Sieben Tage in Warschau
Comics beschrieben einst eine kulturelle Grenze. Zwischen Kindheit und Jugend, zwischen Pop und Kunst, zwischen Underground und Mainstream, zwischen niedrig und hoch, zwischen naiv und kompliziert. Auch der Unterschied zwischen Comic-affinen und comicophoben Kulturen wie der deutschen war einmal immens. Mittlerweile indessen sind Comics eine lingua franca geworden. Das Medium hat etwas von seiner Massenwirksamkeit an neue elektronische Formen von Unterhaltung und Information abgegeben; ökonomisch steckt es eher in einer Krise als in einem Boom. Aber zur gleichen Zeit ist es auch „erwachsen“ geworden. In all seiner zeitaufwändigen, subjektiven und handwerklichen Produktionsweise scheint es verlässlicher und ehrlicher als die Echtzeit- und Netz-Informationen, und insbesondere geeignet, heikle Themen, dissidente Perspektiven, biographische Gesten aufzunehmen. Seit Art Spiegelmans „Maus“ wissen wir, dass auch das geht, vom großen Menschheitsbruch, vom Holocaust in Comic-Form zu erzählen. Und warum das geht, das machte Spiegelman zugleich zu einem Nebenthema, weil es eine Form des Distanzierens, sogar der Maskerade erlaubt, in der man seinem Gegenstand näher kommen kann als es in der Literatur, im Film, in der Malerei, der Fotografie, der Reportage, dem Tagebuch etc. möglich ist. So wundert es nicht einmal, dass in der Welt von Handy-Fotografie und Bilderblog das Genre der Comic-Reportage blüht. Und schon gar nicht, dass man sich in diesem Medium den Geistern der Vergangenheit widmen kann, eine besondere Form des grafischen Reenactements. Annäherung durch Stilisierung.
Der Überbegriff für diese neue Erzählweise, nicht Serie, nicht episodische Variation, nicht Endlos-Epic, lautet „graphic novel“. Und der Comic-Roman hat in der Tat mit seinem literarischen Vorbild etliche Gemeinsamkeiten. Die abgeschlossene Form, den psychologischen Realismus, Veränderung und Abschied statt ewiger Wiederkehr. Und wie im Roman stecken auch in der graphic novel neben der Handlung Portraits von Menschen, Zeiten, Städten und Landschaften, man hat Zeit, sich Beschreibungen und „Nebensächlichkeiten“ zu widmen. Und eben dies befreit auch das Grafische in der graphic novel: Die Zeichnungen sind gerade in der Roman-Form des Mediums nicht mehr unter das Diktat von Erzählung, Spannung und Pointe gezwungen. Wie einst der literarische Roman so pflegt auch die graphic novel die Kunst der Abschweifung, die Kunst Zeit abzubilden, die Kunst der Selbstreflexion.
All diese Vorzüge einer nun auch nicht mehr wirklich brandneuen Erzählweise scheinen in „Das Erbe“ von Rutu Modan so perfekt vereint, dass man sich nicht wundert, dass die 222 Seiten lange graphic novel sehr schnell zu einem veritablen Klassiker des Genres geworden ist. Man kann hier studieren, was die zugleich so altmodische und hochaktuelle Kunst der Comics zu bieten hat. Eine Menge.
Ungewöhnliche Sicht auf den Holocaust
„Das Erbe“ ist einerseits ein Reiseroman, der von Tel Aviv nach Warschau (und am Ende, möglicherweise, nach Schweden) führt. Die Großmutter der Heldin, Regina Segal, beschließt nach dem Tod ihres Sohnes in ihre Geburtsstadt Warschau zu reisen, um dort ein Familienerbe einzuklagen, das im Zweiten Weltkrieg verloren ging. Die alte Dame scheint indessen emotional hin und hergerissen und keinesfalls bereit, ihrer Enkelin Mica alles über ihre Vergangenheit zu erzählen. Nach und nach kommt Mica auf die wahren Gründe für diese Reise, aber zur gleichen Zeit scheinen sich auch andere Leute für Regina Segal und ihre Ansprüche zu interessieren. So legt sich auch über diese einfache Geschichte ein Hauch von Mystery und Thrill. Denn biographisch ist zwar gewiss einiges in dieser Geschichte, und insbesondere die Gestalt der „schwierigen“ Großmutter kann man sich wohl nicht einfach so ausdenken, aber insgesamt ist es doch eine fiktive Geschichte. Eine Liebesgeschichte gibt es auch, dazu die Selbstreflexion des Mediums durch den Auftritt eines Comic-Zeichners, der in seinen Zeichnungen vielleicht zu viel vom Familiengeheimnis verrät, und spannend bis zum dann doch überraschenden Ende ist die Geschichte allemal. Denn Regina Segal wollte nie ein Erbe antreten, sie hatte vielmehr eine Botschaft zu überbringen. Aber was „Das Erbe“ wirklich aufregend macht, ist der mit dem sanften Humor unterfütterte genaue Blick auf ein Leben, das seine letzten Geheimnisse nicht preisgeben kann. Und außerdem findet die Autorin wundervolle Bilder dafür, wo sich das alte und das neue Warschau begegnen. Dort bekommt die graphic novel auch Züge einer Comic-Reportage. Denn ein Ausgangsmaterial für die Geschichte ist die neugierige und bewusste Reise der Autorin nach Polen, das die Großmutter nur das „Land der Toten“ nannte und das eine komplizierte Einheit von Grauen und Nostalgie bildete. Nur im Comic kann man so genau beschreiben, wie Orte aus Realität, Erinnerung und Traum zusammengesetzt sind. Man sieht ja einen Platz, wie Bohumil Hrabal sagt, nur wirklich, wenn man auch sieht, was nicht mehr zu sehen ist.
Es sind die vielen „nebensächlichen“ Beobachtungen, die das Buch so reich machen. Das beginnt am Ben Gurion-Flughafen, wo sich die Großmutter standhaft weigert, eine Flasche Wasser wegzuwerfen, nur weil das uneinsichtige Wachpersonal es aus Sicherheitsgründen nicht zulassen will, dass sie sie an Bord mitnimmt. An Bord des Flugzeugs begegnet man nicht nur ausgelassenen Schülern auf dem Weg zum Gruppenbesuch nach Warschau. Auch ein sonderbarer Bekannter drängt sich den beiden Frauen auf. Zu trauen ist dem nicht. (Aber ein wirklicher Schurke ist er auch nicht.) Selbst die Verpflegung an Bord eines Fluges von Tel Aviv nach Warschau ist Gegenstand der detaillierten Darstellung. Man nennt das wohl eine „verschärfte Wahrnehmung“.
Rutu Modan (1966 in Tel Aviv geboren) benutzt die Stilform der ligne claire, nicht nur in der Zeichnung selber, sondern auch im dramaturgischen Aufbau: Pointierte Episoden, stumme Passagen, Panel-Folgen, die mit wenigen Perspektivwechsel eine „Kamerabewegung“ imitieren, die klare Anordnung der Panels auf einer Seite etc.. Die Assoziation zu Hergé fällt auf den ersten Blick auf, und der grafische „Hergéismus“ zeichnet auch Modans frühere Arbeiten aus, allesamt sehr nahe an der heutigen Wirklichkeit Israels und, wie in „Mixed Emotions“ auch autobiographisch (unter anderem hält die Autorin ihre erste Reise nach New York und ihre eigene Schwangerschaft in Bildern fest). „The Murder of the Terminal Patient“ ist ein Ausflug in den Mystery-Thriller (erdacht als wöchentliche Folge für das Magazin der New York Times), und mit „Ha-Neches/The Property/Das Erbe“ greift Modan auf die eigene Familiengeschichte zurück. Nicht im Sinne einer akkuraten autobiografischen Beschreibung, sondern im Sinne der Verwendung von Assoziationsmaterial. Oder im Sinne einer offenen Frage, die man mit Mitteln der Fiktionalisierung zu beantworten versucht.
Wie schon in „Blutspuren“ arbeitet die Autorin hier mit einer sehr eigenen Technik des acting/painting: Sie lässt Schauspieler die Vorlagen für die Zeichnungen „spielen“ um eine genaue Vorstellung von einer konsistenten Bewegungsmelodie und Körpersprache zu bekommen. Einige dieser menschlichen Vorbilder waren auch bekanntere israelische Schauspieler (denen in einem Nachspann gedankt wird), sie sind in gewisser Weise auch zu Mitautoren geworden, und sie tragen erheblich dazu bei, dass wir ein sehr lebendiges und durchkomponiertes Geschehen erleben. Die fotografische Matrix sorgt für eine anatomische und typologische Fehlerlosigkeit, die mit der grafischen Vereinfachung einen sonderbaren Kontrast bildet. Als bliebe eben wirklich nur das Wesentliche. Aus einem Drehbuch wurde ein Storyboard und daraus wurde wiederum ein Set von filmischen Fotografien, die im letzten Produktionsschritt in den Ligne claire-Comic übersetzt wurden, den wir vor uns haben.
Comic-Produktionen dieser Art werden natürlich erheblich aufwändiger als die gewohnten, sie setzen sich aus zahlreichen Schritten, aus Reisen, Skizzen, Recherchen etc. zusammen und können sich am Ende nur amortisieren, wenn sie einen internationalen Markt erschließen. Das kann sich, wie im vorliegenden Fall, als Segen erweisen, es ist allerdings auch eine Gefahr. Die Gestalten sind nicht mehr wirklich und allein aus dem Strich des Zeichners geboren, der Comic wird zum arbeitsteiligen Großprojekt. Aber eben auch zu einem multiinstrumentalen Projekt, oder sagen wir es anders: zur modernen Kunst.
„Majdanek steckt Auschwitz in die Tasche. Ist viel grausiger”
„Das Erbe“ ist eine sehr wichtige Ergänzung zu Art Spiegelmans „Maus“, eine Spiegelung, wenn man so will; der Focus der Geschichte liegt auf der Gegenwart, in die die Vergangenheit reicht. Der Ausgangskonflikt, sehr real, ist denn auch die Angst davor, die gerade ältere und ärmere Leute in Warschau haben, dass sie aus ihren Häusern vertrieben werden. Und dieser Grundkonflikt von „Das Erbe“ ist dementsprechend unlösbar, es gibt keine gerechte Lösung, nur eine menschliche. Zweifellos ist der Grundton dieser graphic novel bei allen Seitenaspekten und Konflikten eher versöhnlich, sogar der Friedhof ist hier ein freundlicher Ort. Aber umgekehrt scheint alles Komische, was immer wieder aufscheint, nur Prelude zur großen Tragödie: das Komische funktioniert hier nicht im Sinne eines comic relief, es macht gerade die Absurditäten der Geschichte deutlich, etwa wenn Mica, die als Nahkampfausbilderin bei der Armee tätig war (so ganz im Widerspruch zu ihrem eher zarten Äußeren) den kampfsportbegeisterten Sohn des polnischen Rechtsanwalts in einem Fight um eine Mohrrübe für sich einnimmt, oder wenn ein eifriger junger Mann das berühmte Fotoplastikon von Warschau bedient, indem er immer wieder buchstäblich in die große Bildermaschine hineinkriechen muss, um die Bilder der Vergangenheit zu projezieren.
Das Erbe ist also eigentlich nur ein Haus, viel weniger, als es die Nebenfiguren des Dramas erwarteten, und es anzutreten würde anderen Kummer bereiten, und da ist auch noch die Erinnerung an die große Liebe von Regina und Roman, an die in den kräftig-zartesten Farben erinnert wird, die sich jenseits des Kitsches auf der Palette befinden.
Es geht um die Erinnerung, die zwischen den Romanen der Täter und den Romanen der Opfer verloren ging. In ihrer Familie, sagt die Autorin, sei nie über den Holocaust und die europäische Vergangenheit gesprochen worden. Die Kids in „Das Erbe“ streiten sich darum, welches das heftigere Konzentrationslager war, Mica gerät in ein groteskes „Reenactment“ des Kampfes um das Warschauer Ghetto, ein Lehrer („Okay, Montag Treblinka, Dienstag Majdanek, inklusive Gaskammern… Majdanek steckt Auschwitz in die Tasche. Ist viel grausiger“) erklärt, während er ein Flugzeug-Menü verspeist, wie wichtig es für die Schüler sei, von „Überlebenden“ an die Stätten geführt zu werden. Beim historischen Rollenspiel steigert sich ein junger Mann allzu sehr in die Rolle eines SS-Mannes beim Abtransport der durch den „Judenstern“ gekennzeichneten Mitspieler. Es ist ein durchaus kritischer Blick auf die „Erinnerungskultur“ hier wie dort, der in „Das Erbe“ zu teilen ist. Und ein Beispiel dafür, wie man es anders, wie man es besser macht.
Georg Seeßlen, Jungle World 21.11.2013
Rutu Modan: Das Erbe
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer
Carlsen-Verlag, Hamburg 2013, 240 Seiten, 24,90 Euro
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