Andrea Berg singt über die Liebe in den Zeiten der prekären sexuellen Ökonomie
Nach Max Weber werden „Klasse und Stand“ durch Ökonomie und Kultur bestimmt. Dabei ist Ökonomie nicht einfach der Grund und Kultur die Wirkung, beides ist ineinander verspiegelt. Die Kulturware sucht den sozialen Ort seiner Adressaten, sie erzeugt ihn aber auch. Wer an einem bestimmten sozialen Ort lebt, braucht eine bestimmte Form der Kultur. Sonst muss er oder sie aufbrechen oder wird ausgestoßen. Die Kulturware muss Heimat werden. Andrea Berg zum Beispiel.
Andrea Berg, als Andrea Ferber 1966 in Krefeld geboren, begann ihre Performance-Karriere, während sie als Krankenschwester arbeitete, als Funkenmariechen im Karneval. Das steckt ein wenig immer noch in ihren Bühnenshows, eine erotische Offenheit, die in einem System der Erlaubnisse und Kontrollen steckt. Sex, der irgendwie immer in der Familie, im Rahmen bleibt, niemandem wehtut und keine Mehrdeutigkeiten zulässt. Feuchte Träume für die Kinder von KiK und Beate Uhse.
Laut Media Control ist Andrea Berg die Sängerin mit den meisten Nummer-eins-Platzierungen, der längsten Verweildauer auf Platz 1 (Best of hielt sich 16 Monate lang) und der größten Dauer in den Top-100 (in Deutschland 345 Wochen, in Österreich gar über 500 Wochen). Ihr aktuelles Album Atlantis ist soeben fünf Wochen nach Veröffentlichung mit Platin ausgezeichnet worden. Andrea Berg spricht offensichtlich mehr Menschen in unserer Gesellschaft aus dem Herzen als Lady Gaga, Robbie Williams und Justin Bieber zusammen. Nur wird ihr Erfolg, im Gegensatz zu den letztgenannten, nicht beschrieben oder diskutiert. Die gewiss nicht sehr leise Musik von Andrea Berg erzeugt ein kulturelles Beschweigen.
Vielleicht ist dieses Schweigen so zu verstehen: Über Geschmack kann man nicht streiten, schon gar nicht ohne Klassismus; wer etwas wie das Gesamtkunstwerk Andrea Berg zum Kotzen findet, der handelt sich schnell den Vorwurf der kulturellen Überheblichkeit ein, wer sich ihrem Publikum (wie dem der Bild-Zeitung) mit Sympathie zu nähern versucht, unterstützt womöglich eine Unterdrückungs- und Verblödungsmaschinerie, wie sie Adorno sich in seinen schrecklichsten Albträumen nicht hätte ausmalen können.
Niemand heult
Ihre Karriere begann 1992 mit Du bist frei, drei Jahre später folgte das zweite Album, das Gefühle hieß und mit Liedern wie „Wenn du mich willst, dann küss mich doch“ oder „Die Gefühle haben Schweigepflicht“ die Erfolgsformel entwickelte: Andrea Berg verband Elemente des alten Schlagers mit denen der verschärften volkstümlichen Musik und mit solchen des internationalen Pop, und sie verhielt sich konsequent monothematisch: Ein weibliches, mehr oder weniger lyrisches Ich, das seine Ansprüche an ein männliches, ganz und gar nicht lyrisches Du formuliert. Dieses männliche Gegenüber tendiert offensichtlich zur Untreue, nicht selten aber auch zu schlichter Langeweile. Es scheint sich weder sexuell noch sozial um einen Traummann zu handeln, und doch will sich dieses weibliche Ich ihm unterwerfen, ihn behalten, ihn sich immer wieder schön und stark träumen. Und kann auch nicht recht von ihm lassen, wenn sie geht.
In den scheinbar so nebulösen und von pathetisch-sentimentalen Metaphern wimmelnden Texten von Andrea Berg hebt sich der Widerspruch von Begehren und Enttäuschung immer nur in einer Geste auf: im Träumen. So begleitete sie die sexuelle Ökonomie des unteren Mittelstands in Deutschland durch die Krisen. Es war die Zeit der versiegenden Aufbruchshoffnungen. Das Phänomen Andrea Berg als klassischer Mythos des Alltags war geboren.
Nicht Alleinsein, das ist die einzige, gewaltige Botschaft der Marke Andrea Berg
Im Unterschied zum alten deutschen Schlager gibt es bei Andrea Berg nirgendwo Ironie, keine Nonsense-Ausflüge, keine Genre-Zitate, keine Novelty-Experimente, nicht die geringste Überraschung, nicht einmal ein etwas exaltiertes Role Playing. Es gibt kein Lied, das von etwas anderem handeln würde als von diesem Ich und diesem Du, das aus allen emotionalen und kognitiven Katastrophen rekonstruiert wird. Sowenig in dieser Performance angesprochen wird, dass es eine Welt außerhalb der Paar-Fixierung geben könnte, so wenig kommt in der Andrea-Berg-Welt die Ahnung vor, eine Frau könne auch ohne den Mann zurechtkommen. Man könnte Andrea Berg wohl mit guten Gründen ein radikales antifeministisches Projekt nennen.
Und die Musik? Der Rhythmus: Stumpfa-stumpfa-stumpfa. Ein Ballermann-Disco-Rhythmus. Die Melodie: Das alte Schlager-Modell, skelettiert zur Modern-Talking-Schlichtheit. Die Produktion: Zu viel ist nie genug. Der Sound: Wie in der volkstümlichen Musik werden kindliche Instrumente elektronisch aufgepimpt, irgendein Klavier oder eine Harfe schmiert Bedeutung über das gnadenlose Geschunkel. Die Stimme: Ein schiemlich schweres Sch manchmal, anschonschten keine weiteren Beschonderheiten. Keine Höhen, keine Tiefen, keine Stimmungswechsel. Die CD: Bloß keine Abwechslung, wenn man doch immer nur mehr vom selben will.
Wie bei anderen der neuen deutschen Schlagerstars scheint auch Andrea Bergs Show nicht zuletzt für bestimmte Räume geschaffen, eine Mischung aus Mehrzweckhalle und Kreuzfahrtschiff-Ballsaal. Das große Paradoxon liegt in der Verbindung von Gigantomanie und Subjektivität: Je manischer sie ihre Seelenwunden und ihre Sehnsucht beschwört, desto bombastischer geht es in der Musik und in der Bühnenshow zu.
Stumpfa-stumpfa-stumpfa
Doch wie ist das möglich, dass jemand, der (angeblich) von den intimsten Gefühlen singt, von einem solch gefühllos alles niederwalzenden Gestampfe begleitet wird? Wie verträgt sich dieses von Trennungsängsten gebeutelte Ich mit der besoffenen Massenstimulation? Niemand heult bei Andrea Berg. Die Botschaft von der Frau, die nichts anderes als den Mann will, wird uns buchstäblich eingehämmert. Und an solchen Punkten pflegt Unterhaltung in Ideologie umzuschlagen.
Andrea Berg konstruiert die sexuelle Ökonomie des unteren Mittelstandes in den Zeiten des Finanzkapitalismus. Sie macht aus dem unangenehmen Umstand, dass die sexuelle Ökonomie in der Krise wieder mal zuungunsten der Frauen im unteren Mittelstand ausgeht, ein pathetisches Programm. Sie tröstet die Frauen mit der Aussicht aufs Weiterträumen und damit, wie man an ihr sieht, auch mit 47 noch „sexy“ (Andrea Berg) wirken zu können, und die Männer damit, dass sie vielleicht sozial absteigen, aber immer noch eine Frau wie Andrea Berg finden, der es am Ende nichts ausmacht, wenn die betrunkenen Vollspacken mal mit der Nachbarin rummachen. Nicht Alleinsein, das ist die einzige, gewaltige Botschaft der Marke Andrea Berg (einer eingetragenen Marke übrigens: Andrea Berg hat sich selbst zum kulturellen Warenmuster erklärt). „Bin ich von allen guten Geistern verlassen, fall ich schon wieder auf dich rein?“, fragt sie und antwortet mit Ja, denn: „Es gibt kein Gegenbild“. Das fürwahr ist programmatisch. Es ist das Merkelistische der Alternativlosigkeit, was hier ins Intime und Erotische gewandt ist. Sie möchte sogar, dass der Mann, der schon bei einer anderen ist, ihr die Illusion lässt, dass die Liebe weitergeht. Explizit ist die Rede von der „Wahrheit, die so viel zerstört“. „Lass mich einfach weiterträumen“ ist die militante mythische Botschaft, immer weitermachen, nicht kämpfen, nicht rebellieren, nicht aufwachen.
Dass Stars wie Helene Fischer oder Andrea Berg derzeit boomen, kann man sich nicht ohne den Merkelismus in Deutschland vorstellen. Und vielleicht kann man sich umgekehrt auch die ungebrochene Popularität von Angela Merkel nicht ohne diese Schlagerstars vorstellen. Sie bezeichnen eine Art des kollektiven Beschweigens und der ästhetischen Hegemonialisierung. Nach all den Krisen, den Katastrophen im Kleinen und im Großen wird der Innenraum von Klasse und Stand verteidigt.
In der Welt von Andrea Berg ist die Familie als Ordnungselement zusammengebrochen, hier läuten keine Hochzeitsglocken mehr, hier gibt es keine Braut in Weiß mit einem Blumenstrauß. Aber es ist keine Freiheit entstanden aus diesem Zusammenbruch. Die Geschlechterordnung muss jenseits dieser Institution errichtet und erhalten werden. Man muss das lernen wie in der Politik: nicht zu genau hinschauen. Sich selber und den anderen jeden Verrat verzeihen, Gefühle kontrollieren, notfalls auch lügen. Emotionaler Opportunismus. Den Rest einfach erträumen. Und die Musik geht stumpfa-stumpfa-stumpfa. Was zum Teufel ist das für eine Welt, in der man sich von Andrea Berg retten lassen muss?
Georg Seeßlen, der Freitag 28.10.2013
Bild: Andrea Berg im Konzert in Leipzig im März 2012; CC BY-SA 3.0 JeanNeef
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2. Januar 2014 um 00:18 Uhr
„immer weitermachen, nicht kämpfen …“ Weitermachen ist Kämpfen, mehr Kampf geht gar nicht!