Drei Jahre nach „Axolotl Roadkill“ und der unwichtigen Frage, ob ein paar Sätze darin abgeschrieben sein könnten, legt Helene Hegemann ihren Zweitling vor. Der Roman „Jage zwei Tiger“ ist dick und zäh.
Helene Hegemann ist wieder da. Sie ist jetzt 20, und das ist gut. Denn bei ihrem Erstling, bei „Axolotl Roadkill“, war sie 17, und man fragte sich da beim Lesen der einen oder andern Kritik, ob es sich nicht um einen gröberen Fall von Lustmolchentum handelte.
Helene Hegemann selbst hat neulich in der Welt die Vermutung angestellt, dass es sich dabei um „die verkappte Lüsternheit halb toter Typen über fünfundvierzig“ gehandelt haben könnte, „denen nicht mehr viel bleibt als ihre Pseudofantasien“. Auf den Mund gefallen war sie ja noch nie, aber vielleicht wird sie das jetzt selbst ändern und zurückhaltender werden. Sie will nämlich den Kritikern von einst künftig „in strikter Neutralität“ entgegentreten, „ich würde mich mit ihnen über Hunde und Yoga und die Frage unterhalten, wo man in Berlin Kaffee bekommt, ohne zwanzig Cent extra für die Sojamilch zu bezahlen.“ Wie schade wäre das!
Wahrscheinlich muss man sich um Helene Hegemann keine Sorgen machen. Sie hat ihre Welt im Griff. Und sie schreibt jetzt auch nicht mehr über eine Figur, die man nicht nur mit ihr verwechseln könnte, sondern geradezu mit ihr verwechseln muss. Sie hat es ja damals abgestritten, dass ihre 16-jährige Berliner Göre namens Mifti irgendwas mit ihr selbst zu tun hatte, aber man hat es trotzdem so gelesen, als roman à clé aus den Innereien des Berliner Kreativprekariats. Aber wieso eigentlich? Wegen eines natürlichen Lesertriebs zum Voyeurismus? Und hat nicht einmal einer namens Flaubert gesagt: „Madame Bovary c’est moi“?
Die Familie ist an allem schuld
In ihrem zweiten Versuch, ein Buch zu schreiben, ist definitiv alles erfunden; jedenfalls scheint es so, jedenfalls ist das so zu hoffen, aber es kann auch gar nicht anders sein. Denn „Jage zwei Tiger“ platzt fast vor Übertreibungen, auch vor Szenarien eines möglichen Weltuntergangs: Der Himmel über Deutschland wird plötzlich grün, was hat das bloß zu bedeuten? Ist das jetzt ein apokalyptisches oder ein politisches Statement oder bloß theatral? Herd aller Katastrophen ist die Familie, was grundsätzlich keine schlechte Idee ist für gute Literatur, schon Tolstoi hat das erkannt.
In „Axolotl Roadkill“ ging es um ein einzelnes Mädchen, das seiner Generation von spätinfantilen Ego-Eltern den Spiegel vorhielt, als böses, kleines, altkluges Monster. In „Jage zwei Tiger“ gibt es viele von diesen Kindern, aus allen Löchern Deutschlands scheinen sie zu kriechen: Fast zombiemäßig machen sie sich auf, verletzt (Kai), verkrüppelt (Samantha), magersüchtig und selbst verstümmelt (Cecile), um sich zu retten und zu lieben. Der zu Beginn elfjährige Kai verliert seine Mutter in einem infernalischen Autounfall, als die vierzehnjährige Samantha mit anderen Kindern einen Stein auf die Windschutzscheibe des Autos wirft: Das ist „Hardcore oder? Aber irgendwie auch geil.“ Kai kommt zu seinem Vater, einem daueralkoholisierten Kunsthändler mit mehreren Geliebten. Samantha selbst ist eine einarmige Zirkusartistin, die fast erstickt in einem Wohnwagen mit unzähligen Geschwistern und im mütterlichen Klammergriff. Die sechzehnjährige Cecile wiederum flieht aus einem überkünstelten Luxusleben mit 120-Zimmer-Villa und vor einer viel zu schönen Mutter.
Die drei kommen weit herum, das Zirkusmädchen sowieso, Kai auf einem Nostalgie-Trip mit seinem Vater bis nach Zürich an die Street-Parade, Cecile zuerst nach Worms in eine WG, dann nach Venedig, wo sie im Umfeld der Kunstbiennale mit Drogen dealt. Die libidinösen Regungen schlagen derweil in alle möglichen Richtungen aus, und die Kapriolen des Schicksals, so viel darf man hier verraten, werden derart krude begradigt, dass es sogar ein Happy End mit Hochzeit gibt.
Das alles klingt nach einem recht netten Abenteuerroman für Heranwachsende, ist es aber nicht. Der aktuelle Spiegel bescheinigt dem Roman zwar, dass er „nach gut hundert Seiten“ Fahrt aufnehmen würde, was auch fast stimmt, denn auf Seite 136 geht es nach Zürich, über einen roadmovieartigen alpinen Schlenker – vermutlich handelt es sich dabei um die Zumthor-Therme in Vals – an die Street-Parade. Und da lässt sich jetzt zwar kein einzelnes tolles Zitat herausfiltern, außer vielleicht, „dass die Schweiz für traurige junge Menschen genau das Richtige sei“ – eine Erkenntnis, auf die man nie gekommen ist, die aber gut klingt. Aber es ist doch gesamtatmosphärisch gesehen eine sehr hübsche, sehr böse und gar nicht unzutreffende Schilderung von Land und Stadt und Leuten. Auch der Gastauftritt von Madonna, die sich in Venedig als gebrechliche alte Frau verkleidet, um sich unerkannt zu bewegen, ist ein originelles Halbedelsteinchen.
Es passiert viel; man kann nicht leugnen, dass in Helene Hegemann eine größere erzählerische Fantasie oder zumindest eine bessere Kenntnis von B-Movies und Trash-Literatur steckt, als man dies nach „Axolotl Roadkill“ annehmen konnte. Es wird allerdings zwischen den Handlungspartikeln viel zu viel nachgedacht, geredet und beschrieben, und das ist weiterhin genauso pseudointellektuell gespreizt wie früher. Ein Modeshooting in Berlin etwa liest sich so: „Es ging um die in diverse undefinierte Undergroundrichtungen getrimmte Aufpolierung eines Turnschuhlabels, alles supersick, diese millionenschwere Guerilla-Idee von Coolheit.“ Das ist vielleicht geil. Aber irgendwie auch Hardcore. Ein anstrengender Jargon.
Ermüdende Schlaufen
Helene Hegemann sagt nichts dergleichen, sie sagt, sie wolle bloß nicht langweilen. Im konservativen Sinne von „redundant“ oder „der fällt einfach nichts mehr ein“ tut sie das auch nicht. Aber die Hirnschlaufen, die sie über allem dreht, ermüden gewaltig. Ab Seite 10 ist man genervt, ab Seite 30 komatös, wenig später hat man gar keine Chance mehr, die wachsende Schar halbwüchsiger Klugscheißer noch irgendwie auseinanderzuhalten, weil sie alle gleich denken, gleich leiden, den gleichen Grad von matt-dekadentem Kleinrebellentum an den Tag legen. Wieso soll man sich lange für sie interessieren?
Dabei kann Helene Hegemann schon sehr gut schreiben. Jedenfalls, wenn nicht sie selbst ihrem Schreiben Nahrung geben muss. Ihre große Bayreuth-Reportage in der Zeit zum Beispiel ist so drastisch wie ihre Literatur, aber knapper, präziser, lesbarer: „Im zweiten Akt (von ‚Lohengrin’) kotzt ein Mann drei Reihen vor mir in die Handtasche seiner Frau. Sie macht die Handtasche zu, es geht weiter, alle sehen gut aus, die Story wird extremer.“ Vielleicht sollte sie Krasse-Reportagen-Autorin werden. Und eine eigene Fernsehsendung bekommen. Quasi den umgekehrten Weg einer Charlotte Roche gehen.
Denn „Jage zwei Tiger“, das Buch, dessen Titel an ein fernöstliches Esoterikseminar in der Provinz erinnert, ist gar kein Lesevergnügen. Fast verklärt man „Axolotl Roadkill“ im Nachhinein. Aber wahrscheinlich nur wegen der voyeuristischen Zusatzbefriedigung.
Simone Meier, Tages-Anzeiger 22.08.2013
Bild: Helene Hegemann bei der Lesung auf dem Erlanger Poetenfest 2013; CC BY-SA 3.0 Amrei-Marie
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