Lang hat’s gedauert, nun endlich auch hier zur Diskussion frei gegeben: ein Spielfilm besonderer Art aus der Schweiz.
Angeregt wird die Diskussion dadurch, dass Regisseur Urs Odermatt ein überaus schwieriges Thema, nämlich das des Kindesmissbrauchs, scheinbar sehr leichtfüßig beleuchtet – als Show des Abstrusen und Abenteuerlichen. Verfremdungen im Stile Brechts und Broadway-Effekte, Fäkalsprache und Einsprengsel von Momentaufnahmen der Dreharbeiten, Gesang und Tanz sorgen für Irritation. Gutmenschen werden sehr schnell fragen, wo hier die Anteilnahme bleibt, wo das politisch korrekte Einklagen von Recht und Gesetz und Moral.
Verfolgt wird der Kampf von Trix Brunner (Mirjam Japp) gegen den Sportlehrer Armin (Jörg-Heinrich Benthien). Er missbraucht Schülerinnen sexuell. Wenn er nackt unter der Dusche Gitarre spielt, ist das noch einer seiner harmloseren Einfälle. Trix müsste es leicht haben, gegen ihn anzukommen. Doch dem ist nicht so. Sie gilt nämlich als „Fremde“, als „Zugereiste“ und ist den Ortsansässigen damit suspekt. Zwar lebt sie mit Tochter Saskia (Paula Schramm) schon zwölf Jahre im Dorf. Aber: einmal fremd, immer fremd. Die Alteingesessen sind nun mal die besseren Menschen.
Autor und Regisseur Urs Odermatt hat sein eigenes Theaterstück adaptiert – mit wenig Geld und viel Mut zum Ungewöhnlichen. Der grelle Witz und die bizarre Montage sorgen für eine starke Wirkung. Der Film erzählt weniger davon, was alle wissen, nämlich dass Kindesmissbrauch ein scheußliches Verbrechen ist, sondern davon, wie gefährlich es ist, wenn eine Mehrheit eine Minderheit unterdrückt. Die Dorfbewohner verehren Armin. Einst hat er sportlichen Medaillenruhm angeschleppt, nun ist es unmöglich, dass er kein guter Mensch ist. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Die braven Bürger wollen nicht wissen, was Sache ist. Mit Armin verteidigen sie ja sowieso in erster Linie das eigene Selbstbild. Weil sie das um jeden Preis tun, werden sie selbst zu Verbrechern.
Der Film erinnert an einen tatsächlichen Fall: Von 1983 und 1994 hat ein Turnlehrer in der Gemeinde Möriken im Kanton Aargau mehrere Mädchen zwischen 7 und 19 Jahren sexuell missbraucht. Es dauerte ewig, ehe das bekannt wurde, und noch einmal sehr lange, bevor die Justiz aktiv wurde. Das war so, weil sich eine große Mehrheit der Bewohner des Ortes schützend vor den Täter stellte. Erst 2000 erfolgte die Verurteilung. Und in Möriken ist das große Schweigen angesagt.
Ja, der Film ist mit ausgestellten Geschmacklosigkeiten und dem Stil-Wirrwarr eine Herausforderung. Das aber ist eine Herausforderung, der zu stellen sich lohnt. Denn sie bricht alles Schweigen auf. Hier gibt es nämlich nicht die übliche Beruhigungspille, dass das Gute schon über das Böse siegen wird. Am Ende bleibt sehr viel Beunruhigung. Ausgelöst wird sie durch zwei entscheidende Fragen: Schauen wir nicht alle zu oft gerade dann, wenn anderes Not täte, weg? Und: Sind es nicht zu viele, die sich zu gern, all den Vielen anschließen und die tapferen Wenigen im Regen stehen lassen?
Peter Claus
Der böse Onkel, von Urs Odermatt (Schweiz/ Deutschland 2011)
Bilder: déjà vu Filmverleih
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17. April 2013 um 13:09 Uhr
„Schauen wir nicht alle zu oft gerade dann, wenn anderes Not täte, weg? Und: Sind es nicht zu viele, die sich zu gern, all den Vielen anschließen und die tapferen Wenigen im Regen stehen lassen?“
Hm… ist das nun kein „gutmenschliches“ „politisch korrekte[s] Einklagen von Recht und Gesetz und Moral“? 😉
„Gutmenschen“ aufgrund und anhand ihrer wenig extravaganten Vorstellungen von Moral süffisant vorzuführen kann ganz schnell zum Eigentor werden, wenn man selbst noch vergleichsweise schlichte moralische Vorstellungen hegt… (Womit ich nichts gegen die moralischen Vorstellungen und den damit verbundenen Idealismus sagen will – auch wenn beides als uncool gilt. Weswegen man sich ja auch so gern vom „Gutmenschen“ mittels dieser Begrifflichkeit distanziert…)