Das Bild bezahlt seine universale Marktgängigkeit mit dem hohen Preis seiner Auflösung. Auch das stereoskope (3D) Bild wird das Kino nicht retten. Eine erhellende „tour d“horizon“ durch die Sozial- und Mediengeschichte des Kinozeitalters
Die Zukunft des Kinos ist eine Frage der Technologie.
Nein, Quatsch. Die Zukunft des Kinos ist eine Frage der Ästhetik.
Nein, Quatsch. Die Zukunft des Kinos ist eine Frage der Politik.
Nein, Quatsch. Die Zukunft des Kinos ist eine Frage der Soziologie.
Nein, Quatsch. Die Zukunft des Kinos ist eine Frage der Ökonomie
Nein, Quatsch. Die Zukunft des Kinos ist eine Frage der Wahrnehmungspsychologie.
Nein, Quatsch. Die Zukunft des Kinos ist eine Frage der Architektur.
Nein, Quatsch. Die Zukunft des Kinos ist eine Frage der populären Mythologie.
Nein, Quatsch. Die Zukunft des Kinos ist eine Frage des öffentlichen Raums.
Nein, Quatsch. Die Zukunft des Kinos ist eine Frage der Gefühle.
Nein, Quatsch. Die Zukunft des Kinos ist eine Frage des Zusammenhangs.
Nein, Quatsch… Oder vielleicht doch?
Kapitel Eins: Nützliche und unnütze Ausweitungen des Bildraumes, oder Warum die Bilder sich bewegen müssen
Die Frage ist, warum das Kino sich überhaupt so angelegentlich verändern muss, und nicht, wie andere Dinge, sagen wir das Sonett, der Suppenteller, die Verwechslungskomödie oder die Krawatte sich, wo die ideale Form einmal gefunden ist, im großen und ganzen gleich bleibt. Und war nicht eine Teilung in das Genre-Kino der Traumfabriken einerseits und den Autorenfilm der kleinen und großen Meister eine wirklich ideale Form? Jedenfalls gibt es nur wenige, die nicht wenigstens mit einem Teil ihrer Gedanken zum Kino diesem klassischen, paradiesischen Teil der Mediengeschichte nachtrauern.
Wir vergessen dabei freilich allzu leicht, dass dieses Paradies erzeugt war durch Oligopole, durch staatliche Eingriffe zu ihren Gunsten, durch rigides Geschmacks-Mainstreaming, durch vergleichsweise willkürliche Grenzziehungen zwischen low und high, durch die Organisationen des Arbeitsalltags und des Feierabends, in dem der Kinobesuch zwischen Fabrik und Familie seinen festen Platz haben konnte. Auch das beste Kino funktioniert nur als Ausdruck defizitärer gesellschaftlicher Praxis.
Dafür dass das Kino sich verändern muss, ob es die Produzenten, ob es die Konsumenten nun eigentlich wollen oder nicht, gibt es drei mehr oder weniger gute Gründe. Zwei davon sind ziemlich einfach, einer ziemlich kompliziert. Logisch, dass wir uns hauptsächlich mit dem komplizierten beschäftigen. Aber zuerst die einfachen Gründe.
Erstens verändert man das Kino als technologische Institution, weil man es verändern kann.
Es ist eine Bildermaschine, und jede Maschine will technisch, ökonomisch und politisch verändert werden, weil sie unter dem Diktat der Innovationszyklen, des Wachstumsgebots und des tendentiellen Falls der Profitrate steht.
Nimmt man als imaginäres Ziel des Kinos ein totales Erlebnis zu generieren, in dem die Grenzen zwischen Leben und Film zumindest für eine Zeitspanne verschwimmen, so leidet das Kino als in gewisser Weise von Anfang an an der eigenen Unvollkommenheit, und es wird alles als Erlösung begriffen, was auch nur einen kleinen Schritt weiter zur Vollkommenheit der Illusion führt.
Diese technologische Annäherung der Bildermaschine an das Leben ist freilich auch absurd, da sich offensichtlich das Leben schneller kinematografisiert als sich das Kino mit Leben füllen kann. Nicht das Kino, wohl aber der Lebensfilm des Menschen im Spätkapitalismus hat die Grenze zwischen Realität und Fiktion aufgelöst.
Der zweite einfache Grund für den Zwang zur Veränderung ist die Situation des Kinos auf dem Medien- und Bildermarkt.
Definieren wir einmal Kino als öffentliches Angebot eines Bewegungsbildes an einem stabilen Ort. Das Kino ist daher nicht nur mehr als Film, sondern auch anders als Film. Kino ist eine besondere Beziehung zwischen Film und Leben.
Das Kino nun ist zwar einerseits die technische Erfüllung eines langen Menschheitstraums, es befand sich andererseits aber auch immer in einer Konkurrenzsituation. Das Kino musste und muss sich gegen die Zeitung, gegen das Radio, gegen das Fernsehen, gegen die DVD, gegen das Internet behaupten. Immer war die technologische Innovation ein Argument in diesem Konkurrenzkampf der Medien, der gelegentlich auch mit heftigen Mitteln geführt wurde.
Nur zum Beispiel gelang es den amerikanischen Zeitungen in den dreißiger Jahren, den großen Nachrichtenagenturen zu untersagen, das Radio oder die Hersteller von Kino-Wochenschauen zu beliefern. Diese Wochenschauen waren aber vor der Einführung des Fernsehens eine bedeutende Attraktion des Kinos. Auch durch einen erzwungenen Mangel an Hard Facts entwickelte sich die Wochenschau zu einer eigenen Form des Infotainments, ohne die wiederum die spätere Fernsehform des audiovisuellen Infotainment nicht möglich wäre.
Das Kino muss also gegenüber den Konkurrenzmedien drei bedeutende Nachteile ausgleichen:
1. Vergleichsweise lange Produktionszyklen, die ein direktes Reagieren auf News, weder im dokumentarischen noch im fiktionalen Bereichen möglich macht.
2. Vergleichsweise hoher energetischer Eigenanteil der Konsumenten. Ins Kino muss man gehen, Eintrittspreis entrichten, sich konzentrieren, sich informieren, Vorführungszyklen beachten, Lebenszeit investieren etc.
3. Das Kino ist trotz seiner hybriden, demokratischen, durchaus informellen Art Teil einer öffentlichen Kultur, die bestimmte Codes, Sprechweisen, Verhaltensformen, wechselseitige Kontrolle bedingt. An der falschen Stelle zu lachen, seinen Tränenstrom nicht zu bändigen oder sich während der Vorstellung ein Thunfischsandwich mit Zwiebeln zuzubereiten, ist zumindest unschicklich.
Drei widersprüchliche Stategien haben sich gegenüber diesen Nachteilen ständig umkreist. Nämlich einerseits
– diese Nachteile herunterzuspielen.
Zum Beispiel schnelle kleine Filme in Kinos mit geringster Schwellenstruktur zu billigen. Eintrittspreisen und durchgängigem Einlass, in denen bequemes Gestühl immerhin Coca Cola und Popcorn-Verzehr zu erwünschtem Verhalten erklären. Aktualitätenkino oder Grindhouse. Mittelklasse-Vergnügen und Bahnhofskino.
– oder andererseits: Die Nachteile zu kompensieren, indem sie gerade zu Attraktionen werden. Als Großproduktionen mit entrückten Themen in Luxuskinos als festliches Event inszeniert, z.B. „Ben Hur“ oder „Der Herr der Ringe“. Oder anders herum, man mag versprechen, im Gegenzug zum Aktualitätsnachteil Attraktionen zu bieten, die das Konkurrenzmedium nicht bringen kann, das kann Sex & Crime, das kann aber auch Kunst & Anspruch bedeuten.
– Schließlich dritte Möglichkeit: Die Nachteile werden akzeptiert, doch dafür wird gleichzeitig die Belohnung erhöht.
Für die Anstrengung und das erwartete Wohlverhalten wird Teilhabe an einer technologisch-ästhetischen Innovation versprochen. Der progressive Flügel des Bürgertums hat immer schon das Kino auch als technische Leistungsschau und Innovationsmodell mit ausgesprochen unterhaltsamen Zügen benutzt.
Zeit für ein erstes Theorem!
Jedes Medien-Angebot hat einen Aspekt von Novel und einen Aspekt von News. Der Novel-Aspekt fiktionalisiert, mythisiert, überhöht und stilisiert. Der News-Aspekt vergegenwärtigt, konventionalisiert, verbindet und sensationalisiert. Wenn wir annehmen, dass jedes Medien-Angebot einem „kollektiven Traum“ entspricht, dann ist der Novel-Aspekt für den Traum, der „News“-Aspekt für das Kollektive zuständig. Ein Medienmarkt funktioniert, wenn Novel und News – in beidem steckt im übrigen die Idee einer Neuigkeit – insgesamt ausbalanciert und in den einzelnen Angeboten so angelegt sind, dass sich der Konsument die jeweils benötigte Dosierung holen kann. Jede Krise eines Mediums lässt sich unter anderem durch den Verlust der Balance von Novel- und News-Aspekten erklären, und das gilt für Batman-Comics genau so wie für die Tagesschau um 20 Uhr.
Gute Zeiten des Kinos sind demnach Zeiten, in denen es neben dem unbestreitbaren und immer noch einigermaßen einzigartigen Novel-Wert auch einen erheblichen News-Wert hat. Dieser News-Wert wird dem Kino einerseits von außen angetragen. Szenen, Kulte, Moden, manchmal sogar soziale Bewegungen tragen an das Kino Erwartungen, die erfüllt werden können – oder auch nicht. Mehr noch aber wird der News-Wert auch durch das Kino selbst erzeugt. Zu Zeiten funktioniert das durch Skandale, Grenzüberschreitungen, Provokationen, die von der einen Fraktion der Zuschauer als Probe des gesellschaftlichen Konsenses genossen und verfolgt werden. Zum zweiten schafft das Star-System ein bei näherem Hinsehen hoch kompliziertes zirkuläres News-System, das von sexuellen und sozialen Metaphern über Sinnproduktionen bis hin zu einer Metaphysik der Bewegungsbilder reicht. Nicht umsonst reden wir von Filmgöttern, von Sternen am Himmel, von Überlebensgröße. Zur Maschinerie der News-Wert-Produktion des Kinos gehört die Herstellung von Glamour auf Festivals, Preisverleihungen und anderen Events. Die dritte Art aber, in der das Kino eigenen News-Wert erzeugt ist die technisch-ästhetische Innovation.
Jeder Kinobesuch hat also zwei Tendenzen: Man will sich zurückziehen aus einer defizitären sozialen Praxis, gleichgültig ob in einen profanen Raum der Unterhaltung oder in einen sakrifizierten Raum der Kunst oder eben doch, hauptsächlich, in einen Raum der Mittelkultur dazwischen. Und man will teilhaben an einer technologischen, ästhetischen, moralischen und ökonomischen Bewegung. Es liegt auf der Hand, dass diese beiden Wünsche sich auch widersprüchlich zueinander verhalten. So begegnen sich hier beständig nostalgische Regression und erregte Innovationsgier. Daher sind wir einerseits zufrieden, wenn mit den jeweils allerneuesten Mitteln die allerältesten Träume erfüllt werden, wenn uns die avancierteste neue Technologie auf dem direktesten Weg dorthin bringt, wo wir im Innersten hinwollen, nämlich zurück in die Kindheit. Halbwegs zufrieden sind wir aber auch, wenn uns die technologische Innovation des Kinos als technologische Bedrohung im Kino vorgeführt ist, derer wir uns mithilfe unserer Heldinnen und Helden erwehren.
Nun aber, wie versprochen, zum komplizierteren Grund für die Ausweitungen des kinematografischen Bild- und Erzählraumes. Nehmen wir an, der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty habe recht: „Alles, was ich sehe, ist prinzipiell in meiner Reichweite, zumindest in Reichweite meines Blickes, vermerkt auf der Karte des ‚Ich kann’. Jede der beiden Karten ist vollständig. Die sichtbare Welt und die meiner motorischen Absichten sind erschöpfende Teile desselben Seins.“
Was wir Wirklichkeit nennen, ist also nichts anderes als die verlässliche Synchronität von Bild-Raum und Bewegungs-Raum. Und dies vor allem in Bezug auf eine wirkliche Beziehung zwischen einem sehenden und sich bewegenden Subjekt und einem gesehenen und sich ebenfalls bewegenden Objekt. Nennen wir dies der Genauigkeit zuliebe die erste Wirklichkeit. Sie kann gestört werden, durch die Einnahme gewisser Substanzen, durch die Benutzung moderner Hochgeschwindigkeitsfahrstühle, durch unglückliche oder glückliche Halluzinationen und Täuschungen der Augen etc. Grundsätzlich in Frage gestellt werden kann diese Wirklichkeit jedoch nicht. Was darunter, dahinter oder daneben liegt ist Wahnsinn, Religion, Rausch oder arglistige Täuschung.
Sowohl aus dem modernen Krieg als auch aus der Truman Show unseres Kinos wissen wir: Der radikale Wirklichkeitsentzug funktioniert nur, wenn sowohl der Bildraum als auch der Bewegungsraum als auch das Objekt darin gefälscht wird. Daraus entsteht die Idee einer zweiten Wirklichkeit. Sie entsteht, wo der imaginäre Bildraum mit dem imaginären Bewegungsraum auf ein imaginäres Objekt hin synchronisiert wird. Eine solche zweite Wirklichkeit kann nur entstehen, wenn das Subjekt einen Teil seiner Wahrnehmungssouveränität auf einen Stellvertreter überträgt. Das ist, wenn man so will, die höchste Kunst unserer Spiegelneuronen. Ich sehe zugleich ein imaginäres Subjekt und ich sehe mit den Augen dieses imaginären Subjekts. Diese Fähigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass Bilder ein Teil meiner Wirklichkeit werden. Oder, anders gesagt: Dass aus der Synchronisation von Wirklichkeit 1 und Wirklichkeit 2 die neue Wirklichkeit 3 wird. Sie umfasst neben dem Bildraum und dem Bewegungsraum auch den Kommunikationsraum, also den weder sichtbaren noch motorisch erfassbaren Raum, in dem sich Signale bewegen. Nicht nur die Täuschung in der Wirklichkeit, sondern eben auch die Unwirklichkeit lauert daher an allen Ecken und Enden. Die Ur-Erfahrung des Unwirklichen ist die Entkopplung von Bildraum und Bewegungsraum, und die Ur-Heldin solcher Unwirklichkeit ist Alice im Wunderland. Am Anfang ihrer Abenteuer jenseits des Kaninchenbaus und hinter den Spiegeln steht der Wunsch, in einer Welt ohne Text und ohne motorische Disziplin, in einer Welt ausschließlich aus Bildern zu leben.
In einer Welt, in der sich der Bildraum selbständig gemacht hat, verliert auch das Subjekt seine Souveränität. Alice ist riesengroß und zwergenklein, sie verdoppelt oder verflüssigt sich, sie sieht und sieht nicht, wird eingeladen und ignoriert, verfolgt und durchdrungen. Das Wunderland ist zum Teil Hölle und zum Teil Paradies, und wie im Kino geht es darum, am Ende in die Wirklichkeit zurückzukehren.
Die Gleichung von Bild-Raum und Bewegungs-Raum konstituiert unser Sein. Wenn ich also dieses Sein, das wir einfach „Wirklichkeit“ nennen, erweitern will, dann ist es unerlässlich, jeweils mit dem einen auch das andere zu verändern, die beiden Karten des „Ich Kann“ also jeweils so zu verändern, dass sie mit der anderen wieder erschöpfende Teile desselben Seins bilden.
Wirklichkeit existiert, wo Bildraum und Bewegungsraum synchronisiert sind und ein gemeinsames System bilden. Realistisch im allgemeinsten ist ein Bild, das sich perfekt der motorischen Erfahrung anpasst. Autofahrer brauchen Kino. Es kann aber durchaus auch sein, dass eine Erweiterung des Bild-Raumes auf eine Veränderung des Bewegungsraumes hin weist. Kinogänger brauchen Autos. Der Bewegungsraum eines elektronischen Teilchens ist zwar sowohl nachweisbar als auch darstellbar, dennoch wird er nicht Teil meiner Wirklichkeit. Denn nun kommt in der Ausweitung der Bild- und Bewegungszonen etwas ins Spiel, was wir bisher ausgeblendet haben: Der Körper.
Nehmen wir das zwanzigste Jahrhundert sehr vereinfacht als die Epoche, in der sich die Bewegungs- und die Kommunikationsräume am drastischsten verändert haben. Dann wird uns sehr schnell klar, dass wir ohne das Bewegungsbild, ohne die technologische Dynamisierung und Erweiterung des Bildraumes, diese Veränderung weder psychisch noch physisch ertragen hätten. Kino entsteht dort, wo sich der Bewegungs- und Kommunikationsraum verändert. Sehr einfach also benötige ich für die Eisenbahn das Panorama oder für die Automobilisierung das Kino oder für das Telefon den Schnitt. Das Überschallflugzeug muss wenigstens auf dem Jahrmarkt oder im Kino imitiert werden. Die Motorik kann nur, was das Bild vorschreibt, das Bild darf nur, was die Motorik verwirklicht. Unnütz zu sagen, dass Kunst nichts anderes ist als eine einigermaßen gezielte Übertretung dieser Regel. Es gibt Bewegungen, die nicht mehr vorstellbar, nicht mehr bildbar sind. Zum Beispiel die Fahrt in einem Hochgeschwindigkeits-Fahrstuhl auf einen Fernsehturm. Während der Fahrt selber, also jenseits der Phasen von Beschleunigen und Abbremsen, weiß man weder ob man sich bewegt, in welche Richtung oder auch in welcher Geschwindigkeit. Um uns solcher Entwirklichung zu erwehren, setzen die Techniker akustische und visuelle Signale, die eine kinematografische Bewegung simulieren. Der nächste Schritt sind veritable Filme, die eingesetzt werden, um die irreale Bewegung wieder real zu machen.
Das ist nur eines von vielen Beispielen dafür, dass sich die Verhältnisse von Wirklichkeit 1 und Wirklichkeit 2 umkehren. Ich benötige nun paradoxerweise Fiktionalisierungen, um die verlorene Synchronität von Bild-, Bewegungs- und Kommunikationsraum, also: WIRKLICHKEIT, zu rekonstruieren.
Die vertikale Bewegung, die prinzipiell dem menschlichen Empfinden alarmierend erscheint, weil es sich nur um ein Fallen oder ein Geworfen werden handeln kann, eine Bewegung, der aller Erfahrung nach ein ausgesprochen schmerzhaftes Ende droht, also die Reorganisation der modernen Stadt durch den Fahrstuhl, war vielleicht ebenso bestimmend für die Entwicklung der Kinematografie wie das Automobil. Möglicherweise wäre ohne das Kino das Bewohnen eines Hochhauses unmöglich. Ohne Kino kein Tourismus und keine Weltraumfahrt.
In der modernen Entwicklung des Sehens sind zwei Blickformen hinzugekommen, die nicht mehr direkt durch die Karte der Motorik bestätigt werden können, die aber gleichzeitig so bewiesen, ja so grundlegend für die auch alltägliche Wahrnehmung sind, dass es sich weder um Illusion noch um Transzendenz noch um bloße modellhafte Repräsentanz handelt. Es ist der orbitale Blick, der Blick aus dem Weltraum auf die Erde mit einer für das menschliche Auge unvorstellbaren Fähigkeit der Präzision, und es ist der nanotechnologische Blick, der Blick in den Körper, in die Zelle, in die atomare Struktur. Beide Formen des Blicks, die einerseits nachgewiesen real aber nicht mehr der Körperwirklichkeit zugehören, hat das Kino seit den sechziger Jahren angeboten: nanotechnologische und orbitale Wahrnehmung, mikroskopische und astronautische Wahrnehmung sind seitdem fixe Bestandteile unserer zweiten Wirklichkeit.
Eine andere Form, die doppelte Mapping von Blick und Motorik zu überschreiten, ist die Drogenerfahrung, eine kultische und mehr oder weniger zumindest als Alltag verbotene Form der entgrenzten Wahrnehmung. Eine etwas harmlosere Form solcher Entgrenzung ist der Traum, eine weitere die Überschreitung der Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen Diesseits und Jenseits. Alle diese irrealen Formen des Sehens haben eben dies als ästhetisches Programm, nämlich die eigene Irrealität zu erkennen. Man kehrt zurück, man wacht auf, der Wahrnhehmungsrausch verfliegt. Wenn diese Rückkehr nicht gelingt, ist das Subjekt nach allen unseren Vorstellungen entweder an den Wahn oder an den Tod verloren. Das Kino scheint, was die Erzählgrammatik anbelangt, einen Übergang zum Traum zu bezeichnen. In der Psychoanalyse begreift man Träumen als Arrangements von Dingen, die alle letztlich ich sagen und ich meinen. Auch in der Filmerzählung begreifen wir bestimmte plots erst, wenn wir sie als verschiedene Manifestationen ein und desselben Subjekts sehen. Und umgekehrt wird auch das Ding zu einem Ich.
Der Traum-Raum, in dem sich die Bewegung dem Bild unterwirft, ist weniger dreidimensional als vielmehr undimensional. Und es ist vielleicht eben das, was die jüngste Erweiterung des kinematografischen Bildraumes, das 3-D-Kino verspricht. Nicht dreidimensonale Wahrnehmung, sondern traumdimensionale Raumlosigkeit. Vorbereitet ist dies durch jene Traumbilder des Kinos, in denen die Abbildungstechniken und Repräsentationsmuster, Zeichnung, Fotografie und Malerei, Bühneninstallation, Animation und Spielfilm durcheinander geraten.
Der traumdimensionale Hybridfilm funktioniert dort am besten, wo das Stellvertreter-Subjekt mindestens verdoppelt ist, als Mensch und als Karikatur zum Beispiel, oder als Bewohner des Bewegungsraumes und als Bewohner des Bildraumes. Wir finden uns daher in einem Zustand des Träumens, wenn der Bildraum und der Bewegungsraum nicht synchron sind und die fehlende Synchronität nicht durch die Bewegung erzeugt werden kann. Der entscheidende Fixpunkt ist dann: Ich identfiziere mich mit einem träumenden Menschen, oder anders gesagt: ein Ich kontrolliert bzw genießt den Zustand einer Ichlosigkeit. Das Urbild ist die Reise in ein Zwischenreich oder Wunderland, ein sich veränderndes Ich in einem sich veränderndern Raum mit sich verändernden Spiegelungen des Ichs und der alltäglichen Umwelt.
Bislang also bietet das Kino, in Parallelität zu unserer motorischen und chemisch-biologischen Entwicklung die drei Blickweisen an:
1. Identität von Blick und Motorik: Vom Western zum Actionfilm
2. Rationale, technologische Entfernung des Blicks von der Motorik: Vom Telefon-Melodrama zur Science Fiction
3. Irrationale, rauschhafte, wahnsinnige und religiöse Entfernung des Blicks von der Motorik: Vom Horror zum Animationsfilm
Natürlich wird die ganze Geschichte noch viel komplizierter, weil ich all dies sowohl durch den Blick – eine entfesselte Kamera, eine illusionäre Repräsentation – als auch durch das Erblickte ausdrücken kann – den fliegenden Menschen, die Wahrnehmungsmaschine etc. Die Ordnung der Kino-Bilder besteht darin, dass letztendlich alles, auch der wildeste Ausflug sowohl rational als auch sinnlich zurück geführt werden kann auf die Grundgleichung der Wirklichkeit, also der von Blick und Motorik.
Mit der Entwicklung des digitalen Bildes indes kommt es zu mehr als einer neuerlichen Erweiterung, einer weiteren Ausflugszone der Wirklichkeit, nämlich zu einer Veränderung der Wirklichkeits-Grundgleichung selber. Das virtuelle Bild nämlich kommt zugleich mit einer virtuellen Motorik. Der digitale Raum wird erzeugt, indem ich mich durch ihn bewege. Diese Gleichung ist in der Tat dazu angetan, im Augenblick eine Hyper-Realität zu erzeugen, eine Wirklichkeit, die wirklicher ist als die Wirklichkeit. Statt Rekonstruktion von Wirklichkeit 1 die totale Konstruktion von Wirklichkeit 2.
Das digitale virtuelle Bild kann deshalb der Grundgleichung von Blick und Bewegung so perfekt folgen, wie es nicht einmal die Wirklichkeit selber kann, weil es kein reales Vor-Bild mehr benötigt, Blick und Bewegung immer in einem erzeugt. Es ist ein Bildraum, der augenblicklich verschwindet, wenn die Bewegung aufhört. Die Realität existiert nachhaltig weder im Raum noch im Bild, sondern nur in der Bewegung. Der Begriff des Bewegungsbildes muss nun anders verstanden werden. Es ist weder das Bild der Bewegung noch ist es das Bild in Bewegung als vielmehr das durch die Bewegung erzeugte Bild.
Man könnte argwöhnen, dass diese Möglichkeit schon immer im Kino steckte und eines der Versprechen war, die auf der Suche nach André Bazins „totalem Kino“ erfüllt werden mussten. Tatsächlich ist das durch Bewegung erzeugte Bild längst auf den fotografischen Prozess zurück gesprungen; nicht nur digitale, sondern auch analoge Bilder scheinen nun so aussehen zu wollen, als seien sie ausschließlich durch Bewegung erzeugt. Deswegen können wir uns in einer digitalen Bildwelt dem 3-D-Effekt und dem, was wir Traumdimension genannt haben, so leichten Herzens hingeben, wie es beim Umgang mit dem vorgefundenen, inszenierten und real-fotografischen Materialien offensichtlich immer nur drei Varianten der Empfindung gibt: 1.) Faszination, entweder durch Überraschung oder durch die leicht delirierende Wirkung eines Bildes, das neue Energien beim Dechiffrieren frei setzt.
Übrigens zwingt, um überhaupt lesbar zu bleiben, diese 3-Dimensionale Erweiterung des Bildraumes dem Kinematografen einen Rhythmuswechsel auf: Das Bild muss einfacher werden – weniger Elemente, klarere Zuordnungen. Der Bildwechsel muss langsamer vonstatten gehen, nicht nur, weil die Lesedauer eines 3-dimensionalen Bildes größer ist, sondern auch, weil das menschliche Auge eine Zeit braucht, um sich nach einem Bildwechsel wieder an die Polarisation zu gewöhnen. Auch solche Verzögerungmomente werden Teil der Bilddramaturgie. Und schließlich müssen Einstellungen wiederholt werden, damit der Effekt verarbeitet wird.
Wer erinnert sich nicht an die 3-D-Filme der fünfziger Jahre, in denen die armen Indianer so lange brennende Pfeile auf das Publikum abschießen mussten, bis ihnen die Hände und den Zuschauern die Augen schmerzten, oder an die 3-D-Horrorfilme der siebziger Jahre, in denen jemand wie Andy Warhols Frankenstein einem immer wieder Blut und Gedärm vor die Augen spie. Denn in der Wirklichkeit muss ich die Einheit zwischen Bild und Motorik immer erst erschaffen und überprüfen. Die Dreidimensionalität ist im richtigen Leben genau das nicht, was es im Kino bislang fast ausschließlich ist: ein Effekt.
Der zweite Impuls des Bildes im Traumdimensionalen 3-D ist also der Effekt der Bedrohung. Diese Angst, das Bild könne Teile seiner Elemente aus dem Bildraum des Kinos in den Lebensraum des Zuschauers schleudern. Angeblich soll dieser Effekt ja schon in der Frühzeit des Kinos die Zuschauer aus dem Raum getrieben haben, weil sie fürchteten, von einem einfahrenden Zug überrollt zu werden. In Wahrheit haben wohl genau so wenig Zuschauer des Jahres 1909 vor dem Film Reißaus genommen wie heute das Multiplex-Kino verlassen, bloß weil beim „Bloody Valentine“ die Monster von der Projektionsfläche den Zwischenraum von Blick und Bild zu erobern scheinen. Der Effekt ist an den Augenblick gebunden. Aber diese Hyper-Realität ist sogleich genau so radikal verloren, wenn ich sie zu erinnern oder zu antizipieren versuche. Der digitale Raum verschwindet mit dem Innehalten der Bewegung und umgekehrt verschwindet mit dem Raum die Illusion der Motorik. Daher erzeugt sich in der kinematografischen Traumdimensionalität so rasch der dritte Impuls: Das Groteske. Die Lächerlichkeit. Das Kindische. Die Gewöhnung.
So ist die Erweiterung des Bildraumes durch die 3-D-Techniken gebunden an die gleichzeitige Erweiterung des praktischen, gleichwohl virtuellen Bewegungsraumes. Möglicherweise benötigt das moderne Schachtel-System des Büros mit seinen labyrinthischen Beziehungen, der Fensterlosigkeit und den seltsamen Attraktoren der Besprechungsknoten, also das vollständige Verschwinden von Raum und Bewegung in der Mensch/Kommunikationseinheit Computerarbeitsplatz ebenso sehr den dreidimensionalen Film, der nun weniger Bedrohung als Flucht verspricht, wie, sagen wir, die soziale Praxis eines Großraumbüros einen Breitwandwestern nötig gemacht hat.
Kapitel zwei: Fahrplan der kinematografischen Karten. Jetzt neu! Noch unübersichtlicher. Oder übersichtlicher!
Wie man es nimmt. Jedenfalls haben es Fahrpläne so an sich, dass sie nur begrenzt lesbar sind. Von verspäteten Anschlüssen, Gleisänderungen, Behinderungen durch Baustellen, Unfällen und Zugausfällen wollen wir gar nicht reden.
Erster Anschluss: Erweiterungen des Kino-Raumes auf dem Markt:
1. Merchandising, Medienmultiplikation und Crossmarketing
Erfolg verspricht, was den Bild-Raum Kino überschreitet und in andere Medien- und Markt-Räume eintritt. So wird die Kinoleinwand zur größten Werbe-Projektionsfläche für Imaginationswaren.
2. Die Endlosschleifen der Selbstreferenz nach dem Niedergang des Genre-Kinos: Sequel, Serie, Remake, Hommage und Parodie
Die Film-Erzählung überschreitet den dramaturgischen Rahmen einer Kino-Vorstellung, ohne in die alltägliche Wiederkehr einer Fernsehserie zu verfallen. Sie verzweigt sich dabei nicht nur linear im Sinne des „Fortsetzung folgt“ oder im Sinne des technologisch Renovierten, sondern auch im imaginären Raum des Popcorn-Universums. Das Internet ist offensichtlich zum neuen und effektiven Resonanz-Raum für das Kino geworden, das den Novel-Aspekt des Mediums mit News-Werten auflädt.
3. Hybridformen, Nomadische Bilder & Crossover
Für das Medium ist die Kinematografisierung der Kultur eine ambivalente Angelegenheit. Wenn Bücher schon geschrieben werden wie Film-Scripts, Fernsehserien nur auf eine Kino-Version hinauslaufen und Computerspiele eine Ausweitung ihrer Erzählteile auf die große Leinwand zu verlangen scheinen, dann existiert diese Bewegung auch immer in der anderen Richtung: Bücher, Spiele und Serien ersetzen kinematografische Erfahrungen.
4. Die Vermarktungskette und das Heimkino als neuer kinematografischer Raum
Wie wir wissen, wird mit den Filmen seit gewisser Zeit der größte Gewinn nicht mehr in den Kinos, sondern mit der Vermarktung auf DVD gemacht. Aus einem Zusatzgewinn ist das Kerngeschäft geworden, doch gerade dieses leidet besonders unter dem Preisverfall. Das Bewegungsbild ist daher auf einer fast verzweifelten Suche nach den Orten der Amortisation. Damit ändert sich bereits die Produktion; der Film muss allen möglichen Vermarktungsstationen gerecht werden: Kino – Pay TV – DVD – Free TV – Blue Ray Special Edition – Download on demand. Einerseits muss der kommerzielle Film der Zukunft die Mitte der Gesellschaft erreichen, also eine größtmögliche Öffentlichkeit, andererseits muss er sich in die Strategien der Intimisierung einpassen.
5. Der nie zu Ende gedrehte FILM
Ist die Digitalisierung von der Produktion bis zum Konsum einmal vollzogen, gibt es für einen Film keinen zwingenden Grund mehr, sozusagen mit sich selbst identisch zu bleiben. Er kann sich zunächst von Version zu Version verändern, kann sich verzweigen mithilfe von alternativen Szenen und, besonders beliebt, alternativen Enden, um schließlich mit einem vorgegebenen Bildmaterial nichts anderes zu tun als das, was der Konsument selber wünscht. Der Film muss dann seinen Vermarktungszyklus selber dadurch anheizen, dass er bei jeder Station einen Neuigkeitswert verspricht: Zusatzmaterial, Director’s Cut, Extended Version, alternatives Ende, uncut. Das alles sind Vorboten eines Films, der nie zu ende gedreht ist und immer neue Versionen und Varianten erzeugt. Am Ende verfügt der Konsument über einen Film, was ihm ein Gefühl von Wahlmöglichkeit oder Entwicklung gibt: Das Bewegungsbild vermittelt die Illusion, ähnlich wie es im Videospiel aufgrund des Könnens geschieht, durch die Kraft des Wollens selber bewegt werden zu können. In Wahrheit, wir ahnen natürlich auch das, drehen sich die Bilder des Begehrens und die begehrten Bilder nur vor unseren Augen im Kreis herum.
Zweiter Anschluss: Erweiterungen des Kino-Raumes im Bild
1. Was bisher geschah: Ton, Farbe, Breitwand
Die Innovationszyklen des Kinos sind zum einen in Zusammenhang gebracht worden mit diversen anderen Zyklen der Ökonomie, der Demographie, der Kämpfe um die kulturelle Hegemonie zwischen High und Low, universalen und provinziellen Impulsen. Zum anderen gehorchen sie gleichzeitig dem linearen Fortschritt auf das, was André Bazin „den Mythos des totalen Films“ genannt hat und entsprechen den Veränderungen der Bewegungs- und Kommunikationsräume. Da diese Veränderungen nach dem Prinzip des Trial and Error funktionieren, stehen ökonomisch und kulturell gelungenen Innovationen ebenso viele desaströse Sackgassen gegenüber: frühe Versuche mit der erweiterten Leinwand ebenso wie die beiden ersten Anläufe zum 3-dimensionalen Bild. Da jede große Innovation einen technologischen Umbau der gesamten Abläufe von der Produktion bis zur Projektion erfordert, gibt es dabei auch stets ökonomische Verlierer und ästhetische Verluste.
2. Entfesselte Kamera, Effekt-Montage
Die Synchronität von Bildraum und Bewegungsraum wird im Kino einerseits durch den Blick, durch die Einstellung, und andrerseits durch die Bewegung der Stellvertreter-Subjekte erzeugt. Kino-Sehen ist eine Abfolge von Verschmelzungen, Distanzierungen, neuen Verschmelzungen und neuen Distanzierungen. Verschmelzung und Distanzierung steigern sich aneinander, so dass immer stärkere Impulse der Verschmelzung auch immer stärkere Impulse der Distanzierung hervorbringen. Das ist einerseits: Immer mehr fliegen, durch immer entdimensionalisierten Raum, und andrerseits, immer mehr festen Boden unter den Füßen und ordentlich strukturiertes Gelände.
3. Special Effects im digitalen Zeitalter
So wie eine klassische Film-Erzählung aus der linearen Montage der großen Syntagmen entstand, Bild, Einstellung, Sequenz, Szene, Akt, so entsteht der hybrid-digitale Film aus der räumlichen Montage der Paradigmen: realer Mensch – digitales Monster, Mimik – Farbeffekt, materieller Bewegungsraum – virtueller Bildraum, Bildkomposition – akustischer Raumeffekt etc. Wir haben es mit einem generell differenten Leseverhalten zu tun. Lange bevor man nun einen erneuten Anlauf auf eine zwingende dreidimensionale Neugestaltung des kinematografischen Erzählraumes nimmt, ist die Dechiffrierung des Bewegungsbildes bereits in die Blickachse verschoben. In der einfachsten Weise verwandle ich in der Ego-Shooter-Perspektive den Raum bedrohlich, er ist nicht mehr vor mir sondern um mich, und er ist prinzipiell feindlich. Es scheint zwar ein Widerspruch in sich, aber der Special Effect ist stets erst dann wirklicher Teil der Kinematografie, wenn er seine Effekthaftigkeit überwunden hat.
4. Dreidimensionalität
Auch der Schritt zur neuen Dreidimensionalität wird aus den erwähnten Gründen vorgenommen: Weil es technisch möglich ist, weil es Konkurrenzvorteile bringt (möglicherweise eine Umstrukturierung des Kinomarktes im Interesse der großen Konzerne, möglicherweise auch Vorteile bei den globalen Copyright Wars um Kopie und Piraterie) und weil man hoffen kann, der neue Kinoraum entspräche neuen Verhältnissen in der Grundgleichung zwischen Bildraum, Bewegungsraum und Kommunikationsraum. Man mag dabei davon ausgehen, dass die Bedeutung des Kommunikationsraums gegenüber dem Bewegungsraum so sprunghaft gestiegen ist, dass dieser einen ersten Platz in der Konstruktion von Wirklichkeit einnimmt. So unternimmt das neue Kino eher eine Synchronisierung des Bildraumes mit dem Kommunikationsraum als mit dem Bewegungsraum. Anders gesagt: Die Bewegung selbst ist das primäre Illusionsziel, dem sich Bild und Kommunikation unterordnen, so wie wir uns ja auch im realen Leben an die illusionäre Bewegung gewöhnt haben, im Sport, im Tourismus, als soziale Performance. Bewegung, die vor allem sich selbst bedeutet.
5. Entgrenzung des Kino-Raums, Holographie am Originalschauplatz, der virtuelle Themenpark
Natürlich ist das traumdimensionale Leinwand-Bild, dem wir uns mit Hilfe der mehr oder weniger bescheuerten, mehr oder weniger autistischen Polarisationsbrillen aussetzen, wiederum nur ein Zwischenschritt. Über kurz oder lang wird das dreidimensionale Bild sich mehr oder weniger kontrolliert durch den Raum selbst bewegen, als holografische Bewegungsskulptur, und so wie wir bereits heute in der Höhle von Altamira holografische Urzeitmenschen bei der Zubereitung eines Bison-Mahles sehen und uns übrigens von dem bedrohlichen Impuls abhalten, diese Höhle real zu betreten und damit auf Dauer zu zerstören, so werden in absehbarer Zeit reale Denkmäler oder mehr oder weniger reale Modellwelten mit holografischen Bilderwesen bevölkert sein. Dieses Bild kann zweifellos schnell lernen, auf „Berührungen“ zu reagieren, Unterbrechungen durch visuelle oder akustische Signale aufzunehmen und mit gewöhnlichen Menschen zu interagieren. Im letzten Schritt wird der Avatar ein Bewusstsein entwickeln, und genau davon träumt der dreidimensionale Science Fiction-Film von heute: Jede Erweiterung des kinematografischen Bildraumes enthält als Hoffnung und als Drohung des totalen Kinos, dass das abgespaltene, projezierte Leben als neue Wirklichkeit ins Leben zurückkehrt. Science Fiction ist Blödsinn. Aber es ist der Blödsinn, der uns beschäftigt.
Dritter Anschluss: Erweiterungen des Erzähl-Raumes
1. das postmoderne Kino
In den achtziger Jahren begann auch im Mainstream-Kino eine Bewegung, die man wahlweise als mythische Entleerung, Sieg des Design über die Erzählung oder als dramaturgische sophistication der Kino-Erzählung verstehen kann. Die Mehrfach-Codierungen und die selbstreflexiven Anteile jedenfalls durchbrachen kulturell gesehen das duale Prinzip der Rezeption: Verstehen oder Nicht-Verstehen, Akzeptieren oder Ablehnen, Identifizieren oder Distanzieren, Unterhaltung oder Kunst, Emotional oder intellektuell usw. Für eine Zeit schien es, als wäre im Kino der Kampf um die kulturelle Hegemonie nicht durch eine ewige Neuordnung von Schmuddelkino, Mainstream und Arthouse, sondern durch ein vergleichsweise intelligentes Ineinander der verschiedenen Impulse gelöst. Zu dem wenigen was davon geblieben ist, gehört die Mehrfach-Codierung im Family Entertainment: Kids, Teenager und Erwachsene bekommen unterschiedliche Entertainment-Partikel in einem gemeinsamen Event.
2. Nichtlineare Erzählweisen
Die postmoderne Ausweitung der Erzählräume und ihr spätes Echo in den Mainstream-Produkten erzeugte indes ein Faible für mehr oder weniger ironisch gebrochene Erzählweisen. Die Kino-Story verweigerte ihre Synchronität mit der Logik der History, der Logik der Biographie und der Logik der Repräsentationen. Damit meldet, zum ersten Mal auf lustvolle und meta-moderne Weise, der Bildraum Zweifel an der Realität des Bewegungsraumes an. Und noch einmal können wir die nichtlineare Erzählweise auch als Prophetie der neuen Gleichung von Bild, Bewegung und Kommunikation deuten: In der nichtlinearen Erzählweise werden die Elemente eines Drehbuches gleichsam nicht auf einer Linie sondern im Raum angeordnet. Jeder Perspektivwechsel lässt sie daher in einer veränderten Beziehung zueinander erscheinen. Der plot point ist nicht mehr so sehr eine dramatische Veränderung der Richtung als vielmehr eine Verzweigung oder eine Verspiegelung.
3. Endloses Labyrinth: Multimediale Erzählwelten
Über die multimedialen Vermarktungen und das Merchandising hinaus entwickelt sich eine Bewegung, immer mehr mediale und reale Orte mit kinematografisch erzeugten Phantasmen zu besetzen. Aus dem Ort der Traum-Konzentration wird auf diese Weise eine semiotische Schleuder-Einrichtung. Dabei fällt es uns ausgesprochen schwer, echte Hypertexte von Hypertext-Camouflagen zu unterscheiden.
4. Mehrfachcodierung & Family Entertainment
Die aufgefangenen Partikel müssen wiederum in die Mittel-Kultur der Bürgerfamilie integriert werden. Der Mainstream-Film fängt dabei neben den zerbrochenen und selbstreferentiellen Elementen am Rande der Lesbarkeit auch wieder Partikel der guilty pleasures und der Transgression auf. Im erlaubten Simpsons-Film darf man über Szenen lachen, die man nur versteht, wenn man verbotene Filme gesehen hat. Im Family Entertainment werden die geheimen Geheimnisse, die Familienmitglieder unter einander haben, zu offenen Geheimnissen. Family Entertainment funktioniert also keineswegs nur als Erweiterung des kinematografischen Kult-Raumes über die Generationen, Geschlechter und Klassen hinweg, sondern auch als Integration von Dissidenz und Verletzung. Das Konzept ist zugleich so perfekt und so perfide, dass wir es zu hinterfragen verabsäumt haben.
5. Die Rolle der Ironie
Alle diese Erweiterungen des kinematografischen Erzählraumes sind nicht zu haben, ohne dass die verpflichtende Mythologie des mehr oder weniger totalen Kinos sowohl semiotisch als auch moralisch gelockert wird. Akzeptabel sind daher nicht nur die Brüche und Neuerungen, sondern vor allem die feste Verankerung des Bildraumes mit den Interessen der Wirtschaft allein durch diese Ironie. Im Kino lernen wir gute, ironische und selbstironische Insassen des Kapitalismus zu sein.
Vierter Anschluss: Erweiterungen der Filmkunst
1. Vom Autorenfilm zum Künstler-Film
Der dissidente Film der Zukunft wird, so wie die Dinge stehen, eher im white cube als in der black box zu hause sein. Neben den traditionellen Autorenfilmer, der das Kino also seine Kunst benutzt, werden zunehmend bildende Künstler treten, die das Kinematografische als selbstverständliche Erweiterung ihrer Kunst verstehen.
2. Film und Medienkunst
Umgekehrt wird das Kinematografische auch als Ausgangsmaterial künstlerischer Prozesse erkannt, und so führt die Erweiterung des Kinos in den Raum der Kunst schließlich das Kinematografische wieder in seinen verlorensten Raum zurück, den öffentlichen Raum.
3. Der begehbare/wandelbare/interaktive Film
Das Kinematografische ist längst Teil aller performativen Künste, Theater, Tanz, Musik, es breitet sich, anders als im Illusionsraum Kino, hier auf andere Weise dreidimensional aus, verlässt die Gefängnisse von Leinwand und Bildschirm und entwickelt sich zu einer Raum- und Zeit-Skulptur.
4. Black Box/White Cube
Die Erweiterung der Kunst durch das Kinematografische und die Erweiterung des Kinematografischen durch die Kunst erzeugt einen neuen Diskurs jenseits der Kino-Kulturen und jenseits der globalen kinematografischen Markt- und Copyright Wars. Hier wird es ausdrücklich nicht mehr um eine konsensuelle und konventionelle Synchronisation von Bildraum, Bewegungsraum und Kommunikationsraum gehen, sondern im Gegenteil um fundamentales Fragenstellen und Infragestellen.
5. Malerei, Fotografie & Film
Als gleichberechtigter Teil eines Kunstprojekts dreht das Kinematografische sein Verhältnis zur Welt um: Statt der Synchronisation von Bildraum, Bewegungsraum und Kommunikationsraum zu dienen, stellt es die Frage, warum diese Synchronisation so gründlich verloren ging oder vielleicht schon immer eine durch Macht und Technik erzeugte Illusion war. Aber es war schon immer Strategie, Vorrecht und Notwendigkeit der populären Kultur im allgemeinen und der Kinematografie im Besonderen, Illusionen zugleich zu erzeugen, zu entlarven und neue zu erzeugen.
Kapitel drei: Nachhall über Sakrifizierung und Profanierung
Das Kino hat ursprünglich unter vielem anderen auch den Widerspruch zwischen Profanierung und Sakrifzierung der kulturellen Kommunikation überwunden. Was das Theater anbelangt so gab es über zwei Jahrhunderte eine Konkurrenz zwischen dem volkstümlichen oder proletarischen Theater, in dem der Zuschauer keineswegs den eigenen Körper ausschalten sollte oder musste. Man aß, man sprach, man schlief, man tanzte,man bewarf den Schauspieler mit Abfall, gerade wie es einem beliebte. Das Theater an sich war eine Performance gegen die Vornehmheit, oder wenn man so will, gegen die Macht. Umgekehrt konnte sich das bürgerliche Theater, kein Vergnügen sondern eine Sinnvergewisserung, gegen solche Revolten nur durch die eigene Sakrifizierung retten. Der Zuschauer musste während der Vorstellung seinen Körper ruhig stellen. Das Ruhigstellen des Körpers übernahm im Kino die Technik; kulturelle Sakrifizierung war weder nötig noch erwünschenswert.
Offensichtlich freilich ist das Geschehen auf der Leinwand und der Grad an Ruhigstellung des Körpers eine erneute Ableitung der Gleichung zwischen Blick und Motorik. Das hat sicher auch Auswirkungen auf die Erzählweisen des Films. Ein Bollywood-Film hat seine hybride Erzählweise unter anderem auch deswegen, weil er nicht mit einer totalen Ruhigstellung des Körpers im Zuschauerraum rechnet.
So erkennen wir auch in der Entwicklung der Kinematografie Aspekte der Profanierung und der Sakrifizierung, und zwar beides in einem kulturellen und einem technologischen Sinn. Eine Plansequenz beispielsweise könnte als Mittel einer künstlerischen Sakrifizierung gelten, das Benutzen einer Polarisierungsbrille als technologisches Mittel der Sakrifizierung. Hybridformen, Tempowechsel, Mitmach-Effekte, Identifikationen, comic relief etc. sind kulturelle Mittel der Profanierung, Öffnungen der Kino-Räume, Ess- und Trinkerlaubnisse, Ent-Zentralisierungen der Erlebnisse etwa durch Sensorround, Beegungsfreiheit im Zuschauerraum etc. sind technologische Mittel der Profanierung.
Profanierung bedeutet: Soziale Entgrenzung, Veralltäglichung, sinnliches Vergnügen statt intellektueller-ästhetischer Anstrengung.
Sakrifzierung bedeutet: Bindung an Stand und Bildung, Festtagsglanz, intellektuell-ästhetische Bereicherung statt direkter sinnlicher Wunscherfüllung.
Mittelkultur entsteht einerseits die Übernahme abgeschwächter Elemente aus der Profanieriúngs wie aus der Sakrifizierungssphäre. Sie bedeutet andrerseits moralische und rationale Filtrierung: An die Stelle des Guten, Wahren und Schönen tritt das Nützliche, das Realistische und das Angenehme; an die Stelle des Geilen, Blutrünstigen und Geschmacklosen tritt das Frivole, das Melodramatische und das Lustige. Mittelkultur atmet schwer, sie fühlt sich ständig von beiden Seiten erdrückt und sie versucht sich ständig auszubreiten. Insbesondere in den USA galt lange Zeit das Kino nicht nur als Erzeugnis sondern sogar als Erzeuger der Mittelkultur. Spätestens in den siebziger Jahren war diese Funktion nicht mehr haltbar.
Während die kulturelle Sakrifizierung nach wie vor an bestimmte soziale Parameter gebunden ist, an Bildung, an das Interesse, kulturelle Distanz zu bilden, an den Glauben an kulturelle Bereicherung etc., ist die technologische Sakrifizierung eher an Kräfte wie Generation und Interesse gekoppelt. Technologische Sakrifizierung entsteht durch die Verbreitung spezifischen Expertentums, Eingeweihtheit und, wir erinnern uns an den Beginn, durch erhöhten News-Wert des gewählten Mediums.
Ein sehr einfacher Zusammenhang zeigt sich bei der klassischen Entwicklung von Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, die sich zunächst in der sakrifizierten Form anbieten, um sich dann einer vor allem auch ökonomischen Profanierung zu unterziehen. Die Sachen, die eben noch sensationell waren, und entsprechend bestaunt wurden, werden gewöhnlich und billig. Unter anderem ist dies einer Schwäche der bürgerlichen Mittelkultur geschuldet.
Alle Innovationen sind daher für den technologisch sakrifizierten Raum Kino zwiespältig. Entweder scheitern sie an der notwendigen Sakrifizierung – wir können auch Isolation dazu sagen – oder die ökonomische Profanierung findet an anderem Ort statt, im Fernsehen oder in den digitalen Medien zum Beispiel. Das hat vergleichsweise geringe Bedeutung für die Kinematografie-produzierenden Konzerne, erhebliche Bedeutung indes für den sozialen und kulturellen Raum Kino.
Die oft etwas verschämt geführte Debatte um die Zukunft des Kinos umfasst unter anderem die darum, ob das Projekt einer räumlichen Sakrifizierung überhaupt noch durchführbar ist, wenn sie nicht den Charakter des events hat.Das Event nämlich, zum Beispiel ein Festival, hat als paradoxes Wesen eine gleichzeitige Profanierung und Sakrifizierung.
Eine weitere Methode der Sakrifizierung innerhalb der populären Kultur ist eben das, was wir KULT nennen. Schlicht gesprochen eine kanonisierte Erzählung innerhalb einer verpflichtenden Ikonographie mit einer strukturierten Fan-Gemeinde: Endlos-Kulte wie Rock’n’Roll oder Star Wars, ständig renovierte Kulte wie Pop oder Batman.
Die Kernfrage wird also sein: Welche Rolle spielt in Zukunft das Kino nicht nur als Kultstätte, sondern als Stätte innerhalb von Kulten. Und erst aus ihr leitet sich die Frage ab, welche technologischen und ästhetischen Veränderungen dieser kulturellen Funktion nutzbar sind und welche nicht.
Der Kult-Status ist erreicht, wenn etwa fünf Kriterien erfüllt sind:
1. Immunität gegen äußere Kritik
2. Anverwandlung des Kultes in die äußere Erscheinung des Followers
3. Ausprägung innerer Wissens- und Sinnzusammenhänge, Experten, Enzyklopädien, Theologien etc.
4. Waren-Akkumulation, Merchandising, Cross-Mediale
5. Ent-Ironisierung
Es ist offensichtlich dass der Kult-Charakter einer medialen Produktlinie einerseits einen großen Vorteil für die Anbieter und Produzenten bietet, andrerseits aber auch entropische Effekte fördert. Früher oder später schrumpft der Kult aufs semantische Sektierertum.
Wir haben nun also drei Polarisationsfelder für die Ausdehnung und zugleich Begrenzung des Kinematografischen: Das Polarisationsfeld Novel – News. (Also Abtauchen ins fiktionale Traumreich versus Verbundensein mit anderen Konsumenten und Followern) Das Polarisationsfeld Profanierung – Sakrifzierung. (Also Zugänglichkeit versus Wertschätzung, Begehren versus Sublimierung, bei alledem die ewigwährende Suche nach dem Ausgleich, unter anderem in der Mittelkultur.) Und schließlich das Polarisationsfeld Kult – Mainstream. (Das Empfinden einer durch Zeichen, Bilder und Sprache erzeugten Gemeinschaft anzugehören versus das Empfinden, den Raum allgemeiner Glückseligkeit zu betreten.)
Der Star ist das einzige Zeichen-System, das die beiden widerläufigen Entwicklungen, ewiger Kult und aktuelles Dabeisein, noch einmal zusammenbringt. Er ist News und Novel zugleich, er benötigt sowohl den Status eines „Prominenten“, der gleichsame seine eigene Serie, sein eigener Nachrichten- und Bilderfluss ist, und er benötigt den Status einer Kunstfigur, eine Besetzungsdramaturgie, die ein Heldenbild erzeugt. Beides zusammen bildet ein Image, als eine Verknüpfung des sozialen Raumes mit dem Bildraum.
In der Mittelkultur haben wir niemals vom Kino gesprochen, ohne von Stars zu sprechen. Wir wissen nicht einmal, ob das Kino für die Stars oder die Stars für das Kino da sind.
Interessanterweise nun erscheinen die technologische und die soziologische Ausdehnung des Kinos einander entgegen gesetzt. Anders, und zwar in einem Beispiel gesagt: Ein Star ist nicht dreidimensional. Und Dreidimensionalität erzeugt keinen Star.
Wie schon bei der Digitalisierung hat man auch den Einsatz der Dreidimensionalität zumindest in Hollywood auch als Methode gesehen, den Einfluss und den Kostenfaktor des Stars zu senken. Digitale Filmdarsteller, so hieß es, zicken nicht, verlangen keine Beteiligung an Einspielergebnissen, machen alle Stunts ohne Murren und ohne Versicherungspolice und treten nie in Streik.
Unabhängig also von der technologischen Entwicklung sind drei Fragen entscheidend für die Ausweitung des Kinos:
Erstens: Kann das Kino seine Codes und Verhaltensweisen dieser Technologie anpassen? Im Klartext: Wird sich ein Mainstream-Publikum nicht nur an das Tragen unkleidsamer, uncooler und unbequemer Polarisationsbrillen gewöhnen, sondern auch an den Verlust von Star und Image? Wird man die Über-Ergriffenheit akzeptieren, den vollständigen Verlust der ursprünglichen Raumerfahrung, die totale Auslieferung etc.? Eine vorläufige, ausgesprochen geschickte strategische Antwort etwa bei den Pixar-Filmen ist der dezente, zurückhaltende und punktuelle Einsatz. 3-D-Effekte werden dort eingesetzt, wo sie in der Story und in der Entwicklung der Charaktere etwas zu sagen haben. Damit wird ziemlich radikal mit dem Einsatz in den beiden 3-D-Wellen zuvor gebrochen. Der Drei-D-Effekt gerät vom Status eines durchlaufenden Paradigmas in den eines sinnvollen Syntagmas. Im nächsten Schritt also wird dieser 3-D-Effekt der Story nicht mehr nur etwas hinzufügen, sondern Teil der Bild-Erzählung selber sein. Die Technik also hat sich dann durchgesetzt, wenn das Raumbild nicht mehr Effekt sondern Teil der Sprache des Kinos ist. Und das wiederum ist sie, wenn sie Teil der Grundgleichung Bild, Bewegung und Kommunikation geworden ist.
Die zweite, vermutlich aber doch damit verbundene Entscheidung betrifft die Möglichkeit, im dreidimensionalen Bildraum „erwachsene“ und realistische Geschichten zu erzählen. Im Augenblick scheint es, sehr verwandt dem Beginn des digitalen Kinos, dafür nur zwei Möglichkeiten zu geben: nämlich die Auflösung im Kindlichen, als Kompositionselement des Family Entertainment also. Oder als Selbstreferenz: Dreidimensionale Filme erzählen von dreidimensionalen Illusionen. Wir erinnern uns: Als realistisch haben wir die Vorstellung angesehen, dass Bildraum und Bewegungsraum synchron sind. Der klassische Kino-Bildraum, der ja nie ein zweidimensionaler war, sondern ein zweieinhalb-dimensionaler, das heisst ein zweidimensionales Bild voller Raum-Illusionen, hat diese Synchronisationspflicht beständig einigermaßen erfüllt, und dies am Ende eben doch vorwiegend im Interesse der bürgerlichen Mittelkultur. Nicht zuletzt hat er uns dabei geholfen, durch eine gewisse Kinematografisierung die Brüche in unseren Bewegungsräumen bildhaft zu überwinden. Das heißt, das dreidimensionale Kino, das noch mehr das wirkliche Leben nachahmt als es die gewöhnlichen Verfilmung schon tut, ist zwar totaler aber keineswegs realistischer.
Anders gesagt: Je realistischer ein Sujet im klassischen Sinne ist, desto überflüssiger ist ein 3-D-Effekt.
Wenn wir die Lindenstraße in 3-D sehen würden, dann hätten wir vermutlich nur mehr das Gefühl, uneingeladene Gäste am Ort höchst unangenehmer Trivialität zu sein.
Für die Möglichkeit mit den Bildern umzugehen, spielte auch eben dieser leere Raum zwischen mir und der Leinwand eine bedeutende Rolle, der durch den 3-D-Effekt verschwindet. Der Effekt, eben soweit er sich als Effekt versteht, ist eine mehr oder weniger spektakuläre plötzliche Verbindung zwischen Bildraum und Lebensraum durch eine Bewegungssimulation.
Der einfache Effekt: Etwas fliegt auf mich zu. Etwas verlässt den zweieinhalbdimensionalen Bildraum, um zu drohen, nicht mehr nach den Gesetzen des Bildraumes, sondern nach denen des motorischen Raums zu funktionieren. Wo nämlich, wie wir wissen, zwei träge Massen nicht an einem Ort sein können. Diese Grenzüberschreitung simuliert eben jenen Vorgang der Grenzüberschreitung zwischen Bühne und Zuschauerraum, der für das radikal profanierte Theater ebenso typisch ist, wie auf einer anderen Ebene für die Entgrenzungen der yellow press, des Vaudeville, des frühen Melodramas. In allen diesen Fällen gehört es zur Inszenierung, dass unflätige Alltäglichkeit den Bühnenraum überflutet. Profanierung und Sakrifizierung sind schließlich immer nur als auf einander bezogene Positionen im Kampf um die kulturelle Hegemonie zu verstehen.
Anders gesagt: Die Effekt-3-Dimensionalität im Kino ist nichts anderes als eine Karambolage zwischen Bildraum und Motorischem Raum. Die absurde Folge ist zunächst, dass die Berührung der beiden Räume die Synchronität aufhebt. Und dadurch wird nicht die Illusion total, sondern vielmehr das schlafende Subjekt im Zuschauerraum geweckt. Es ist beeindruckt, berührt, bedroht, aber es weigert sich, obwohl es sich hinter der Brille gegen das reale Umfeld abschottet, wieder zu verschwinden.
Die zweite absurde Folge dieses Effektes ist es, dass mich die 3-D-Szene viel eher aus dem Bildraum vertreibt als dass sie mich in ihn hineinholt. Was sowohl in den fünfziger als auch in den siebziger Jahren wiederum zur Folge hatte, dass das Publikum zwar den einen oder anderen 3-D-Film zu genießen bereit war, sich insgesamt aber dem Kino noch weniger aufgehoben und zuhause fühlte, ein Vertrauensverlust in die kinematografische Erzählweise, der viel schwerer wieder gut zu machen als herzustellen war.
Diese Probleme werden sich diesmal nur bis zu einem gewissen Grad wiederholen. Unter anderem deshalb, weil die Wiederkehr der 3-Dimensionalität nun nicht als direkte Sensation in sich selbst, sondern nur als wieterer Schritt in der Expansion des Kinematografischen gesehen wird, deren nächste Etappen schon festzustehen scheinen: Die kinematografische Skulptur im Raum, die erzeugung dreidimensionaler Bilder jenseits der Polarisationstechnik, die Einbezihung weiterer Sinne, Geruch und Tastsinn etc, schließlich der Effekt in die Gegenrichtung, die Öffnung des Bewegungsraumes zum Bildraum, wie es die modernen Computerspiele vermögen, Rückkopplungen zwischen körperlich messbaren Emotionen der Zuschauer zum Leinwandgeschehen etc.
Tatsächlich interessiert die Mythopoeten der 3-Dimensionalität im Kino auch nicht mehr so sehr diese Verletzung (Felsbrocken, Indianerpfeile, Brandbomben oder Monsterklauen als ganz buchstäblicher Angriff auf das Auge) als vielmehr neue Öffnungen des Raumes; das Angriffsziel ist nicht mehr so sehr der Raum zwischen dem Bild und dem Auge, sondern eher ein Raum hinter dem Raum, früher hätte man wohl gesagt eine psychedelische Erfahrung.
Die dritte Frage natürlich ist, ob die technologische Expansion der sozialen Expansion gerecht werden kann, ob also, nur zum Beispiel, ein Star in einem dreidimensionalen Digitalfilm noch seine Rolle erfüllen kann, Angst, Begehren, Mitleid, Stolz und Unterwerfung auf sich zu ziehen. Möglicherweise haben wir aber auch eine neue Form des Filmschauspielers und Stars, der besonders gut in Zusammenhang mit Spezialeffekten, hybriden Erzählweisen und Animated Cartoons bestehen kann.
Am Ende also steht, wie bei jeder gelungenen oder gescheiterten Innovation der Kinematografie nicht nur die Synchronisation zwischen Bildraum, Bewegungsraum und Kommunikationsraum auf dem Spiel, sondern auch die Konstruktion des kinematografischen Subjekts.
Möglicherweise ist ein Kino völlig unnütz, das nicht eine Antwort auf das Paradoxon der gemeinschaftlich gestellten Frage gibt: WER – IST – ICH?
Es ist möglicherweise aber auch eine ganz andere Richtung für die Zukunft des Kinos denkbar, die wir vo allem in den letzten Jahren in den südlichen Ländern Europas bereits erleben, die Verwandlung der Kinos in große Event-Räume, in denen public viewings von Fußballspielen, Musicals oder Rock-Konzerten stattfinden und exakt gerade wieder auf den News- und Vernetzungscharakter setzen. Schon spricht man hier von einer Art Dauer-Woodstock auf einer großen Leinwand, bei dem es weder Regen noch Schlamm noch überfüllte Toiletten gibt. Am 4. August des Jahrs 2009 sollte das Konzert von amy Winehouse in London in alle Multiplex-Kinos der italienischen Städte mit digitaler Ausrüstung übertragen werden. Über Satellit wurde in diesem Jahr ein Konzert der einheimischen Sängerin Alessandra Amoroso in 40 Kinos geschickt. Nur noch zwei Drittel des Umsatzes wurden mit herkömmlichen Filmen erzielt. Diese Verwandlung vollzog sich zur Verblüffung auch der Geschäftsleute innerhalb nur eines Jahres. Es ist also möglich, dass die Satelliten-Übertragungen weniger dem traditionellen Film nun in digitaler Trägerschaft nutzt, sondern dem neuen Event-Management von Sport und Musik. Der News-Charakter wird dem Kino also gleichsam paradgimatisch verordnet, die Novel ist vorneweg, zwischenrein oder als chill-out im Angebot.
In diesem Zusammenhang spielt der 3-D-Effekt eine andere Rolle als im traditionellen Multiplex-Kino. Hier ist er Teil eines umfassenderen Angebots, das nach den Vorstellungen der Betreiber eben auch ein neues Sozialverhalten ermöglicht: Das polyvalente Multiplex ist die mediale Piazza von morgen. Die Rückgewinnung eines sozialen, eines kultigen Raumes für die universale Vernetzung. Ein Bildraum, der seinen eigenen fiktiven Bewegungsraum schafft.
Und hier wird die Synchronität von Bildraum, Bewegungsraum und Kommunikationsraum zugleich als Kult genossen und als Praxis realisiert. Mit der weiteren paradoxen Frage jedes einzelnen an diese Meta-Kinematografie: WER – IST – WIR?
Und auf die bange Frage des Fans: Ist das eigentlich noch Kino? Antwortet dieser meta-kinematografische Raum: Das Kino hat es ohnehin nie irgendwo anders gegeben als in deinen Träumen.
Autoren: Markus Metz und Georg Seeßlen
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