Wer sich in einen Ulrich Seidl-Film begibt, muss wissen, was ihn erwartet: Es wird sehr intim, sehr körperlich, sehr traurig, sehr komisch, sehr böse, sehr zärtlich; es wird peinlich, vielleicht sogar peinigend. Aber dafür gelangt man auch an einen Ort, an dem man noch nicht war. Im Inneren von Alltag und sexueller Ökonomie ganz normaler Menschen. Und das erste was man da drin entdeckt, das ist, dass eigentlich gar nichts „normal“ ist in dieser Welt.
Es gibt drei Dinge, die in Ulrich Seidls Filme das Peinliche oder gar Peinigende, das unangenehm berührend Intime, und die Offenbarung des Grotesken und Korrupten im Alltag abfedern: Zum ersten ein ungemeiner Gestaltungswillen – jede Einstellung ist ungeachtet des Schrecklichen, das sie zeigt, auf eine besondere Weise schön. Es ist ein klares Tableau, eine sprechende räumliche Anordnung. Die ungeschminkte Realität zeigt sich in einem Rahmen reiner Kunst. Keinen Gedanken gibt es da an den gewöhnlichen Voyeurismus des medialen Alltags. Das Ungeschönte entfaltet sich in schönen Bildern. Zum zweiten gibt es da einen sehr wohl dosierter Humor. Nicht einer, der erst heraus gekitzelt werden müsste oder der sich der satirischen Übertreibung verdankte, schon gar kein Lachen der Überheblichkeit, sondern ein Humor, der das Komische, das die Tragödien des Lebens grundiert, einfach nicht verbirgt. Und am Ende ist, zum dritten, in Ulrich Seidls Filme, so hart und direkt sie uns auch angehen mögen, doch eine große Menschenliebe und eine Neugier auf die Verhältnisse, in denen man so lebt und leidet am Werk. Die Schwäche des einzelnen ist nicht der Punkt, den man denunzieren will, sie ist das Tor, das in das Innere führt. Denn es sind Menschen auf der Suche nach dem Glück, nach Befreiung, nach Liebe. Unglücklicherweise führt die Befreiung des einen nur zur Unterdrückung des anderen, unglücklicherweise lauert hinter jedem Gefängnis, das man verlässt, schon das nächste…
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Georg Seeßlen: Filmkritiken 2010 – 2013
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Mit Leidenschaft für den Film und mit Liebe zum Kino
52 Filmkritiken, geschrieben und veröffentlicht in den Jahren 2010 bis 2013, bieten Einblicke und Ansichten, vermitteln Zusammenhänge und Perspektiven.
Das Thema der Filmkritik ist das Filmesehen. Und Filmesehen ist eine Kunst. Und Georg Seeßlen versteht davon eine ganze Menge. Seine kompetente Übersetzung des audiovisuellen Mediums Film in Sprache ist tiefgründig, vielschichtig und bezieht aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen mit ein.
Gehen Sie mit Georg Seeßlen auf eine Reise in die Filmgeschichte. Eine Reise in Zeit und Raum.
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