Man ist doch immer wieder überrascht. Überrascht vielleicht weniger über wirklich Überraschendes, als darüber, dass Dinge, die uralt und längst bekannt sind, allergrößtes Erstaunen hervorzurufen vermögen. Miese Arbeitsbedingungen bei Amazon! Pferdefleisch in der Fertig-Lasagne! Ja hat denn wirklich jemand ernsthaft geglaubt, darin Kalbsfiletstreifen vorzufinden? Wer Lebensmittel zu einem Preis erwirbt, der an sich schon unanständig ist, sollte froh sein, nicht auf den Knochen rumänischer Hilfsarbeiter herumkauen zu müssen. Und wer gerne Päckchen von Amazon erhält, weil sich das ein bisschen wie eine Geburtstagsüberraschung anfühlt, könnte ahnen, dass die auch von irgendwem gepackt worden sind. Da die Sache aber so wenig wie möglich kosten soll, kann der Lohn der Packer nicht allzu üppig sein. Sicher: Dass da in den sogenannten Logistik-Zentren offenbar Neonazi-Aufseher die Lohnsklaven aus Osteuropa überwachen, ist keine schöne Vorstellung und zudem historisch belastet. Aber, Leute, man nennt das Kapitalismus. Den gibt es schon sehr lange. Kann man wissen. Auch dass die kapitalistische Triebfeder, vorsichtig formuliert, eher die Gewinnmaximierung ist als die Verbreitung ethischer Grundsätze, ist keine wirklich überraschende Erkenntnis.

Trotzdem rufen derartige Einblicke in Unternehmenskulturen zuverlässig größte Verblüffung hervor. Bei allem Respekt vor Pferden und Saisonarbeitern ist aber auch klar, dass die Öffentlichkeit so bloß mit Nebensächlichkeiten abgefüttert wird. Die Sache ist doch die: Wer wenig verdient, muss halt billig essen, soweit sorgt das System immerhin vor, und insofern passen beide Meldungen perfekt zusammen.

Wer es besonders günstig haben möchte, kann sein Pferdefleisch übrigens auch direkt bei Amazon bestellen ‑ eine Dose Dovgan Pferdefleisch im eigenen Saft für zwei Euro fünfzig. Kunden, die diesen Artikel kauften, kauften auch Hundert Prozent Pferdefleisch pur von Scheker und die Vorratspackung Pferd, 30 mal 800 Gramm in Dosen für 117 Euro 99. So eine Bestellung wäre immerhin ehrlich und sauber und nicht angreifbarer, als die empörte Kündigung bei Amazon, die auf dem heimischen Apple-Computer verfasst wird. Denn Apple ‑ noch so eine überraschende Erkenntnis der jüngsten Gegenwart ‑ ist gar keine Religion, sondern auch nur ein Großkonzern, der von Billiglohnsklaverei profitiert. Wer weiß, vielleicht sind ja auch im Rechner Pferderückstände zu finden.

Die schwindelerregenden Gewinne, die so entstehen, sind das eine. Niedrigpreise das andere. Deshalb ist auch niemand unschuldig, der einfach bloß kauft und seine Konsumentengier in Schnäppchenform befriedigt ‑ ob mit Lasagne oder Smartphone. Die gierigen Erzeuger werden sich durch bessere Kontrollen oder Mindestlöhne nicht davon abhalten lassen, so billig wie möglich zu produzieren – womit nichts gegen Kontrollen und Mindestlöhne gesagt sein soll. Es kann aber halt immer was anderes drin sein, als draufsteht. Man nennt es Kapitalismus.

Jörg Magenau, rbb-kulturradio 22.02.2013

INFORMATION (für Interessierte):

Pferdefleisch ist das Fleisch des Hauspferds. Es wird heute als Nahrungsmittel in Deutschland und Österreich eher selten, in der Schweiz häufiger genutzt. Pferdefleisch wird vorwiegend in Pferdemetzgereien verkauft, in der Schweiz ist es auch bei den Großverteilern Coop und Migros erhältlich. Einige Gerichte der deutschen Küche werden traditionell mit Pferdefleisch zubereitet, beispielsweise der Rheinische Sauerbraten.

 

Schematische Darstellung der Schlachtteile beim Pferd:

A) Filet, ist der am wenigsten beanspruchte Muskel und daher das beste Stück vom Pferd (liefert Steakfleisch)
B) Hinterrücken, ist ganz schier, ohne Speck und Sehne (liefert Steak vom Rücken)
C) Oberschale mit Oberschalendeckel, ist zartes, saftiges Fleisch (liefert Steakfleisch aus Oberschale und Roulade aus Oberschalendeckel)
D) Seemer und Seemerrolle, liefert Fleisch zum Schmoren (Braten, Rouladen, Gulasch)
E) Vorderrücken, liefert Steakfleisch (Grillen, Kurzbraten, Überbacken)
F) Hochrippe, liefert Fleisch zum Schmoren (Schmorfleisch, Gulasch)
G) Brust, liefert Fleisch zum Schmoren (Schmorfleisch, Gulasch)
H) Bug, liefert Fleisch zum Räuchern und Pökeln (Pferdeschinken, Rauchfleisch)
I) Bauchlappen
J) Vorderes Beinfleisch, ist sehr sehnig und liefert Fleisch zum Kochen (Suppenfleisch, Kochwurst)
K) Hinteres Beinfleisch
L) Nacken
M) Kopf, liefert zusammen mit I), K), L) Verarbeitungsfleisch (Knackwurst, Kochwurst, Pferdefett usw.)

(Quelle: Wikipedia)