Am Anfang war es nur Spiel
Jeder liest einen Roman anders. Für manche steht der Inhalt im Vordergrund, das, was passiert. Oder das, was beschreibbar vor sich geht. In dem neuen Roman „Nacht ist der Tag“ von Peter Stamm ist mehr denn je das Lesen zwischen den Zeilen gefragt, ein Prozess, der sich beim Lesen seiner Bücher wie von selbst einstellt, und der süchtig macht.
Die äußere Handlung ist schnell erzählt: Ein Unfall löst eine Kette von Geschehnissen aus, und auch der Unfall ist die Folge eines Streits, eines sinnlosen Streits. Hätte Matthias nicht die Aktaufnahmen seiner Frau gefunden und sie zur Rede gestellt, hätten sie sich in der Silvesternacht nicht betrunken und sich dennoch ins Auto gesetzt. Dann würde er noch leben, dann hätte das telegene Gesicht von Gillian keinen einzigen Kratzer abbekommen.
Am Anfang war es nur Spiel, ein Flirt mit einem Künstler, dem die TV-Journalistin nach einem Interview aus einer Laune heraus nachgegeben hatte. Aktmalerei, wer kann sich heute noch mit einem dermaßen abgelebten Genre befassen? Hubert war der Idee verfallen, auf der Straße Frauen anzusprechen und sie zu bitten für ihn Modell zu stehen, oder besser gesagt, unbekleidet ihren häuslichen Verrichtungen nachzugehen, während er ihnen dabei zusah. Das klingt nach einem Spanner unter dem Deckmantel der Kunst. Doch erfährt der Leser im Laufe des Buches, worauf dieser Rückgriff auf die Maler-Modell-Konstellation hinausläuft: auf die Suche nach der Präsenz eines Menschen, denn das ist es, was Hubert in seinen Bildern einfangen wollte, und was ihm in manchen Gemälden auch gelang.
Dieser rätselhaften Präsenz, die über die äußerliche Erscheinung hinausgeht, ist auch der Autor auf der Spur, der seine Figuren kaum beschreibt, sie vielmehr durch ihre Handlungen und Empfindungen konturiert. Viele werden sich Gillian blond und schlank vorstellen, aber genau wird der Leser über das Äußere der Fernsehmoderatorin nicht informiert. Sie ist einsam, wirkt trotz ihres Erfolgs müde und gereizt. Das Verhältnis zu den Eltern – und der Eltern untereinander – ist angespannt. Vorgelebt wird ein Rollenspiel, das Leben als Pflichtübung und reibungsloser Vollzug.
Der Unfall löst bei Gillian eine Kette von Erinnerungen aus, die ihr erst im Nachhinein klar machen, was eigentlich geschehen ist. Der äußere Heilungsprozess, die komplizierten Schönheitsoperationen, verlaufen parallel zu einer Reise nach innen. Doch die muss sich der Leser größtenteils vorstellen. Alles was wir erfahren, ist, dass Gillian sich irgendwann Jill nennt in einem Freizeitclub in den Bergen arbeitet. Ihr altes Leben hat sie hinter sich gelassen.
Was zunächst als ein Schicksal von vielen wirkt, schwillt im Laufe des Romans zu einem komplexen Szenario an, das den dunklen Kapiteln des Lebens die Regie überlässt. Sei es die Willkür der Lust, die Schalheit der Gewöhnung oder die Angst vor dem eigenen Versagen. Am Ende scheitert der Künstler, weil er die Verbindung zu sich selbst verloren hat, während die ehemalige Moderatorin dem die Stirn bietet, was das moderne Leben – und die Kunst – so schwierig machen: Das Aushalten und den Umgang mit der individuellen Freiheit.
Dem Roman ist so etwas wie eine Poetik des offenen Kunstwerks eingeschrieben, die das Buch aus dem Meer der zu Ende erzählten Begebenheiten oder kunstvollen Anspielungen heraushebt. Peter Stamm setzt die Leser auf die Bahn und lässt sie dann fahren. Es ist jedes Mal wie ein Aufwachen aus einem schönen Rausch, wenn die Fahrt zu Ende ist.
Carmela Thiele
Peter Stamm
Nacht ist der Tag
Roman
Hardcover, Fischer Verlag, Preis € 19,99
ISBN: 978-3-10-075134-8)
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