(…) Wenn die Charge Hitler uns Deutsche entlasten soll, böse Nazis gewesen zu sein, dann stellt sich für Hans Jürgen Syberberg die Frage, ob wir denn überhaupt entlastet sein wollen. Wie wäre es, wenn man sich oute als jemand, der genau das in sich stecken hat, was der Führer dann eventuell zu weit trieb? Ein Ja! zur produktiven Kreativität des Irrationalismus! Der siebenstündige Film mit dem sprechenden Titel »Hitler, ein Film aus Deutschland« (1976/77) kam zur rechten Zeit.

Sprechen wir nicht davon, was der Film intendierte, sondern was der Film bewirkte: Er kitzelt den Nazi heraus, der in dir steckt. Schon bald gab es ein Schlagwort dafür: Der-Hitler-in-mir. Das stieß in der binnendeutschen Rezeption auf wütende Ablehnung. Ich, Deutscher, bin kein Nazi. Ein Unisono der Söhnegeneration, der 68er, die sich ja gerade als Anklagebehörde gegen die Väter-Nazis verstand. Wer sich mit dem Film beschäftigte, war jung und links. Syberberg hatte dafür ein Schimpfwort parat: Linksintellektuelle. Aber auch die Väter waren mit dem Hitler-Film nicht einverstanden. Nazis, das waren die anderen, die Bösen, und mitnichten Parsifal, Wagner und das deutsche Bildungsbürgertum. Außerhalb der BRD war die Reaktion entgegengesetzt: Der Hitler-Film begeisterte. In Berlin, Hauptstadt der DDR, setzte sich Heiner Müller hin und schrieb eine Hommage an Syberberg für die Sondermimmer 1980 der Cahiers du Cinéma, Paris. Hitler wurde aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt, »um mit den Dämonen von heute zu sprechen« (Vito Zagarrio). – Die Titel der vier Teile des Films geben den Weg vor: Der Gral. – Ein deutscher Traum. – Das Ende eines Wintermärchens. – Wir Kinder der Hölle.

»Hitler, ein Film aus Deutschland« wurde Ende 1977 auf dem Internationalen Filmfest London und in der BRD Sommer 1978 im Rahmen der Aschaffenburger Gespräche uraufgeführt. Am 4. Januar 1980 kam er ins Fernsehen (ARD).

1978 bekam er in London den British Film Institute Award als »most original and imaginative film introduced at the National Film Theatre during the year 1977«. In Westdeutschland machte sich Syberberg rar. Er misstraute der linken Filmkritik. Den Berliner Festspielen 1978 und zunächst auch deutschen Kinos verweigerte er den Hitler-Film. Sich an Richard Wagner messend, der seine Musik deutschen Opernhäusern entzog, bis er von Ludwig dem Bayern eine eigene Weihestätte geschenkt bekam – Bayreuth -, versuchte Syberberg durch Sondervorführungen wie der deutschen Erstaufführung auf dem Historikertreffen, wenn schon nicht in Bayreuth, so doch in Aschaffenburg auf seinen Film aufmerksam zu machen. Syberberg hatte mit seinem Sieben-Stunden-Werk nicht weniger vor, als in Deutschland den schöpferischen Irrationalismus neu zu etablieren und gegen den kritischen Rationalismus zu setzen. »Hitler – ein Film aus Deutschland« ist als Gesamtkunstwerk konzipiert, das raunend Licht, Ton, Bühne, Gesten und durchaus auch schwallende Sprache zusammenkomponiert und die deutsche Seele ergreifen, ja durch mythologische Beschwörung ihr zu angemessenem Ausdruck verhelfen möchte. Kitsch und Kunst, Pathos und Ironie, aber immer Weihewerk. Es geht ihm um »die Wiedergewinnung des Irrationalismus, zurückgeholt aus der Schmollecke seiner geistigen Verbannung«. Und es geht »gegen den alltäglichen sogenannten positivistischen Rationalismus unserer Medien« (Syberberg).

Syberberg missioniert. Sein »Film aus Deutschland« stellt den irrationalen Adolf Hitler in den Kontext der abendländischen Kultur, in der Deutschland ja nur eine Facette ist. Und nicht nur das. Die Lichtgestalt Hitler ist geschichtslos. Sie ist von ewiger Präsenz. Sie gab es weit vor den Nazis, auch während der Nazis, aber genauso gut nach den Nazis. Hitler steckt in uns, in unseren Köpfen, Gefühlen, Ohren, Augen, Sinnen und Trachten. Hitler können wir erfassen, wenn wir die Mittel, mit denen er die Welt erfasste, übertreffen: durch »positive Mythologisierungen der Geschichte, durch die Mittel des Films, durch die geistigen Kontrollen der Ironie und des Pathos gefiltert« (Syberberg), durch Kunst. Da Ironie bekanntlich nur mangelhaft funktioniert, bleibt mit Sicherheit das Pathos. Und damit Hitler als Apotheose. Eine derartige Rezeption wäre aber Kunstbanausen vorbehalten. Wir Kenner jedoch würden Suchende werden, die durch und mit Hitler in den Schoß der Unschuld zurückkehren möchten, getrieben von einer unbändigen Sehnsucht.

Ich bitte um Nachsicht. Ich referiere bloß. »Hitler – ein Film aus Deutschland« ist selbst der Schoß, aus dem, was reingekrochen ist, gerade wieder herauskriecht. Davon später mehr. Aber halten wir den Zeitpunkt fest. 1978. Der Hitler-Film ist der letzte Teil einer Trilogie. Syberbergs Hitler war im ersten Teil ein Bayern-König: »Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König« (1972), 140 Minuten. Zwei Jahre später hieß er »Karl May« (1974), 135 Minuten. Und was genau hält die drei Kameraden zusammen? Sie sind »auf der Suche nach dem verlorenen Paradies« (Syberberg), und genau so lautete der Zweittitel des Karl-May-Films in Frankreich. Dass diese Generalsuche Deutschmythos at its best ist, besagen nicht nur die Kapitel des Hitler-Films. Syberbergs nächster Film heißt wagnergetreu »Parsifal«, in Deutschland erstaufgeführt auf der Documenta in Kassel 1982.

Syberberg: »Ich wählte den Weg in die Vergangenheit unserer letzten hundert Jahre, Ursprünge vielleicht vieler jetziger Entwicklungen zu suchen. Mit >Ludwig< beginnend, >Karl May< als Fortsetzung und >Hitler< das Thema des Jahrhunderts als letzte Stufe dieser Vergangenheit, uns eingeschlossen, immer, heute und Europa, ganz allgemein, mit abendländischer Tradition.«

Die Wege zu Reinheit und Ganzheit, vulgo Glaube und Schönheit, zutiefst deutsches Verlangen, werden jedoch, ach, in der BRD von einer Medienclique blockiert, die für Vergangenheitsbewältigung und Nazikritik einen Alleinvertretungsanspruch erliebt. Eine »Gleichschaltung«, die die westdeutsche Kultur ihrer Herrschaft unterworfen habe. Die linke Kulturschickeria, die die Nazis als rechtsradikal abtue, zwänge ihr ein nichtssagendes Recht-Links-Schema auf. Vorwerfbar sei den Nazis allenfalls, dass sie ein Grundprinzip der deutschen Kultur, den Irrationalismus, missbrauchten. »In der freiwilligen Selbstaufgabe seiner schöpferischen Irrationalität vor allem, und vielleicht einzig hier, hat Deutschland wirklich den Krieg verloren.«

Dass die Deutschen den Krieg verloren haben, ist eine freiwillige Leistung. Ein Satz zum Nachschmecken. Er birgt einen Handlungsansatz. Was wir freiwillig taten, können wir freiwillig revidieren. »Hitler – ein Film aus Deutschland« ermuntert jedermann zur Revision der deutschen Niederlage, damals 1945. Syberberg missioniert dreißig Jahre später. Er fühlt sich verkannt, aber auch ermächtigt. Denn anders als alle anderen, die 1968 begonnen hatten, gegen ihre Nazi-Väter aufzumucken, war der junge Hans Jürgen rein geblieben, so rein wie sein Vater. Gutsbesitzer in Vorpommern zwar, aber den Nazis abhold. Als Schüler in Rostock, DDR, war er frei und unbelastet von den Nazivätern in der BRD. »Ich lebte außerhalb der Nazi-Gesellschaft und darf mich heute unbeschädigt von ihren Folgen bewegen, immunisiert, ohne mich durch protestierende Profilierung von den Eltern absetzen zu müssen und ohne Racheerziehung gegen die ehemaligen Verfolger« (Syberberg). In der DDR blieb er sauber, »preußisch-konservativ, in klassischer Schule, ohne Kaugummi und Flipper, nicht umsonst in stalinistischer Epoche erzogen«.

Als Kind hatte er, zwölfjährig, sein Dorf verlassen, als 18-jähriger brach er in die BRD auf, einzigartig dort in seiner Generation, allein unter Linken. Syberberg erinnert an das, was er als Kind geschworen hatte, 1945, in Pommern: »Er ging fort hinaus in die Welt, denn dies war das Ende der Welt, und er wollte alles zurückbringen, schwor es wohl damals auf dem Altar der Kindheit, unter den Linden im Park der Erinnerung«. – Revisionismus pur, lebensgeschichtlich abgefedert, würden Linke sagen, die sowieso im Unrecht sind.

 *

Hitler-in-uns: Syberberg-Rezeption im Ausland

In Westdeutschland war die amerikanisierte Journaille für den Hitler-Film nicht zu gewinnen. Die ablehnende Kritik wurde jedoch schnell aufgeweicht, als sich die Lobeshymnen in Frankreich, England, gar den USA überstürzten. Schon 1977, anlässlich der Weltpremiere des Films im British Film Institute in London, war er ja, wie gesagt, als originellster und phantasievollster Film gepriesen worden, der in jenem Jahr im National Film Theatre vorgestellt wurde. Getoppt wurde die Ehrung 1979 von der New York Times, in der die auch von den bösen Linken hoch geachtete Susan Sontag den Film als »eines der größten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts, vielleicht den größten Film aller Zeiten« bejubelte. Syberberg, ein neuer Gröfaz. Das reichte dem angesehenen Hanser Verlag 1980, um mit dem Hitler-Film und mit Susan Sontags Super-Film-Charts eine neue Reihe zu begründen: Arbeitshefte Film Hanser. In Nummer 1 ist nachzulesen, warum die ausländische Prominenz im Gegensatz zur inländischen dem Film so viel abgewinnen konnte. Die Jubelrezeption sollte dann mit ein klein wenig Zeitverschiebung auf die BRD zurückschlagen. Es lohnt sich, auf die Gründe für den neuen »Hitler«-Kult einzugehen. Hören wir neben Susan Sontag Michel Foucault, Alberto Moravia, Jean-Pierre Oudart – und Heiner Müller aus dem inländischen Ausland, Berlin, Hauptstadt der DDR:

»Größter Film aller Zeiten«: Susan Sontag

Susan Sontag, Leitwölfin der westlichen Filmpublizisten, prägte 1980 in der New York Review (»Eye of the Storm«) das Schlagwort zu Syberbergs Hitler-Film. Thema sei »Hitler in uns« oder kürzer noch »Unser Hitler«. Sie, die Riefenstahl-Essayistin, arbeitet es heraus, dass Hitler, als Filmemacher begriffen, nur zwei Denkmäler hinterlassen habe: Riefenstahls »Triumph des Willens« und die Deutsche Kriegswochenschau. Ihr Fazit: »Deutschland – ein Film von Hitler«.

Die Welt habe Hitler als Projektion wahrgenommen – wie jeder, der im Kino sitzt und Filme sieht, also wie du und ich. Und habe er nicht tagtäglich auf dem Obersalzberg cineastische Perlen bewundert? »Welten entstehen als Projektionen. In dir.« – Merk dir das. »Syberberg verlegt sein Kino in den Kopf, wo alles mit allem kombiniert werden kann.« – Anything goes, wird man ein Jahrzehnt später sagen. Also geht auch der hyperaffirmative Ansatz, »den Nazismus in diesem Film beim eigenen Wort« zu nehmen und einen eigenen »Schöpfungsmythos« draufzusatteln. »Syberbergs Film ist das künstlerische Unternehmen eines einzelnen, der sich seiner Pflicht als Deutscher stellt, … sein Deutschsein als moralischen Auftrag und Deutschland als den Austragungsort europäischer Konflikte« zu begreifen. Und wieder ein Titelvorschlag: »Das zwanzigste Jahrhundert- ein Film aus Deutschland«. Wir sind jetzt ins Hitlerdeutschland des Ersten Weltkriegs versetzt und wie stets im glühenden Syberberg-Essay bleibt ein Zweifel, ob Susan Sontag referiert oder ihrerseits auf den draufsattelnden Hitler-Regisseur noch eins draufsattelt. Auch das frühe 20. Jahrhundert ist im Kopf dessen, der sich ein Bild macht, Gegenwart. Deswegen, um der Essayistin zu glauben, hat Thomas Manns Merkspruch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs volle Aktualität: »Seelischer Kampfplatz für europäische Gegensätze zu sein: das ist deutsch« (»Betrachtungen eines Unpolitischen«), »Bruder Hitler« (Thomas Mann 1938) lässt uns in Syberbergs Film, so resümiert die Kennerin, gewaltige Stammbäume zuwachsen: »von der Romantik zu Hitler, von Wagner zu Hitler, von Caligari zu Hitler, vom Kitsch zu Hitler«. Freilich gehe es zu weit, »von Hitler zum Porno zu kommen, von Hitler zur seelenlosen Konsumgesellschaft, von Hitler zum rüden Zwangsregime in der DDR«.

Dem Reinen ist bekanntlich alles rein und dem Hitler alles Hitler. »Von Hitler zu Hitler – ein Film aus Deutschland« ist denn auch der ultimative Titelvorschlag. »HIitler als Metapher«, das ist für Susan Sontag »der krönende Abschluss in Syberbergs tiefgründiger Deutung«. – Hier wetteifert jemand mit der Maßlosigkeit des Films: »Syberbergs Film ist ein meisterliches Spiel mit dem symbolistischen Potential des Kinos und wohl das ehrgeizigste symbolische Kunstwerk unseres Jahrhunderts.« – Das wird Folgen haben, und wir werden sehen, wie im Schatten des Jahrhundertwerks Nazis immer besser werden.

»Faust. Dritter Teil«: Les Cahiers du Cinéma, Paris

Um den auf Westdeutschland zukommenden Hitlerfilm-Enthusiasmus einschätzen zu können, dürfen wir bei einer Einzelmeinung nicht stehen bleiben. Schon zwei Jahre vor Susan Sontags Eloge hatte Le Monde Syberberg am 22. Juli 1978 zum »dritten Faust« gekürt. Dort hatte Jean-Pierre Faye, Theoretiker der Gruppe Change (Langages totalitaires), im Hitlerfilm »Faust. Dritter Teil«, gesehen, »auf den Deutschland seit Goethe zu warten scheint«. »Das Volk der Philosophie hat nun den Film, den es verdient und den es wahrscheinlich wird verkennen müssen … – diesen Film, den ich persönlich gern Woche für Woche wiedersehen würde.« Mit solch markigen Worten legt man ein Bekenntnis ab. Es fordert zum Gleichtun auf. Aber zu was genau?

Die Cahiers du Cinéma, Cineastenbibel, wussten schon 1978, zwei Jahre vor der legendären Syberberg-Sondernummer, die Antwort. War bei Susan Sontag noch im Dunkeln geblieben, ob der Hitler-in-uns Last oder Lust sei, stellte es Jean-Pierre Oudart, Redakteur, ins Belieben eines jeden, sich am inneren Hitlerhund zu erfreuen oder eben nicht. Damit war der Weg für jeden neuen Nazi frei, sich ungeniert, gar sanktioniert als freie Persönlichkeit zu entfalten, als jüngstes Glied einer imposanten Kette.

»Syberberg setzt alles ein, um in den Kinobildern das Spiel, das Risiko der Verführung aufrechtzuerhalten, weil es sich bei dem Beziehungsgeflecht zwischen Faschismus und Film um Phänomene handelt, die mit der Magie, mit dem Traum, mit der Faszination zu tun haben, und weil es darum geht, dies filmisch darzustellen. Es geht darum, den Kräften der Phantasie ihre Chance wiederzugeben, nicht nur um das Andenken an Hitler auf filmische Weise zu besiegeln – das ist der unsinnige und schlechte Teil seines Vorhabens – sondern auch gleichzeitig um den Versuch, mit einem gewissen Tabu fertig zu werden, dass wir – angesichts der Bilder des Faschismus – Angst haben, dass Hitler in uns sei. … Die Traumeffekte … sagen dem Zuschauer nicht: du bist zu Hause, sondern: du träumst, und entweder magst du das oder du lässt es bleiben. … In dieser Traumfülle zersetzt sich die fotofilmische Erinnerung an den Nazismus. Das Monster verliert seinen Balg und seine Federn. Aber auch das erneute Wachrufen seines Traums, seiner Musik und seiner Lieder umfängt uns. … Es ist, als ob der Film sagen würde: ich erzähle Euch vom Faschismus, ich zeige Euch seine Bilder wieder, es ist an Euch zuzuhören, hinzusehen, beunruhigt zu werden, wenn Ihr dafür offen seid.«

Und nun zur Nutzanwendung. Endlich wieder Nazi-Bilder gucken? »Mein Kampf« lesen? »SA marschiert« singen? Die Reihen fest geschlossen? Mit festem Schritt und Tritt? Die Reaktion erschossen? – Oudart: »In Syberbergs Film ist der Diktator auch ein Mensch, Wagner ist auch Musik, die Nazi-Lieder sind auch Lieder, und niemandem ist es verboten, davon berührt zu sein.« Ein Beispiel? 0udart zitiert Syberberg:

»Nach der Vorführung in Cannes habe ich mit Ulrich Gregor und seiner Frau gesprochen, die bis jetzt meine Filme nicht allzu sehr mochten und die von >Hitler< tief betroffen waren. Für sie, die aus meiner Generation stammt, stellte der Film eine Art von Erlösung, im religiösen Sinn des Wortes, dar. Nach diesem Film, sagte sie mir, würde sie gern zum Strand laufen und ein letztes Mal das Horst-Wessel-Lied singen, wie sie es in ihrer Kindheit gesungen hat, danach wäre alles vorbei, man würde nicht mehr darüber sprechen. Eine Macht war hier in gewisser Weise gebrochen worden … Am Ende des Films werden die Zuschauer nicht aufstehen und mit erhobener Faust aggressiv die >Internationale< gegen Hitler singen, eher wird jemand am Meer dieses Lied singen, das er als Kind unter Hitler sang.«

Soweit die für die Cahiers und für Syberberg exemplarische deutsche Musterrezeption. Ein wünschenswerter Verstoß gegen »die permanente Zensur des Faschismus«: sich an den Tyrannen erinnern, »ohne die eigene Kindheit zu brandmarken«. Oudart ergreift zum Schluss Partei für die Kinder: »Dies zu glauben wagen: dass der Tyrann in seiner Gesamtheit auch ein Volk von gedemütigten und beleidigten Kindern war (gedemütigt und beleidigt aufgrund eines langen, beharrlichen, gehässigen Abtrennungsprozesses, getragen von den imperialistischen Politikern des Westens, ohne die der Nationalsozialismus in Deutschland niemals entstanden wäre).« – Syberbergs Film führt zur politischen Einsicht, dass nicht Hitler Schuld hatte, sondern der Westen. Hatte er, Hitler, nicht stets genau das gesagt? Die Demütigung und Beleidigung durch die Westmächte und die Schmach des Versailler Vertrages seien an allem Schuld? Und wieso endet Oudarts Artikel mit dem Satz »Aber das müsste man natürlich auch vergessen«? Ich denke, man müsste das Politikum zitieren. Und die Folgen bedenken.

»Ein schönes Monster, eine Zaubermacht des Nazismus«: Michel Foucault

Zur Zeit des Hitler-Films war der Philosophieprofessor Michel Foucault in Westdeutschland so gut wie nicht bekannt. Doch sollte hier die Foucault-Rezeption in den achtziger Jahren einsetzen und sich dramatisch steigern. Zum Kult. Umso mehr bekamen seine frühen Sätze zum Syberberg-Film Gewicht. Foucault verwies in einem Gespräch, das 1980 im Arbeitsheft Hanser übersetzt worden war, auf die historische Bedeutung des Films hin, der erstmals gegen die bis dahin respektierte politische Zensur verstieße, den Nazismus zu hinterfragen. In der philosophisch-poetischen Umschreibung Foucaults verhinderte »der Mantel des Schweigens, in den man – aus politischen Gründen – den Nazismus nach 1945 hüllte«, die Fragestellung, »was wird daraus in den Köpfen der Deutschen, was wird daraus in ihren Herzen, was wird daraus in ihren Körpern? Etwas musste daraus werden, und man erwartete mit einiger Angst, was am anderen Ende des Tunnels auftauchen würde.« – Eine wunderbare dramaturgische Disposition. Spannung! Die frankophile Welt starrt bangsüßer Ahnung voll auf den germanischen Vorreiter, der aus dem Tunnel auftauchen wird. Wer wird das sein? »Ein schönes Monster«, verfügend über »eine Zaubermacht des Nazismus«. Und was ist das für eine Gabe? »Eine gewisse Eindringlichkeit der Niedertracht, ein gewisses Schillern des Mittelmaßes.«

Und warum gibt es im zauberhaften Hitler-Film keine Fakten, kein einziges Bild eines Konzentrationslagers? »Schließlich gibt es auch anderes zu sagen über den Nazismus«, und wir danken für das Gespräch, Herr Professor.

Das Gespräch mit Michel Foucault wurde zur selben Zeit geführt, in der die prominente Zeitschrift L ‚Express nicht nur Bilder von Konzentrationslagern bezweifelte, sondern die Lager gleich selbst leugnete. Ohne jeden Kommentar war in dieser Zeitschrift ein Interview erschienen, in dem unwidersprochen behauptet wurde, dass in Auschwitz lediglich Läuse vergast wurden und die Aufnahmen von Leichen gefälscht seien. Die Rezeption des Syberberg-Films fiel also in eine Zeit, in der die Auschwitzleugnung zumindest inmitten des konservativen Lagers unbestritten ihren Platz hatte.

»Sehr gelungen«: Alberto Moravia

Die große Wirkung, nein, die Zaubermacht des Syberberg-Films liegt in ihrer interpretatorischen Ambivalenz. Was in und mit diesem Film aus dem Schoß kriecht oder frohgemut das Ende des Tunnels erreicht, schillert mal hier, mal dort hin, grad wie schief man den Kopf hält und man sieht – wie in den Trugbildern aus den Anfangszeiten der Cinematographie – das, was man hineingesehen hat. Dezember 1979. Zwei Beispiele aus der italienischen Rezeption des Syberberg-Films, welcher im Brechtschen Sinne den Zuschauer unter Anklage stelle (Alberto Moravia in L’Espresso) oder ganz im Gegenteil einen Nazismus mit menschlichem Antlitz propagiere (Vito Zagarrio in Avanti!).

Alberto Moravia fragt nach der Ideologie, »die, wie der Wind die Segel einer Barke, dieses majestätische Gefährt von Darstellung in Bewegung setzt«. »Etwas vereinfachend scheint der Film sagen zu wollen, dass Deutschland den Nationalsozialismus nicht nur für sich selbst, sondern auch für die übrige Welt geschaffen hat; und dass der Nazismus keineswegs tot ist, sondern heute überall Triumphe feiert.« Syberberg ziele eindeutig politisch auf die Mittäterschaft; »wir befinden uns vor Gericht, und der Richter will außer dem in seine Zelle gesperrten Angeklagten auch die Zuschauer unter Anklage stellen«.

Damit ist »Hitler – ein Film aus Deutschland« glänzend gerechtfertigt, überdies ist er »die sehr gelungene Anwendung des Brechtschen >Prinzips der Verfremdung«<, – Das geht auf Syberberg selbst zurück, der 1952 als 17-jähriger Schüler von Brecht das Privileg bekam, mit einer 8mm-Kamera im Berliner Ensemble zu filmen, und der dann 25 Jahre später sich anschickte, Brecht und Wagner zu »einem neuen Mythos zu verbinden« (Syberberg). Brecht und der neue Mythos. Für Moravia ist das »eine eindeutig politische, mit apokalyptischen Prophezeiungen getränkte Ideologie«.

»Nazistische Utopie mit menschlichem Antlitz«: Vito Zagarrio

Während Syberberg bei Moravia den Zuschauer anklagt, verteidigt er ihn beim Historiker Vito Zagarrio. »Jeder von uns hat schließlich Hitler in sich.« So gesehen scheine im Hitler-Film »die Möglichkeit einer nazistischen Utopie« auf; die »Idee eines Nazismus mit menschlichem Antlitz also gegründet auf der Liturgie des Schauspiels und der Faszination der Massenmedien«. Reaktionär, so Zagarrio, sei dies schon deswegen nicht, weil ganz im Gegensatz zu Moravia ein ideologisches Urteil bei Syberberg ganz unmöglich sei. Es »würde in jedem Fall wenig bedeuten«. Und jetzt kommt die größte Hitler-Apotheose aller Zeiten, und das Beste ist, Hitler kriecht aus unserem Schoß: »Er ist das Monstrum, das wir alle unversehens gebären können, wie der Weltraumforscher von >Alien<.«

Der zweistündige Film »Alien« von Ridley Scott war kurz vor dem Zagarrio-Artikel in die Kinos gekommen, bis heute immer wieder ausgestrahlt im Fernsehen, und immer wieder saugt sich ein undefinierbares Etwas am Kopf von John Hurt, dem Bordingenieur, fest. Sigourney Weaver, Bordoffizierin, erahnt die Kopfzeugung und das Monster, das aus dem Schoß kriechen wird. Und er, unser Bordingenieur, kann nichts dafür. Wie wir alle gesehen haben und immer wieder sehen und sehen werden, ist er von einem mythischen Wesen vergewaltigt und befruchtet worden. Er ist, wir sind das größte Opfer aller Zeiten. Von Kindesbeinen an. Von den Drachen der Märchen bis zur Science Fiction, »zusammengemixt von der Kino-Maschine« (Zagarrio).

»Ein Exorzismus«: Heiner Müller

Heiner Müller wirft ebenfalls den Linken vor, in der Prä-Syberberg-Zeit dem kollektiven Ich der Völker die Träume wegzensiert zu haben, den Kitsch, die Engel des Vaterlands. »Unter Kuratel gestellt verrotten sie zum Reservoir der Rechten.« Syberbergs Hitler-Film jedoch erobere das besetzte Gelände wieder und »ordnet das Tausendjährige Reich als weißglühende Episode in den Kontext der Kolonialgeschichte des vielhundertjährigen kapitalistischen Weltkrieges ein«. »Im Rauchvorhang der Kollision von Kino und Theater, Wagner und Brecht, bildet sich eine mobile Architektur heraus, das Protoplasma des Gesamtkunstwerks.« Eine Syberberg-Hommage, leicht verundeutlicht hinter einem Rauchvorhang, geschrieben 1980 für die Sondernummer der Cahiers du Cinéma. Syberbergs Hitler »ist ein Exorzismus«. Der Teufel ist ausgetrieben, Katharsis lichtet die Nebel, und Äalos bläht die Segel. Nur einmal, heimlich aber laut, das Horst-Wessel-Lied gesungen, und alles wird wieder gut. Wie wir gesehen haben, sind aus dem Hitler-Film jedoch jede Menge anderer Zitate herauszuklauben. Ist die Büchse der Pandora geöffnet? Werden doch Naziteufel herauskommen? Wie geht es in Westdeutschland weiter?

Syberbergs Hitler entwickelte sich in den achtziger und neunziger Jahren gegenläufig, anamnetisch gesprochen eindeutig schizophren. Phasenweise blieb der Dämon Hitler-in-mir gegenwärtig (Schlingensief). Dann wieder wurde Hitler von Exorzisten wie Joachim Fest entdämonisiert und zum symptomefreien Mitmenschen verbessert. Verkörpert wurde der Gesundungs- und Verschönerungsprozess durch den Herstellungsleiter des Syberberg-Œuvres von 1977: Bernd Eichinger. Er produzierte fast dreißig Jahre später seinen eigenen Hitlerfilm: »Der Untergang«.

Syberberg und Theweleit

In Westdeutschland verhielt man sich zum Syberberg-Film lieber abwartend. Die stillschweigende Verabredung, den eigenen Körper besser von so etwas wie Hitler fernzuhalten und sauber zu bleiben – Hitler-außer-mir -, war gängige Praxis, zumindest im Film. Aber es gab jemanden, der ähnlich dachte wie Syberberg, einen Schriftsteller, Historiker, Faschismusanalytiker, dessen Werk in wenigen Jahren Kult und Bedeutung für eine ganze Generation haben sollte: Klaus Theweleit und seine »Männerphantasien«, heute ein Klassiker. Erschienen war das Buch im selben Jahr wie Syberbergs Hitler-Film, 1977. Klaus Theweleit hatte die siebziger Jahre hindurch an seiner Dissertation gearbeitet. Im Jahr 2005 versicherte er in der März-Nummer von Konkret, dass er mit Syberberg eins sei, Hitler nicht als einzelne Figur zu verstehen geschweige darzustellen, »sondern als eine Art Zusammenfassung der Züge des völkischen Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Hitler ist eine Synthese des deutschen Wahns dieser Zeit« (S. 37).

Wir können im Erkenntnisansatz, den Theweleit in seinem Buch vorstellt (Bd. 1 S. 232 f.), den Hitler-in-mir wiederfinden, der Syberberg zugeschrieben wird: »Der Weg der Erkenntnis wäre vielleicht der, das eigene Unbewusste nicht zu verdrängen, die Geschichte (des Faschismus) vom eigenen Unbewussten >durchleben< zu lassen, so dass die Erkenntnis der Geschichte schließlich über eine Erfahrung des eigenen Unbewussten geschieht. … Man kann es auch so sagen: es geht nicht an, den Faschismus (oder irgendeinen geschichtlichen Gegenstand) als ein dem eigenen Selbst gegenüberstehendes Fremdes zu begreifen. Oder mit Walter Benjamins Worten: >Was man vernichten will, dass muss man nicht nur kennen, man muss es, um ganze Arbeit zu leisten, gefühlt haben<.«

Und genau hier liegt der Unterschied zu der halben Arbeit, die Syberberg leistet. Theweleit verfolgt mit dem Selbstversuch ein analytisches und politisches Ziel. Nicht umsonst heißt der Untertitel des zweiten Bands »Zur Psychoanalyse weißen Terrors«, und damit ist der mit dem Hitler-Film aufgekommene und bis zum Erbrechen strapazierte Hitler-in-mir nicht Zweck, sondern Mittel des antifaschistischen Kampfes – ein ungewöhnliches, klar verstoßend gegen die Gebote der therapeutischen Distanz, und der akademischen Respektabilität.

Bei Theweleit kommen wir weiter; es waltet das Gesetz der Dialektik. Das war mir damals vertraut. Mit zwanzig hatten wir eine Hegel-Arbeitsgemeinschaft gegründet, jahrelang die Phänomenologie des Geistes studiert und unsere Phantasie am unbekannten Wesen entzündet, dem Weltgeist. Aber was das auch sein mochte, was selbstredend vom Kopf auf die Füße zu stellen war, wir stehen bei Theweleit/Benjamin auf eigenen Beinen und kommen vorwärtshandelnd an die Front, gar zum Kampf. Bei Syberberg aber bleiben wir stehen, passiv, und warten darauf, verführt zu werden. Die im Arbeitsheft Hanser versammelten Elogen flüstern es uns ins Ohr: »Du brauchst gar nichts zu machen. Lass es einfach geschehen.« Behalten wir daher im Auge, welche Risiken und Nebenwirkungen Syberbergs attraktives Wahngebilde hatte, hat und haben wird. (…)

Dietrich Kuhlbrodt

Dieser Text ist ein Auszug aus Dietrich Kuhlbrodts Buch:

 

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Deutsches Filmwunder – Nazis immer besser

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HITLER, EIN FILM AUS DEUTSCHLAND 

Hans Jürgen Syberberg, D/F/GB 1977

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2 DVDs , Hitler – Premiere in New York (30min) ,
Booklet mit Kapiteln und Texten

Untertitel: Englische Sprachversion
Sprache: Deutsche und englische Fassung
Veröffentlichung: 08.06.2007
Bildformat: 4:3
Tonformat: DD 2.0
Laufzei:t442 Minuten in 4 Teilen
Regionalcode: Codefree
System: NTSC / PAL kompatibel
FSK: Ab 16 Jahren
442 Minuten in 4 Teilen

DVD 1

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DVD 2

3. Das Ende eines Wintermärchens und der Endsieg des Fortschritts  // 4. Wir Kinder der Hölle erinnern uns an das Zeitalter des Grals

Extra: Hitler – Premiere in New York (30min)

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DER FILM:

Hitler, ein Film aus Deutschland

HITLER: UN FILM D’ALLEMAGNE

BR Deutschland / Frankreich / England – 1976/77 – 442 min.
Verleih: Eigenverleih Syberberg
Erstaufführung: 8.7.1978/3.,4.1.1980 ARD
Produktionsfirma: TMS/Solaris/WDR/INA/BBC

Produktion: Hans Jürgen Syberberg, Bernd Eichinger

Regie: Hans Jürgen Syberberg

Buch: Hans Jürgen Syberberg
Kamera: Dietrich Lohmann
Musik: Gustav Mahler, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Richard Wagner
Schnitt: Jutta Brandstaedter

Darsteller:

Heinz Schubert
Harry Baer
Peter Kern
André Heller
Hellmut Lange
Rainer von Artenfels
Martin Sperr
Peter Moland
Alfred Edel