Zum Jahrestag der Lehman-Bankenpleite beugten sich die Kommentatoren noch einmal über die Krise und versuchten zu begreifen, wie es dazu kommen konnte. Natürlich tauchte auch das Wort Gier wieder auf. Aber bei solchen Katastrophen gibt es immer einen systemischen und einen persönlichen Aspekt. Gier ist der moralische Anteil des persönlichen Aspektes, der juristisch fassbare heißt Wertpapierbetrug, Bilanzbetrug und Insiderhandel. Die Vorstellung, etwas sei passiert, was unserer Gesellschaft tief wesensfremd ist, bringt Trost. Der Glaube an einen Betriebsunfall, angerichtet durch die Gier einiger Spekulanten und Börsenzocker, führt zu der Überzeugung, dass mit der Regulierung das Übel gebändigt ist – wenn man schon die fehlerhafte menschliche Natur nicht ändern kann. Hat nicht der marxistische Wirtschaftsphilosoph Alfred Sohn-Rethel schon vor vielen Jahren gesagt, das Kapital sei gesellschaftsunfähig? Es ist also an der Politik, dem System Rahmen und die Grenzen zu setzen und persönliches Fehlverhalten zu bestrafen. Aber stimmt das? Greift das nicht viel zu kurz?
Gier als persönliches Versagen zu begreifen, steht in der religiösen Tradition der Todsünden. Damit wird personalisiert, was im Kapitalismus aber systemisch ist und die Grundlage unseres Wohlfahrtsstaates bildet. Wohlstand und Fortschritt hängen an der kapitalistischen Dynamik. Der Staat muss ihr die Zügel schießen lassen, um den wirtschaftlichen Wohlstand zu bekommen, den er für seine politischen Ziele braucht. „Too big to fail“ ist kein zynischer, sondern ein realistischer Satz. Alle Gesten der antikapitalistischen Wut sind hohl, wenn sie sich nicht immer bewusst machen, dass der moderne Wohlfahrtsstaat an einem finanziellen Tropf hängt, den er nicht selbst regulieren kann. Die Regierungen fürchten um Jobs und lassen sich beeinflussen von den Warnungen der Finanzindustrie, wenn man ihrer Geldvermehrungsmaschine Einhalt gebiete, dann komme eine lange Phase der Rezession mit vielen Arbeitslosen. Der Staat kann deshalb nichts anderes sein als nur der Reparaturbetrieb, der das Auto, das gegen die Wand gefahren ist, wieder flott macht und mit neuen Gesetzen verhindert, dass sich das bekannte Debakel wiederholt. Bis dann die nächste unbekannte Katastrophe eintritt. Und so steht mit dem Finanzcrash nicht nur das Geschäftsgebaren der Banken auf dem Prüfstand, sondern unsere moderne politische Ordnung, die dem Einzelnen ein Maximum an Freiheit und Wohlstand verspricht, im Extremfall „Reichtum für alle“, aber nur sehr wenige Mittel hat, dieses politische Ziel selbst durchzusetzen.
Diese Schwäche ist Ergebnis ihrer Geschichte. Die neuzeitliche Demokratie mit ihren Instrumenten der checks und balances wurde erfunden im Zeitalter der Postkutsche. Der Kapitalismus war noch jung und überschaubar und der Bürger ein begeisterter Kämpfer für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Der Wahlbürger der klassischen Demokratie war männlich, Frauen und Fürsorgeempfänger gehörten nicht dazu. Er wurde als vernünftig angesehen, in dem Sinne, dass er seine Interessen im öffentlichen Raum durch Diskussion vertrat, Argumenten zugänglich war und gebildet genug, um politische Zusammenhänge zu verstehen. Es ist der Mann der europäischen Aufklärung, entstanden in einem mühseligen, Jahrhunderte dauernden Prozess. Dieser demokratiefähige Bürger ist Mitspieler der Politik und Garant einer Gesellschaft von Individuen, die so viel Pflichtgefühl, Selbstkontrolle und Triebverdrängung oder zumindest doch Triebaufschub praktizieren, dass das Arsenal an Gesetzestexten klein gehalten werden konnte und diese den Bürger vor allem vor den Übergriffen des Staates schützen sollten.
Spätestens seit den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit hingebungsvoll schreienden Massen weiß man, dass dieser vernünftige, konsensfähige, Argumenten zugängliche Demokrat eher die Ausnahme denn die Regel ist. Sogar in der Wirtschaft – und das schon lange vor dem Finanzcrash – sind Menschen entgegen der Grundannahme der Nationalökonomie gerade nicht ihren Interessen gefolgt, sondern dem, was sie – unter welchen Einflüssen auch immer – dafür hielten. Die Erkenntnisse der Psychologie, Psychoanalyse und Gehirnforschung zeigen uns immer deutlicher, wie kompliziert die Verbindung zwischen Wissen und Gefühlen ist, und der Mensch, wie Freud gesagt hat, nicht Herr ist im eigenen Haus. Die Demokratie funktioniert nicht nur nach einer rationalen ökonomischen und politischen Ordnung, sondern auch nach unseren Triebökonomien, und die bleiben nicht nur im Privaten, sondern durchwuchern den öffentlichen Raum. Nicht nur Individuen, auch moderne Gesellschaften haben eine Triebstruktur, in der auch sehr vernünftige Bürger bis zu einem gewissen Grad gefangen sind, denn sie sind gesellschaftliche Wesen. Deshalb muss jede Antwort auf die besorgte Frage nach der Zukunft unserer Demokratien neben den bestimmenden Faktoren Boden, Kapital und Arbeit auch noch die psychischen Ressourcen in ihre Betrachtung mit einbeziehen. Und alle Überlegungen, wie der Kapitalismus als Wirtschaftssystem zum Wohl aller gezähmt werden kann, sind müßig, wenn man nicht die Frage nach der Demokratie stellt. Und diese Frage ist müßig, wenn wir Demokratie nur als System begreifen und nicht nach den Menschen fragen, die ja der Souverän dieser Herrschaftsform sein sollen. Was wird aus der Demokratie, wenn sie nicht mehr auf die Vernunft der Demokraten zählen kann?
Unsere egalitäre Gesellschaft ist eine des beständigen Hypes. Ihre Lieblingsworte sind Star, Super, Mega, Held, Ausnahme, Idol, legendär, Titan, Mythos, Gott, Kaiser. Offensichtlich haben die Demokraten, die vor 200 Jahren mit heißem Herzen die Freiheit gegen einen paternalistischen Staat und die Gleichheit gegen einen verschwenderischen Adel erkämpft haben, jetzt mit der Gleichheit ihre Schwierigkeiten. Sie begeistern sich für die roten Teppiche und alles, was das Etikett „größtes aller Zeiten“ trägt. Darüber vergessen sie auch, dass dieses Epitheta in Deutschland mit Hitler, dem größten Feldherrn aller Zeiten, dem „Gröfaz“, verbunden war. Der pubertäre Ehrgeiz der Übertrumpfung und der Wunsch zum maximalen Erfolg ist zur beherrschenden Verhaltensweise geworden. Und weil unsere grenzenlose und hochfliegende Welt allein auf Sieg und Rekord getrimmt ist, kann sie sich mit keinem Erfolg zufrieden geben. Sie feuert den Triumphalismus an, das Übertrumpfen der Erfolge, eigener und der der anderen, durch immer größere. Es geht darum, kein Looser und kein Opfer zu sein. Unsere Kultur kennt immer nur einen Gewinner, aber viele Verlierer. „The winner takes it all“, nicht nur Geld, auch Ruhm und Liebe, die Währungen unserer Zeit. In der hysterischen Verehrung des Siegers, nicht nur bei Olympia und Fußball-Weltmeisterschaften, überlebt ein Rest des früheren Glaubens, man könne sein Schicksal frei gestalten.
Unsere Wirtschaft und unser Alltag wird beherrscht durch das Versprechen von „mehr“. In der Wirtschaft heißt das Wachstum, im Alltag „Sprachen und mehr“, „Weine, Kohlen und mehr“, oder – vollkommen auf den Punkt gebracht – „Alles, was Sie sich wünschen und mehr“. Was das denn sein soll, dieses „Mehr“ bleibt immer offen und muss offen bleiben, weil es nur als vollkommen offenes Versprechen eine Dynamik in Gang setzt, die keine Grenze akzeptiert, ja sie noch nicht einmal kennt. Der, an den sich die Verheißung des „Mehr“ richtet, darf nichts anderes sein als ein Konsument, darin liegen seine Freiheit und sein Glück. In diesem Mehr-Wertdenken wuchert der Anarchismus des Kapitals und überlebt die Sehnsucht nach der Transzendenz, die in den säkularisierten Gesellschaften direkt neben der gleichzeitigen Vermutung liegt, dass es diese Transzendenz gar nicht gibt.
Garant des Erfolgs war in der klassischen bürgerlichen Gesellschaft die Leistung. Mit ihr positionierte sich der Bürger gegen den als parasitär empfundenen Adel. Die außergewöhnliche Leistung setzte eine Proportion der Gerechtigkeit voraus zwischen eigener Anstrengung und dem erzielten Gewinn und darin fand sie ihre Bestätigung. Erfolg ist heute aber gekoppelt an allgemeine Sichtbarkeit. Im Zeitalter der Medien verbürgt nicht einfach Leistung den Erfolg, sondern wie sehr man von der Welt wahrgenommen wird. Und die „gute Performance“ hat sich von der realen Leistung ein großes Stück abgekoppelt. Der performative Erfolg beruht auf vielen Gründen: Selbstdarsteller-Qualitäten, Skrupellosigkeit, Einfühlungsvermögen in die Erwartung des jeweiligen Publikums. Wichtig ist die Wahrnehmung in den Augen der anderen und noch wichtiger ist das, was am Ende herausschaut: das möglichst konkret messbare Ergebnis. Denn unser Zeitalter liebt den Rekord und bewundert den Sieger, egal, ob er ein Held ist oder ein Schurke, ob er etwas Sinnvolles getan hat oder etwas Dämliches, etwas zutiefst Gefährliches oder Überflüssiges. Beide sind immer „der größte aller Zeiten“, als sei die Geschichte schon abgeschlossen. Wir sind beherrscht von dieser Deformation der Intelligenz, die das Herausragende nur noch im Rekord sehen kann, der ja immer nur in Zahlen messbar ist: die höchste Quote an Zuschauern, die Website mit der größten Anzahl an Klicks, der höchste Plattenverkauf, der Spieler, der die meisten Tore geschossen hat, der Bergsteiger, der alle 8.000er ohne Sauerstoff bestiegen hat, usw. Andere Instrumente zur Bewertung als die Zahl haben wir nicht mehr.
Diese Verfallenheit an die Zahl ist das Brandzeichen des digitalen Zeitalters, das die Welt organisiert über 0 und 1. Auch die Finanzkrise ist eine des digitalen Zeitalters und das nicht nur wegen der blitzartigen Transaktionen, die durch das Internet möglich werden und unkontrollierbare Bewegungen auslösen können. Im Freitag fand sich unlängst ein sehr erhellender Bericht über den Mathematiker David X Li, der im April 2000 eine Formel entwickelt hatte zur risikofreien Geldvermehrung durch bloßes Umschichten und Neuverteilen von Schuldverschreibungen. Banker waren euphorisiert, denn dank Lis Formel begann in den alten Industriestaaten die größte Kapitalfreisetzung seit der industriellen Revolution. Die Überzeugung, dass man ökonomische Risiken rein mathematisch kontrollieren könne, ohne das Ergebnis in der Realität zu überprüfen, wird von vielen nachdenklichen Finanzkennern als Wurzel der Krise angesehen. Der Blick auf die Realität der vielen kleinen Marktdaten wurde ersetzt durch Rechenoperationen auf der Basis von Statistiken. Der Markt und seine Teilnehmer werden so zu einem in sich stabilen, abgeschlossenen System, das sich nach feststehenden Regeln bewegt. Man weiß aber schon seit langem, dass der Markt von den vielen Akten der Marktteilnehmer abhängt, die keinesfalls nach rationalen Kriterien gefällt werden, und deshalb seine Entwicklung nicht vorherzusagen ist. Woher also plötzlich der Glaube, dass eine mathematische Formel es richten kann? Im Jahr 1993 mussten Heerscharen von überqualifizierten Physikern sich einen neuen Job suchen, weil der Bau eines gigantischen Teilchenbeschleunigers vom amerikanischen Kongress abgesagt worden war. Sie fanden Arbeit in der Wall-Street und ihre Formelglaube und ihre tiefe Sehnsucht, eines Tages die geheime Weltformel finden können, infizierten die Banker, die jetzt plötzlich auch überzeugt waren, dass es eine geheime Formel der Wohlstandsvermehrung gäbe.
Neben der Verfallenheit an die Zahl steht die Verfallenheit an die Technik. Sie ist nicht mehr Instrument für bestimmte Zwecke, sondern ein Großsystem, so komplex und in so ständigem Wandel, dass sie sich einer effektiven Steuerung entzieht. Technische und mathematische Kategorien haben sich so sehr in unser Denken eingeschlichen, dass wir ein Teil dieses Systems geworden sind. Das ist ja ein alter Gedanke, der schon von dem Philosophen Günther Anders formuliert worden ist, wenn er von der “Antiquiertheit des Menschen” sprach. Damit meinte er, dass spätestens mit dem Koreakrieg die rechnerischen Kalküle alle moralischen Urteile ersetzt hätten. Sein Denken stand noch unter dem Zeichen der Atombombe, es wurde spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr beachtet. Aber es war merkwürdig, in den Berichten von der Finanzkatastrophe das Wort „Kernschmelze“ zu lesen, als gebe es ein untergründiges Wissen, was uns heute doch mit dieser Zeit verbindet, als der mathematisch-technische Komplex zum ersten Mal in voller Schrecklichkeit auftauchte. Mathematische Gesetze schaffen Wirklichkeitsfilter auch da, wo der Mensch einen Blick auf sich selbst wirft, denn inzwischen sind wir so weit, dass auch das Leben als Code begriffen wird. Inmitten der künstlichen Intelligenz, der Roboter und der Molekularbiologie leben wir unter der Herrschaft eines “technologischen Apriori”. Und damit ist gemeint, dass die Gesetze komplexer Systeme unabhängig sind von dem Stoff, aus dem sie gemacht sind – also auf Menschen, Tiere, Computer und Volkswirtschaften gleichermaßen zutreffen.
Kulturell erleben wir das so, dass neben dem Zwang zum Rekord zwei Diskurse vorherrschen: der des Sports und der des Militärs. Die Kriegsrhetorik ist in den Sport eingezogen und die Sportrhetorik in die Kultur. Dieses kriegerische Ethos findet man sogar im Hedonismus, der heute oft als aggressive Triebabfuhr daher kommt. Hier verbindet sich Wut mit Genuss. Jemand hat das „Kampfgenießen“ genannt. Auf fast allen Reklamefotos sieht man Menschen mit aufgerissenem Mund und gebleckten Zähnen, weil ein Joghurt, der Preis für einen Flachbildfernseher oder ein Waschmittel sie zum Entzücken treiben. Wir haben uns daran gewöhnt, diesen Gesichtsausdruck als Zeichen von Freude zu interpretieren. Ein Außerirdischer, der diesen Code nicht kennt, würde diese gebleckten Zähne und Kampfgesten mit ebenso guten Gründen als Schrecken deuten. Jeden Tag erfahren wir so im Fernsehen, im Internet, an den U-Bahn-Stationen, dass Genuss und Schrecken zusammenfallen.
Diese Affektballung bedient das Fernsehen täglich!! mit 19 Stunden Kriminalfilm. Diese Zählung stammt von 2005, inzwischen ist es noch mehr. Vom sicheren Sofa aus genießt der Mensch der modernen Industriestaaten die Verkommenheit der Welt in einer Mischung von ständiger Anspannung, ziellosem Stress und großer Berechenbarkeit. Dieses Übermaß an Verbrechen hat nichts mit der alltäglich erlebten Wirklichkeit zu tun und jeder Krimikonsument weiß das. Aber es führt zu einer diffusen Angst, die unerklärt ist und scheinbar unbegründet und es kultiviert eine Haltung des vagen Verdachts, dass das Leben beherrscht ist von dunklen Verschwörungen und ständig sich vervielfältigenden Verbrechen, gerade weil man sie nicht sieht. Die Sucht nach Krimis ist im Gegensatz zu anderen Süchten (Alkohol, Drogen, Internet) gesellschaftlich akzeptiert, obwohl in dieser stetigen Begeisterung für Mord und Totschlag ein neurotischer Wiederholungszwang steckt. Jede Sucht verlangt nach „mehr“, denn der ständig wiederkehrende, aber nur zu bekannte thrill führt zur Gleichförmigkeit und Ermüdung. Die Programmmacher wissen das und heben unermüdlich neue Formate aus der Taufe, noch härter, mit noch mehr thrill. Das Wort „hart“ wird inzwischen zur Kennzeichnung eines „kompromisslosen Realismus“ gebraucht. Doch sozialer Realismus verflüchtigt sich zusehends in den Krimis und in den „harten“ Gewaltorgien geht es nur noch um die schier unerträgliche Spannung.
Das Fernsehen hat Entertainment und Angst zu den wichtigsten Möglichkeiten gemacht, überhaupt eine Information zu transportieren. Das versetzt den zuschauenden Bürger in einen Zustand ständiger Hysteriebereitschaft, die unablässig nach dem Skandal und der Aufdeckung von schmutzigen Geheimnissen schreit und gleichzeitig nach einem „Mehr“ an Kontrolle, einem „Mehr“ an Überwachung, einem „Mehr“ an Sicherheitsverwahrung. Besonnene Politiker, die nicht populistisch reagieren, sagen dann meistens, dass alle Statistiken für die meisten Industrieländer sinkende oder zumindest stagnierende Verbrechensraten zeigen und der Ruf nach Ausweitung der Sicherheit unbegründet sei. Das entspricht der kriminalistischen Wahrheit, aber es übersieht, dass die gefühlte Bedrohung nicht aus der Quantität der Verbrechen resultiert, sondern aus ihrer Qualität. Es liegt nichts Tröstendes in stagnierenden Zahlen angesichts von deren Unfassbarkeit. Amokläufer an Schulen, unfassbare Grausamkeiten an Kindern, U-Bahn-Morde an besonnenen Passanten, die Gewalttaten gerade mit Umsicht und Vernunft verhindern wollten, zeigen, dass man sich nicht wappnen kann, dass es jeden treffen kann, jederzeit und überall, selbst, wenn die Wahrscheinlichkeit minimal ist. Denn das Gesicht des Verbrechens hat sich gewandelt. Die Täter sind nicht mehr die Kriminellen des Untergrunds, die es auf den bürgerlichen Kreislauf von Waren und Geld abgesehen haben. Diese Kriminellen agieren jetzt an einigen Schalthebeln selbst. Die Verbrechen des 21. Jahrhunderts sind der verdrängte, irrationale Schatten unserer rationalen Welt. Der Triebtäter ist der Nachbar von nebenan, der jugendliche Amokläufer der introvertierte Einzelgänger aus der Mittelstandsfamilie von gegenüber. Es sind nicht mehr die, die nie eine soziale Chance gehabt haben, es sind die, die sich nicht angenommen fühlen, nicht beachtet, nicht wichtig genug in einer Gesellschaft, die immer wieder betont, wie wichtig ihr jeder ist, einer Gesellschaft, die das alles verspricht und das alles gar nicht halten kann. Wenn nur noch das wirklich ist, was in der Öffentlichkeit stattfindet und von Millionen gesehen wird, dann hebt die besonders grausame kriminelle Tat den, der sich nicht selbst spürt, in die Sichtbarkeit. Die Währung des Informationszeitalters ist die millionenfache Beachtung.
Es ist kein Zufall, dass in Deutschland das Fernsehen das Genre Krimi dem Kinofilm fast völlig geraubt hat. Unabhängig von seinen Inhalten ist das elektronische Bild ein kaltes Auge. Im Gegensatz zum Kino, dem Reich der Gefühle, kann es keine emotionale Nähe herstellen. Auch bei größtmöglicher Nähe zum Sofa im Wohnzimmer des Benutzers, bleibt es immer in eisiger Distanz. Dieser Zwiespalt ist in das Medium als message eingebrannt. Thrill und Sentimentalität überbrücken diese kalte Nähe. Aber sie töten die Phantasie, weil sie Gefühle durch Affekte ersetzen. Der starke Affekt, stark, auch wenn er keine Gewalt propagiert, ist die normale Existenzform des Mediensubjektes. Dieses Subjekt leidet nicht nur unter Gefühlsverarmung, es ist durch das Ausgeliefertsein an den Affekt auch entmachtet. Denn „ich habe Gefühle“, aber „der Affekt hat mich“. Er kennt keine Moral, die das Vorrecht des Menschen ist und keinen Instinkt, der das Vorrecht des Tiers ist. Die Moral sagt dem Menschen: Du sollst nicht töten. Der Instinkt bringt das Tier dazu, abzulassen vom Gegner, wenn er auf dem Boden liegt. Der affektgetriebene Mensch ist in einem Zwischenreich, weder moralisch noch instinktiv. Der hellsichtige Melville hat mit dem Gedanken des Zwischenreichs gespielt und seinen Krimi Der eiskalte Engel genannt. Aber selten sind Affekte so stilisiert und kalkuliert wie bei ihm, meistens sind sie so roh und widerlich wie bei jeder tödlichen Schlägerei und niemand würde dabei an das Zwischenreich der Engel denken. Aber keine Suche nach sozialen Ursachen führt noch zum Verständnis. Das Verbrechen hat sich in den Krimis von seinen sozialen Ursachen entkoppelt.
Eine der Diagnosen unserer Zeit heißt: Das erschöpfte Selbst. Die Erschöpfung kommt aus einem Ich-Kult. Es gehört zum Stolz der modernen Demokratie, dass jeder und jede zur persönlichen Initiative aufgefordert ist, „er selbst zu werden“, seine und ihre Identität zu finden, zu erarbeiten. Identität ist heute der wichtigste Faktor bei der Neudefinition des Begriffs der Person. Das ist anspruchvolle Arbeit, die ständig von Zweifeln unterminiert wird: Bin ich schon, was ich bin? Wann endlich werde ich sein, was ich bin? Der Depressive ist erschöpft von dieser Anstrengung, er selbst werden zu müssen, ständig getrieben von einem Gefühl der Minderwertigkeit, der Unzulänglichkeit. Er schafft es nicht, die Frustrationen, die das Geschick eines jeden Lebens sind, zu akzeptieren. Exzess und heroische Anstrengung liegen direkt neben der tiefen Depression, die schon den Mafiaboss Tony Soprano in die Praxis der Analytikerin trieb. Die modernen Demokraten leiden unter einer Krise der Phantasie, entstanden aus der Gleichzeitigkeit von Überfülle und Mangel. Sie wollen neue Götter sein und bezahlen dafür mit innerer Zerbrechlichkeit. Nach einer Meldung des „Börsenblatts“ hat der Markt für Kinder- und Jugendbücher erstaunliche Zuwächse zu verzeichnen. Das liegt an den „All Age“-Büchern, in denen alle, Kinder, Jugendliche, Erwachsene, die magische Welten unendlicher Transformationen aufsuchen. Hier, aber auch nur hier, wird das Versprechen des größten Elektronik-Konzerns der Welt wahr: „Alles, was Du Dir vorstellst, kann Wirklichkeit werden.“ Das säkulare Heilsversprechen der Moderne erfüllt sich nicht mehr in der Politik, sondern in der Phantasy.
Dieser Zwang, sich ständig neu zu erfinden, hat die alte Idee der Entwicklung ersetzt. Entwicklung bedeutete noch, dass es eine Substanz gab, die ihre Ausprägung in unterschiedlichen Lebensaltern fand. Sich ständig neu zu erfinden, bedeutet permanente Adoleszenz, den falschen Glauben, das man immer wieder neu anfängt und alles immer offen ist. Wir erfinden Bilder und Funktionen unserer selbst, mit denen wir uns gegenüber Arbeitgebern und Sexualpartnern (hier ist die Marktbeziehung bis ins Privateste vorgedrungen) „vermarkten“. Der moderne Mensch wird in der Performance dessen, was er heute ist im Gegensatz zu gestern, zunehmend zu seinem eigenen Produkt. Er surft auf einer Designwelt, zu deren Objekten er selbst gehört. Als globalisiertes Wesen ist er ortlos, biegsam und verflüssigt, jeder Zeit bereit, Design und Funktion zu verändern. Sein Leben besteht darin, sich in Projekte einzufügen und so die eigene Isolierung zu überwinden. Aber die projektbasierte Ordnung verlangt, dass man, um „groß“ zu werden, alles opfern muss, was die Verfügbarkeit einschränkt. Man muss mobil, leicht und durchlässig bleiben, ohne Wurzeln, Bindungen und Leidenschaften. Wenn diese Kultur des Projekts sich auf das Privatleben ausdehnt, dann schlingert die Intimität zwischen Zölibat, Zusammenleben, Ehe und Scheidung. Das trifft besonders Frauen und ihren Wunsch nach Kindern. Nicht nur die Berufsleben sind heute prekär, auch die persönlichen Situationen sind es. Der Kapitalismus hat sich auf die ehemals als „privat“ bezeichnete Welt des Familien-, Sexual- und Gefühlslebens ausgedehnt. Auch hier herrschen Angebot und Nachfrage und Freiheit und Glück sind an den Konsum gebunden worden. Ausgesetzt einer nicht beherrschbaren Informationsflut und durch die Medien eingeübt in die Faszination des Grauens, schlingern die Menschern zwischen den antiquierten Grenzen ihrer Wunschökonomien und den Zwängen einer neuen Welt, von deren Gestalt man noch nichts weiß. Wir halten uns inzwischen sowohl in der Realität auf wie in der Fiktion, die der Realität immer ähnlicher wird, es ist der ganze Ehrgeiz der Techniker, die Unterschiede zwischen beiden verschwinden zu machen. Die Wahrnehmungen nähern sich an, aber in den beiden Bereichen gelten nicht die gleichen Moralgesetze. Wir müssen unterscheiden können zwischen dem thrill und der Entertainment-Lust, die es bereitet, in einen Film zu sehen, wie einem Menschen mit einem Baseballschläger der Kopf zu Matsch geschlagen wird und dem Entsetzen, wenn dasselbe in einer U-Bahn-Station passiert.
Das, was die sozialistische Utopie im moralisch-politischen Sinne gemeint hatte: die Schaffung des „neuen Menschen“, entsteht heute in den Laboren der Wissenschaft und Technik, auf den kapitalistischen Märkten und in den globalisierten Büros wie von selbst. Zum Teil langsam als Anpassung an die Unübersichtlichkeit der Zeit und aus der Erschöpfung vor den ständig wachsenden Anforderungen. Zum Teil dramatisch als Forschungs- und Anwendungsfeld neuer Biotechnologien. Der biopolitischen Achse geht es nicht um die Produktion von Gütern, sondern um die Produktion des Lebens, um die Schaffung von Menschen. Damit ist der äußerste Punkt der Umwälzung benannt, die sich heute vollzieht. Amerika, das uns immer voraus ist, was die Überführung von Lebensgefühl in die Medien des Entertainment angeht, zeigt in den modernsten Krimiserien, worum es geht. Hier ist der Mord nur noch eine Angelegenheit der Pathologen, sie sezieren die sterblichen Überreste des Menschen. Metaphorisch gesagt, des Menschen, wie er einmal war. Die Wissenschaft ist dabei, ihn im großen Maßstab neu zu erfinden. Der Mensch der modernen Industriestaaten ist nicht nur gehalten, sich ständig neu zu erfinden, er wird auch umgebaut. Das hat er in seiner Geschichte schon öfter erlebt, aber nie in diesem Maßstab, denn es geht nicht einfach um Veränderungen von Weltverhalten und Moral. Es geht um Eingriffe in seine geistige und körperliche Substanz. Man kann das verfolgen, wenn man will, denn es geschieht nicht im Geheimen. Aber man muss sich durcharbeiten durch die Banalisierung, den Populismus und die Vulgarisierung, die die politisch-kulturelle Öffentlichkeit der Gegenwart prägen. Ihr Antiintellektualismus ist der dröhnende Schutzschild vor dem, was sich heute in der Zusammenarbeit zwischen den Labors, der Industrie und den Geheimdiensten vollzieht.
Dies alles muss man emotionslos beschreiben, denn es geht nicht um Katastrophenberichterstattung. Wenn es so klingt, dann liegt es daran, dass man Neues immer nur beschreiben kann mit dem Vokabular von gestern. Der Mensch der europäischen Aufklärung und damit auch der uns bekannte Demokrat ist an sein Ende gekommen. Wie der neue aussieht, weiß niemand. Im Moment herrscht die große Unübersichtlichkeit. Was die Politik bekämpft, hat in der Kultur Konjunktur. So kann man im Kulturfernsehen zwei Sendungen hintereinander sehen: eine erhellende Analyse des Finanzcrashs und danach einen Film, der neben der Gier, die uns den Finanzcrash beschert hat, auch alle anderen Todsünden verherrlicht: die Wollust, den Mord, den Hochmut. Zumindest vor einigen von ihnen, die wir hier genießen, sollte der Staat uns aber schützen. Das erwarten wir! So viel Sicherheit muss sein!
Was aber wird aus der Demokratie, wenn sie nicht mehr auf die nüchterne Vernunft der Demokraten zählen kann? Die Idee der Demokratie war einmal ein kulturelles Projekt, in der modernen Wohlstandsgesellschaft ist das Kulturelle vom Sozialen aufgesogen worden im Sinne der Chancen- und Verteilgerechtigkeit. Unsere Wohlfahrtsgesellschaft ist bemüht, die konkreten Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen und schon daran scheitert sie. Wenn die Demokratie das säkulare Heilsversprechens aber nicht einlöst, kann das noch sehr viel Wut mobilisieren bei denen, die das Gefühl haben, zu kurz gekommen zu sein, weil sie die Welt nur noch erfahren als Beschädigung ihrer Person. Aber auch bei denen, die profitieren, entfacht diese Idee keine Begeisterung mehr, sondern höchstens die Furcht um die Besitzstandswahrung. Es ist klar, dass der Kampf zwischen Kreativität und Geldvermehrung geregelt werden muss. Aber dann? Arundati Roy drückt es so aus: Ohne eine langfristige Vision kann unser Planet nicht überleben. Dürfen wir diese aber von Regierungen erwarten, deren eigene Existenz vom unmittelbaren und kurzfristigen Profit abhängt? Der Mensch kann – anders als die meisten Tiere – niemals ganz und gar in der Gegenwart leben. Damit wird er zu einem seltsamen Zwischengänger, weder Bestie noch Prophet, ausgestattet mit faszinierender Intelligenz, doch nicht mehr über einen Überlebenstrieb verfügend. Der Mensch plündert die Erde und hofft zugleich, dass die Akkumulation von materiellem Mehrwert das Profunde und Unermessliche, das er verloren hat, wettmacht.
Der Demokrat von morgen kann nur einen Fehler machen: bei den politischen Gewissheiten, wie sie zum Beispiel auf Wahlplakaten stehen, „Fortschritt, Entwicklung, Wachstum“, stehen zu bleiben.
Autor: Dr. Jutta Brückner
Text geschrieben im November 2009
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