Die Französische Filmwoche in Berlin widmet Jean Gabin zum 100. Geburtstag eine Hommage. Hymne auf einen mürrischen Star
In den Jahren nach dem Krieg, als Jean Gabin nach Frankreich zurückkehrte, das er in der Zeit der deutschen Besatzung verlassen hatte, pflegte man dort das Kino mit Enthusiasmus zu behandeln. Surrealisten und Existentialisten schrieben über Filme und Schauspieler, in Jean Gabin erkannten sie den Ödipus der Pariser Vorstädte. Einen proletarischen Helden, den sein Zorn gegen das Schicksal zu den furchtbarsten Taten treibt. Dem seine Stärke nichts nutzt, der schon wissen muss, dass er verloren hat, bevor er etwas anfängt. Und der es trotzdem tut.
So wurde er der „mythische Arbeiter“, wie Georges Sadoul es ausdrückte. Gabins Filme zeigen, dass man keine Könige braucht, wenn es um Tragödien geht. Das allein machte ihn zu einer politischen Gestalt. (Undenkbar so einer im deutschen Film.) Und so war es nicht der geringste Widerspruch, dass er als Gangster, Kommissar, Clochard, Bürger und sogar als Präsident auftreten konnte. Gabin war das innere Wesen der französischen Republik. Einschließlich der dunklen Seiten.
Jean Gabin, hat Jean Renoir gesagt, produzierte sich nie vor der Kamera, er war nur er selber. Er befindet sich immer im Mittelpunkt des Bildraums; er ist nicht in einem Film, sondern ein Film ist um ihn herum. Wenn andere das Bild durch Gesten und Bewegung definieren, gelingt das Gabin vom Zentrum aus durch seine Blicke. Mein Gott, konnte der Kerl schauen! Alles steckt in diesen Blicken, die noch wirken, wenn das übrige Gesicht zur Maske erstarrt ist. Sie sagen immer die Wahrheit, auch wenn alles andere gelogen ist. Meistens geht von ihnen eine wissende Melancholie aus. Das tödliche Ende, eine Zärtlichkeit, die über alle Möglichkeit der Berührung hinausgeht. Und dann dieser unterdrückte Zorn, der einem Angst machen kann.
Dass beides so nah beieinander sein kann, der Zorn und die Zärtlichkeit, wird im präzisen Minimalismus von Gabins Blick-Kunst deutlich. Im „Der Clan der Sizilianer“ (1969) und in „Lautlos wie die Nacht“ (1962) hat Henri Verneuil sich und uns zu schützen versucht, indem er Gabin dunkle Brillen verpasste. Keine Ahnung, ob er sich der Pointe bewusst war. Die Blendung des proletarischen Ödipus schien so unabwendbar wie die Verwandlung der französischen Republik in eine moderne Industriegesellschaft.
Zu keinem Schauspieler ist den Kritikern und Regisseuren so oft das Wort „Mythos“ eingefallen. Der Mensch hinter dem Mythos hieß Jean-Alexis Moncorgé, er lebte von 1904 bis 1976. Sein Vater war Sänger und Kabarettist. Das wollte er auf keinen Fall werden: einer, der sich für andere zum Clown macht. So arbeitete er lieber als Maurer und Hilfsarbeiter. Und erst als er bewiesen hatte, dass er im richtigen Leben existieren konnte, ließ er sich dazu überreden, mit auf die Bühnen des Folies Bergère und Moulin Rouge zu treten. La Mistinguette war es dann, die ihn zum dramatischen Fach drängte. Schöne Geschichte!
Jean Gabin kam auf die Bühne und vor die Kamera wie einer, der es gegen die eigene Überzeugung tut, der jenseits der Bühne etwas Besseres und Ernsthafteres zu tun gehabt hätte. Vielleicht ist das schon das halbe Geheimnis seines Erfolgs. Keine Eitelkeit, keine Therapie, kein Ehrgeiz. Nur mürrischer Professionalismus, der seine Direktheit dem Umstand verdankt, dass der Schauspieler es nicht ausstehen kann, lange, geschraubte Texte auswendig zu lernen und sich vom Regisseur herumschubsen zu lassen.
Sein Typus des mythischen Proletariers entwickelte sich in den Filmen des poetischen Realismus, bei Julien Duvivier, Jean Renoir und Marcel Carné, auf einer Linie vom Leben zur Kunst. Er war die körperhafte Figur in der erträumten Gegenwelt aus Poeten, Verbrechern, Verrückten und vor allem aus unglücklich Liebenden. Seine Stärke aber nutzt nichts, außer dass sie das Scheitern besonders dramatisch und besonders poetisch machte. All diese Geschichten von „La bête humaine“ (Bestie Mensch), von „Quai des brumes“ (Hafen im Nebel, beide 1938), von „Le jour se lève“ (Der Tag bricht an, 1939) oder „Pépé le Moko“ (Im Dunkel von Algier, 1936): ein einziges, langes, schönes Sterben.
Während der Okkupation ging er in die USA und drehte dort zwei Filme. Aber Jean Gabin passte so wenig nach Hollywood wie Jean-Alexis Moncorgé nach Amerika. Seine Rückkehr ins französische Kino war ersehnt und doch überraschend: Es war ein anderer Gabin. Aus dem melancholischen Abenteurer war in der Zeit der Abwesenheit ein grauer, bärbeißiger alter Mann geworden. Als würde die lange Mitte eines Bürgerlebens fehlen und gleichsam über Nacht aus einem, der vorausschaut auf ein Leben, das es nie geben wird, einer geworden, der zurückschaut auf ein Leben, das es nie gab.
Im französischen Unterweltfilm, zwischen Ventura, Delon und Belmondo, war er immer der Alte, der mürrische Fernfahrer in Gilles Grangiers „Gas-Oil“ (1955) oder der Gangster in Jacques Beckers „Touchez pas au Grisbi“ (Grisbi, 1954), der schon an der Routine, der Absehbarkeit der Fehler zu leiden beginnt. Gabins Mythos ist jetzt wie das alte Frankreich im neuen, wie er vordem das poetische Frankreich im realen war. Er hat die größten Enttäuschungen schon hinter sich, wenn der Film anfängt. Die Jungen bewundern ihn, aber sie wissen auch, dass sie sich nicht an ihn halten können, wenn sie überleben wollen. Noch eine Quelle des Verrats.
In Gabins Aura löste sich die Sehnsucht des Bürgers nach der verlorenen Freiheit auf. Ein Patriarch, der am liebsten Clochard wäre. Oder anders herum: ein Kerl, der, wie „Archimède“ noch als Clochard ein bürgerlicher Herr ist. Schließlich muss diese Konsequenz in Starrsinn umschlagen wie in „Le Pacha“ (Der Bulle, 1968), wo man Angst vor einem alten Mann bekommt, der nichts anderes als seine eigenen Werte gelten lässt: ein Anarcho-Patriarch. Und immer noch steckt ein Mörder in ihm. Wunderbar sind seine Ausbrüche, wenn er sich noch einmal in seine Jugendträume katapultiert; und wie trostlos seine Gesten, mit denen er sich in seinem bürgerlichen Gefängnis an den unsichtbaren Stäben reibt oder ein Bonbon in den Mund schiebt, weil man ihm das Rauchen verboten hat.
In späteren Filmen pflegte Gabin ungebremst seine Manierismen. Der Stolz des Schauspielers verwandelte sich in Verachtung seines Metiers. Seine Liebe galt der Familie und dem Bauernhof in der Normandie: „Der Beruf des Bauern ist ernsthafter als der des Schauspielers. Beim Filmen hat man es hauptsächlich mit Dummköpfen zu tun.“ Darum drehte er Filme wie „Der Präsident“ nicht ihrer konservativen Botschaft wegen, sondern um eine neue Melkmaschine erwerben zu können.
Das Ende war wie ein schlechter Gabin-Film: Der Streit mit seiner Tochter Florence, die gegen den Willen des Patriarchen geheiratet hatte, setzte ihm zu. Jean-Alexis Moncorgé starb in unversöhnter Einsamkeit den Jean Gabin-Tod. Ach ja: Ob die Liebesgeschichte mit Marlene Dietrich eine Sache von Moncorgé oder eine von Gabin gewesen ist, muss ungeklärt bleiben. Vielleicht haben sich da ja zwei schöne Gespenster geküsst.
17. MAI 1904 – 15.NOVEMBER 1976
Jean Gabin ist Frankreichs wohl berühmtester Schauspieler, dank „Die große Illusion“, „Hafen im Nebel“ oder „Der Clan der Sizilianer“.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Der Tagesspiegel, 09.07.2004
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