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© Concorde Filmverleih

Der Sehnsucht nach

Edgar Reitz wandert in seiner neuen großen Welt-Erzählung nach Brasilien aus: Die andere Heimat

Edgar Reitz ist der große Epiker unter den deutschen Filmemachern. Seine Welt-Erzählung durch den Fokus eines kleinen Hunsrück-Dorfes handelt vom Weggehen, Dableiben und Zurückkehren. Von der Sehnsucht, die Enge und Unterdrückung hinter sich zu lassen, und zugleich, das Geheischnis, die Geborgenheit in Land, Sprache, Familie und Geschichte wiederzufinden.

In den drei Film-Serien, HEIMAT – EINE DEUTSCHE CHRONIK (1984), DIE ZWEITE HEIMAT – CHRONIK EINER JUGEND (1996), HEIMAT 3 – CHRONIK EINER ZEITENWENDE (2004), und nun in dem Vierstunden-Kinoereignis DIE ANDERE HEIMAT – CHRONIK EINER SEHNSUCHT geht es indes nicht bloß um einen Gleichklang von story und history. Es geht um einen homerischen Begriff des Epos; in diesem sehen wir nicht nur Menschen, die Ausdruck ihrer Zeit sind, sondern Menschen, die sich dagegen auflehnen. Die sich auflehnen gegen die Götter, gegen das Schicksal, oder auch nur gegen Gewohnheit und Macht.

Was das anbelangt, treffen sich in Edgar Reitz’ Film-Epen vielleicht das Homerische und das Brecht’sche. Es geht um Geschichten, die ihr Zentrum in der Familie Simon im Hunsrückdorf Schabbach haben, beides so fiktiv wie detailreich authentisch, und es geht um die historischen Ereignisse, die keine Familie und kein Dorf verschonen. Es geht um die Kriege, die Hungersnöte, die Machtablösungen und die ökonomischen und kulturellen Diskurswechsel. Um sexuelle Ökonomie und um Liebe. Um Alltag und Träume. Aber es geht auch um existenzielle, also um politische Gleichnisse. Und wie bei Homer und bei Brecht hören wir im Hintergrund immer ein Gelächter. Heimat bei Edgar Reitz ist ein Schlüssel für die Frage: Was eigentlich macht den Menschen aus? Es gibt auch andere Schlüssel für diese Frage. Aber kaum einer davon ist so kinematografisch.

DIE ANDERE HEIMAT spielt zwischen 1840 und 1843 in dem uns schon bekannten Hunsrück-Dorf. Jakob Simon, der zweite Sohn des Schmieds und Bauern Johann, dessen Bruder Gustav zu den Soldaten musste, verbringt den Tag lieber mit Büchern und Reisebeschreibungen als mit der Arbeit an der Esse und auf dem Feld. Er träumt von der großen Reise nach Brasilien, die so viele aus der von Hunger und feudaler Ausbeutung geprägten Region antreten. Jakob freilich wäre da drüben nicht wieder Bauer, nicht wieder Schmied, er wäre Abenteurer, Forscher, Reisender. Er kennt schon die Sprachen der Indigenen. Und tagtäglich kommt es zu Auseinandersetzungen mit dem Vater, abgemildert durch die verständnisvolle Mutter (Marita Breuer, die mütterliche Seele aller HEIMAT-Erzählungen).

Endlich wird es zu viel, und Jakob verlässt das Elternhaus in Richtung Hof des Winzers, den seine Schwester geheiratet hat. Und wofür sie, weil der Mann katholisch ist, verstoßen wurde. Sein Bruder schließlich holt Jakob zurück; wie ein warmer Magnet hält die Familie den Jakob in ihrem Kreis, auch wenn der Vater nichts anderes zur Begrüßung hat als die Zange, mit der man die Nägel aus dem beschlagenen Huf zieht: »Du weißt, wie’s geht!«

Nichts wird besser, die Seuche holt die Kinder, der Winter vernichtet die Ernte, und die Kerb, das große Fest im Dorf, wird für Jakob zum Desaster. Der Bruder nimmt ihm die Geliebte, und zum Trotz lässt Jakob sich von den Gendarmen verhaften, welche die Ordnung wieder herstellen, nachdem die Schabbacher gegen das Privileg des Barons rebelliert haben, den Wein auszuschenken. Jakobs Mutter bewegt sich nach dem Blutsturz unaufhaltsam auf den Tod zu. Und nach dem schrecklichen Winter, in dem auch Gustav und Jettchen ihr Kind verlieren, brechen auch sie auf, um in Brasilien einen neuen Anfang zu wagen.

DIE ANDERE HEIMAT ist auch eine große Liebesgeschichte; der Bruder, der es eigentlich nicht böse meint, nimmt Jakob, bevor er ihm den Traum von Brasilien nimmt, die Geliebte. Und vielleicht nimmt diese Jakobs Kind mit nach Brasilien. Jakob, der Träumer, bleibt zurück. Sieht die Menschen verrückt werden und sterben, heiratet, baut die Dampfmaschine seines Bruders zu Ende. Wird Schabbach nicht anders verlassen als in seinen Träumen, Büchern und sprachwissenschaftlichen Studien. Die Geschichte endet damit, dass Jakob die letzten, ernüchternden, aber auch tröstlichen Nachrichten von seinem Bruder aus Brasilien der Mutter aufs Grab bringt. Der Brief aus der ersehnten Ferne wird in Hunsrücker Erde begraben.

Jakob ist nicht nur der Vorfahr des Jungen in HEIMAT, der Schabbach mit großen Erwartungen verlassen kann (und in dem genug Edgar Reitz steckt, um die magische Biografie in allen Filmen zu sehen), er ist zugleich ein Bruder jenes Schneiders von Ulm, dem Edgar Reitz einst einen sehr schönen, von der deutschen Kritik besinnungslos verrissenen Film widmete. Er ist auch eine Gestalt des Vormärz; einer, der anders als vorige Generationen durch Einführung der Schulpflicht im Lesen und Schreiben eine innere Motivation fand.

Auf diese Weise wächst er gleichsam über die bäuerliche Kultur, in der er aufgewachsen ist, hinaus. Von der Fremde interessiert Jakob vor allem die Sprache. Aus ihr entwickelt er eine eigene Poesie, ein anderes Sprechen, das bis in sein dramatisches Liebesleben reicht. In diesem Sprachforscher steckt ein Porträt von Edgar Reitz’ Bruder Guido, der als Privatgelehrter seine Sprachstudien betrieb, ohne den Hunsrück je zu verlassen. Es steckt auch ein weiteres Gleichnis darin: Wenn die Grenzen meiner Welt auch und nicht zuletzt die Grenzen meiner Sprache sind, dann gilt es vor allem, sie zu überwinden. Nebenbei vermag man sich in der anderen Sprache über Gefühle zu äußern, wie man es in der eigenen nicht kann, weil es die in ihr nicht gibt. »Aisch liebe daisch«, klingt eben, wie Hermann in HEIMAT erkannte, komisch.

Wie zuletzt der Film GOLD von Thomas Arslan weist DIE ANDERE HEIMAT darauf hin, dass Deutsche einmal in die Welt hinaus mussten, Migranten, Ausländer, Flüchtlinge waren. Und wie hartherzig und gleichgültig nun die Gesellschaft der Daheimgebliebenen reagiert. Wie sie sich sperren gegen die Welt, die ihren Vorfahren zur anderen Heimat werden musste.

Darin steckt ein Drama der Alphabetisierung, das nicht einfach Fortschritt bedeutet. Wenn Jakob und die Menschen seiner Generation die Welt mit neuen Augen sehen, erkennen, wie viel Welt es außerhalb des Hunsrücks und seiner destruktiven Organisation gibt (Erbteilung, die immer weniger Land für den Einzelnen übriglässt bei gleichzeitiger, gedanken- und erbarmungsloser Ausplünderung durch den Adel), dann ist der Konflikt mit den Alten vorprogrammiert. Vielleicht muss man auch dann fortgehen, wenn an einem Ort das Alte zu langsam vergeht und das Neue zu langsam erscheint.

So erzählt DIE ANDERE HEIMAT im Kern von einer Zeitenwende. Manches davon wird sich in den nächsten 150 Jahren wiederholen, die Geschichte des Hermann Simon ist wie ein Echo der Geschichte des Jakob Simon. Und wie damals, so setzt sich hier das Fortgehen (oder doch das Fortgehen-Wollen) aus zwei Impulsen zusammen: daraus, dass man es nicht mehr aushält, und daraus, dass man eine Ahnung haben kann vom Anderen.

Die Zeitenwende setzt auch technisch ein. Da das Land die meisten Bauern nicht mehr ernähren kann, müssen sie eben jene handwerklichen Fähigkeiten erwerben, die sie für die Anwerber aus Brasilien attraktiv machen und die zugleich im eigenen Land benötigt werden. So ist es mehr als eine halbwegs ins Positive gewendete Familiengeschichte, dass Jakob, nachdem er sich in das Schicksal das Dableibens geschickt hat, das Projekt seines Bruders, den Bau einer Dampfmaschine, wieder aufnimmt.

Es wird mithin deutlich, welch komplizierten sozialen und kulturellen Impulsen eine Migrationsbewegung folgt. »Etwas Besseres als den Tod findest du überall…«, diese Hoffnung aus dem (im Film zitierten) Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, hat seine rationalen (Flucht vor Hunger und Seuchen) und irrationalen Aspekte (eine Heilserwartung, mit der man nur allzu leichtgläubig auf die Versprechungen der Werber reagierte). Die Bewegung setzt sich aus eigener Kraft fort, es kommt zu dem, was man damals eine Auswanderungssucht genannt hat. Und die wieder nur ins Gewohnte führt – mit dem Tod um die Wette zu arbeiten und nichts zu sehen außer dem Stück Land, dem man das Leben abkämpfen muss.

Georg Seeßlen

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52 Filmkritiken, geschrieben und veröffentlicht in den Jahren 2010 bis 2013, bieten Einblicke und Ansichten, vermitteln Zusammenhänge und Perspektiven.
Das Thema der Filmkritik ist das Filmesehen. Und Filmesehen ist eine Kunst. Und Georg Seeßlen versteht davon eine ganze Menge. Seine kompetente Übersetzung des audiovisuellen Mediums Film in Sprache ist tiefgründig, vielschichtig und bezieht aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen mit ein.
Gehen Sie mit Georg Seeßlen auf eine Reise in die Filmgeschichte. Eine Reise in Zeit und Raum.