Eine versprochene Ausstellung
In der ersten Retrospektive demonstriert Gülsün Karamustafa in Istanbul den Emanzipationsprozess der türkischen Kunst seit Beginn der 90er Jahre.
Eine junge Frau, die vor einem steinernen Monument steht. Gülsün Karamustafas Werk “The Monument and the child” aus dem Jahr 2011 entstand während eines Stipendienaufenthalts in Wien. Auf der Arbeit, dem Entwurf für einen Wandteppich, sieht man die Künstlerin auf einem autobiografischen Bild als Kind. Es steht neben dem “Denkmal des Vertrauens” in der türkischen Hauptstadt Ankara. Karamustafa reflektiert in der Arbeit die Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei. Das Monument haben die östereichischen Künstler Clemens Holzmeister und Anton Hanak, die beide dem Austrofaschismus nahe standen, 1931 auf Einladung des türkischen Staatspräsidenten Mustafa Kemal Atatürk zu Ehren der türkischen Polizei geschaffen. Doch die Art und Weise, wie das Mädchen die monumentalen Figuren in dem Relief des Denkmals wegzudrücken versucht, demonstriert zwei zentrale Aspekte, die das Werk einer der wichtigsten türkischen Gegenwartskünstlerinnen charakterisieren: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Landes. Und die Reflexion über die Rolle als Frau in der Kunst.
Wer das “Kunstbeben” (René Block) erklären will, das sich seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts am Bosporus ereignet hat, der landet bei Gülsün Karamustafa. Denn das Werk der 1946 in Ankara geborenen Künstlerin spiegelt die politischen und ästhetischen Umschwünge der umbrechenden Gesellschaft am Bosporus in den letzten 30 Jahre wieder. Es sagt etwas über die die Wertschätzung der eigenen Kreativszene in der Türkei aus, dass die inzwischen 68 Jahre alten Ausnahme- und Leitkünstlerin erst Ende 2013 die erste zusammenhängende Retrospektive in einer Kunstinstitution in ihrem eigenen Land erhielt. “A Promised Exhibition”, der Titel der Schau in der 2011 neu eröffneten SALT-Kunstinstitution (vormals: Garanti-Plattform) variiert den Titel einer 2004 entstandenen Bildserie. Am Vorabend der endgültigen Kapitalisierung der Kunst in der Türkei und der verstärkten Repression der islamischen AKP-Regierung nach dem Gezi-Sommer kann man sie fast mehr noch als den späten Tribut an das Oeuvre einer der wichtigsten türkischen Künstlerinnen als Bilanz einer Epoche der ästhetisch-sozialen Emanzipation in der Türkei lesen.
Die von SALT-Direktor Vasif Kortun kuratierte Schau ist nicht streng chronologisch. Erlaubt es aber dennoch Karamustafas , Werkentwicklung nachzuvollziehen. Dem widerständigen Mädchen von einst begegnet man darin noch einmal – als junger Frau. 1970 wandert die Künstlerin, die an der Istanbuler Kunstaklademie studiert hatte, kurze Zeit wegen politischer Protestaktionen ins Gefängnis. In der Installation “Bühne” (Stage) aus dem Jahr 1998 thematisiert sie ihre Auseinandersetzung mit der Staatsmacht. Auf einem privaten Foto aus dem Jahr 1971 sieht man die Künstlerin und ihren Mann während der Gerichtsverhandlung. Über das vergrößerte Foto, das in einem abgedunkelten Raum präsentiert ist, wird aus einem Projektor ein rotierender Lichtkreis projiziert, der aus den Worten “Stage.Regime.Control.Ideology” gebildet ist. Damals wurde Karamustafas Reisepass eingezogen. Die Künstlerin dürfte ihr Land bis 1986 nicht verlassen.
Diesselbe Verbindung von privat und politisch, von individueller und kollektiver Geschichte findet sich in dem – angesichts der jüngsten Szenen am Taksim – bis heute ikonischen Werk “Memory of a Square” aus dem Jahr 2005. Die zweikanalige Videoprojektion zeigt in elf Episoden Szenen eines ganz normalen Mittelklasse-Familienlebens. Daneben sind Szenen der politischen Ereignisse zu sehen, die sich seit den 30-er Jahren auf Istanbuls zentralem Taksim-Platz abgespielt haben: Demonstrationen, Republikfeiern, Maiaufmärsche.
Karamustafas Widerstand war aber nicht nur politischer, sondern auch immer ästhetischer Natur. Mehr unwillkürlich, prozesshaft brach sie zu Beginn ihrer “Karriere” mit der zu Beginn der siebziger Jahre in den Kunstakademien vorherrschenden, vermeintlich progressiven Malweise der abstrakten Moderne. Damals entwickelte sie ihren narrativen und figurativen Stil, der es ihr später erlaubte, Einflüsse aus ihrer privaten Umgebung und aus einer, gemeinhin nicht in der malerischen Hochkultur repräsentierten Lebenswirklichkeit in das Bild zu integrieren – den Kitsch und das Profane der nichttürkischen, “arabesken” Alltagskultur. Diesen Stil entwickelte sie weiter, als sie die Erlebnisse ihres Gefängnisaufenthalts in den “Prison Paintings” aus den Jahren 1972-1978 zu verarbeiten begann. Schon hier zeigt sich jene charakteristische Mischung aus naiver Malerei und gemaltem Patchwork, der auch später ihre Objektarbeiten kennzeichnen würde.
Seit Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts knüpft die Installationskünstlerin überraschenderweise wieder an diese Zweidimensionalität an. Zu dieser Zeit entstehen die, in SALT erstmals im installativen Gesamtzusammenhang gezeigten Bilder “Promised Paintings”. Mit ihnen spielt Karamustafa auf die lange Zeit in der Türkei verpönte orientalische Ikonentradition an. Die Hand auf den Bildern nimmt deren Konzept des “acheiropoieta” auf, einer mystischen Hand, die den Maler nicht als Erschaffer sondern als Exekutor bezeichnet. Auch dies ein Hinweis auf die kritische Auseinandersetzung mit dem Bild des Malers in der Moderne.
Einen entscheidenden Umschlagspunkt markieren die Dreharbeiten zu dem Film “A sip of love”. Ein Dokumentarfilm über die seit Ende der achtziger Jahre in der Türkei massiv einsetzenden Migrationsbewegungen, zu dem der Regisseur Atif Yilmaz Karamustafa einlud. Sie faszinierte während der Recherchen für den Film die Erfahrung der kitschigen, hybriden Dekors, dieser, zumeist aus Südosteuropa und Russland stammenden “Newcomer”-Kulturen. Und schlug sich in Wandteppichen nieder, auf denen neben Elvis Presley, Jesus, eine Blondine auf einem Motorrad oder exotische Tiere wie Tiger oder Pfaue zu sehen sind. Daneben entstanden Objekte wie “Venus in Jar” ( 1988 ) oder die zwei, “Monument for Kitsch” betitelten Werke. Einmal ist eine kleine Göttinnen-Statue in einem Marmeladenglas eingeschlossen. Und in den “Monument”-Arbeiten verbindet Karamustafa das Profane mit dem Heiligen, wenn sie eine Plastikrose unter einen Gazeschleier stellt, der von oben einen Altarsockel umschließt – eine Art türkischer Protopop.
Zu den Inkunabeln der Schau gehört Karamustafas Werl “Mystic Transport” aus dem Jahr 1992: 20 große Metallkörbe auf Rädern, von denen jeder eine große Überwurfdecke aus verschiedenfarbigem Satin enthielt. Das ursprünglich für die Istanbul-Biennale 1992 hergestellte Werk steht als Symbol für das Leben der Migranten, für die eine Decke oftmals das einzige Besitztum war und Intimität gleichermaßen wie Schutz darstellte.
In diese Phase gehört auch eine Arbeit wie “Heimat ist, wo man isst” aus dem Jahr 1994. Die Installation besteht aus drei Löffeln, Symbol einer kleinen Familie, die von Verbandwatte umgeben sind. Der Titel der Arbeit verweist auf Heimat als soziales Konzept. Und bringt die Mischung aus Montage, Serialismus und Kontextualisierung auf den Punkt, nach der fast alle Installations-Arbeiten Gülsün Karamustafas funktionieren.
Ingo Arend
AUSSTELLUNG
Gülsün Karamustafa : “A Promised exhibition”
Salt Beyoglu, 10.9.2013 – 5.1.2014
- Alltag mit Corona: Berlin - 23. Dezember 2020
- Streit um neuen documenta – Aufsichtsrat in Kassel - 12. Dezember 2020
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