva Gloria Swanson, die immer noch auf das große Comeback hofft, und er arbeitet für sie, einerseits weil er pleite ist, andererseits weil es eine seltsame Faszination zwischen dem jüngeren Mann und der älteren Leinwandgöttin gibt. Die große „Abschiedsparty“, die Dr. Katz und die Ihren für Veronika geben, die angeblich einen Ruf aus Hollywood erhielt, und die damit endet, dass sie durch den kalten Entzug und die radikale Einsamkeit einer Eingeschlossenen in den Selbstmord getrieben wird, scheint eine Reminiszenz an den „großen Auftritt“ (in der großen Illusion). In beiden Filmen gibt es eine „gute Frau“ im Hintergrund, die die nekrophile Reise des Helden nicht aufhalten kann, der seinerseits die Reise in den Tod der großen Diva nicht aufhalten kann.

(Oder Laura! Was wäre, wenn sich Robert Krohn in eine Frau verliebt hätte, die längst schon tot ist? So hätte er ein Gespenst zu erlösen, und so, das wäre eine getane Arbeit, hätte er sogar Erfolg gehabt, wenn es darum gegangen wäre, diesem UFA- und Treblinka-Gespenst beim Verschwinden zu helfen.)

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Die absurdeste Wanderbewegung hat das schauspielerische Talent der Veronika Voss genommen: Bei der kleinen Rolle, die sie dann doch noch bekommT, ist sie so unprofessionell, dass der Regisseur sie feuert. Doch wenn es darum geht, die Menschen um sie herum zu täuschen, über den wahren Charakter ihrer Abhängigkeit, wenn es darum geht ihr scheinbar selbst gewähltes Gefängnis gegen die Versuche zu verteidigen, sie zu befreien, dann kann sie so überzeugend sein. Das Schauspielen ist ihr ins Leben gerutscht, und weil sie ihr Leben nur noch spielt, hat sie kein Leben mehr für das Spiel.

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Schauspiel und Leben (das Subjekt und sein Objekt-Schatten) haben die Seiten gewechselt.

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Wie Holden in SUNSET BOULEVARD ist auch Thate in DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS in einer Lebenskrise. Auch er in einer Beziehung zu einer „braven“ Frau, die ihn liebt, und die er eigentlich auch liebt. Aber unzufrieden mit sich selbst, mit dem Job eines Sportreporters, vielleicht auch mit den politischen Verhältnissen, jedenfalls mit seinen eigenen Möglichkeiten. Er ist sich vielleicht selber ein wenig zu fad und zu angepasst. So wie für Veronika Voss geht es auch für ihn um eine Form der Erlösung. So folgt er dem Geheimnis.

 

DIE FRAU OHNE SCHATTEN

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Veronika Voss ist in ihrem (Film-) Bild gefangen, weil sie mit ihrem realen Bildnis nicht leben kann. Das Filmbild wird von den Männern bewundert und, eben, beschützt. Doch was sie im wirklichen Leben schützt, das sind die Erinnerungen und das sind die Drogen. Das Leben in einer lesbischen „Familie“, in der in Wahrheit nicht einmal die böse Dr. Katz, sondern ihre sinistre Haushälterin die Fäden in der Hand hält. Einem dreifachen Gefängnis entkommt man nicht, vor allem, wenn jede Öffnung des einen nur in das andere führt.

Noch eine Möglichkeit: Mit DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS wollte sich Rainer Werner Fassbinder selbst von seinen drei Gefängnissen befreien. Der Droge, der „Ersatzfamilie“ und – dem Kino.

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Dr. Katz ist Dr. Caligari. Das Urbild der Weimarer Tyrannen im Film. Dann ist Veronika der „Schlafwandler“ (Cesare). Im Zentrum einer „Anstalt“ werden fürchterliche Träume produziert. Die Therapeutin ist zugleich das Monster (oder ein Instrument in den Händen eines anderen, Schattenwesen: der Haushälterin).

Die Tyrannei besteht im Auslöschen. Auch Veronika Voss soll ganz und gar „weiß“ werden, ein „unbeschriebenes Blatt“, eine leere Leinwand. Das Verhältnis der Heldin zum Nationalsozialismus im Allgemeinen und zu Josef Goebbels im Besonderen scheint schon verschwunden. Die Erinnerung geht in diesem Weiß in die Blendung über.

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Wie der Faschismus Weimar „enthielt“, und wie die Wirtschaftswunderzeit den Faschismus „enthielt“, und wie, erstaunlich genug, die Wirtschaftswunderzeit sich Weimar näherte. Weimarer Schatten in der postfaschistischen Bundesrepublik.

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Die grausigste Szene: Robert Krohn, dessen Geliebte man ermordet hat, und der die Mörder nicht anklagen kann, kehrt zu seinem Schreibtisch zurück und schreibt eine Reportage über ein Fußballspiel. Er hat die beiden Frauen verloren, die er vielleicht geliebt hat, die eine war zu „böse“ für ihn, die andere zu „gut“. Mit dem Fußball kehrt er in eine „reine“ Männerwelt zurück. Seine Erkundungsreise in die weiblichen Unterwelten ist beendet. War er je Handelnder? War er je Subjekt? Oder doch nur ein Medium? War am Ende er der Schlafwandler? Und Henriette, die ihre Neugier mit dem Leben bezahlen musste, hat sie nicht auch mit einer sonderbar somnambulen Gleichgültigkeit reagiert, als sich die Diva so in ihr Leben drängte?

Eine Gesellschaft der Schlafwandler. Eine Gesellschaft von Menschen, die sich vor nichts so sehr fürchten, als aufgeweckt zu werden. Eine Gesellschaft von Menschen, die sich nach nichts mehr sehnen, als zu erwachen. Die Sehnsucht der Veronika Voss, immer wieder muss sie es sagen: Das Licht möge erlöschen. Das Licht, das sie projiziert, das sie doppelt und trennt.

Dieses giftige Licht…

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Das Märchen von der Frau, die ihren Schatten verlor. Flashback zu Hofmannsthal / Strauss. Dort ist die Frau (im Traumreich), die keinen Schatten hat, identisch mit der Frau, die keine Mutter sein kann. Das eben ist, unter anderem, das Drama der Veronika Voss: dass sie sich nicht anders bewahren und fortsetzen kann als in sich selbst. So gibt es vielleicht eine weitere Erklärung für ihre hysterische Reaktion auf die sexuelle Annäherung. Die Frau ohne Schatten steht am Ende der Oper vor dem versteinerten Mann. Zwei Formen der Unfruchtbarkeit, des Eingeschlossenseins in sich selbst.

Übrigens gibt es in der Frau ohne Schatten eine böse Amme. Die Frau ohne Schatten in Veronika Voss findet in Dr. Katz eine böse Mutter und in der Haushälterin so etwas wie eine böse Amme. (So sehen wir den Fluss der Droge noch einmal anders.) DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS erzählt einen Familienroman rückwärts, negativ und inversiv.

(Nebengedanke: Veronika Voss ist immer noch Rainer Werner Fassbinder.)

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In dem Film, den RWF mit Sybille Schmitz besetzen wollte, bevor er erfuhr, dass sie durch Selbstmord geendet war, hätte sie eine Mutter spielen sollen. Die Rolle, in der Veronika Voss dann scheitern wird, ist die einer Mutter.

Veronika Voss kann nur in ihrem eigenen Bild (als ihr eigenes Geschöpf, als ihre eigene Tochter) weiterleben. Beziehungsweise sie kann es nicht.

So wie Veronika Voss an die Vergangenheit gebunden ist, ist Maria Braun an die Zukunft gebunden. Wo diese den Eingang in die neue Zeit nicht findet, da treibt es die andere förmlich voran, um jeden Preis (wie den Angelus Novus).

Aber es kommt auf dasselbe hinaus. Es sind die Frauen, die den Weg frei machen für den kommenden Kapitalismus.

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„Männer können nie so perfekt unterdrücken, wie Frauen es gerne hätten“, hat Rainer Werner Fassbinder gesagt. In der ersten Lesart ist das natürlich ein richtiger Chauvi-Satz. So einen sagt man, um jemand anderen vor den Kopf zu stoßen. Aber man kann ihn natürlich auch ein paar mal umwenden. Veronika Voss ist ein Bild, in dem der Satz um- und umgewendet wird. Bis man dann an einem anderen Fassbinder-Satz angelangt ist: „Ich kenne keinen außer mir, der so verzweifelt konsequent einer wahrscheinlich infantilen, dummdreisten Utopie von etwas wie Liebe hinterherrennt.“

 

WEISS, SEHR WEISS

Wer der Liebe hinterherrennt, der findet nichts Besseres als den Tod. Wer vor ihr davonläuft, dem ergeht es genauso.

Am Ende von DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS ist Ostern. Der Papst predigt Liebe, die Glocken tönen voll und laut herein, das Fenster wirft den Schatten als Kreuz. Und es geschieht Nichts-Mehr.

 

Georg Seeßlen, 14.02.2014 / Hamburgische Dramaturgie

Die Sehnsucht der Veronika Voss (nach einer Vorlage von Rainer Werner Fassbinder) hatte am 23. Februar 2014 im Hamburger Thalia Theater Premiere. (Regie Bastian Kraft)

 

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DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS

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Deutschland 1982, ca. 89 Minuten
FSK 16
Regie: Rainer Werner Fassbinder
Kamera: Xaver Schwarzenberger

mit
Rosel Zech
Hilmar Thate
Cornelia Froboess
Annemarie Düringer

DVD EXTRAS
Gespräch zwischen Juliane Lorenz und Rosel Zech; Interviews mit Xaver Schwarzenberger und Peter Märthesheimer; Original Kino-Trailer

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Szenenfotos (3), DVD Cover und Trailer: STUDIOCANAL Home Entertainment Germany