Wolfgang Maria Bauer übernimmt den Job, den mal Horst Tappert innehatte, und prägt nun das Bild des deutschen Kommissars in der Welt
Ein neuer Fernsehkommissar fängt heute zu ermitteln an: Wolfgang Maria Bauer als Viktor Siska. Er hat, so die Drehbuchkonstruktion, den Job von seinem Bruder Peter Siska geerbt. Peter Siska wiederum ist der Nachfolger von Derrick, der wie kein anderer das Bild des deutschen Kommissars auch im Ausland geprägt hat. Es sitzt also wieder ein Neuer am prestigereichsten Schreibtisch der deutschen Fernsehpolizei. Viktor Siska ist ein nüchterner, unprätentiöser Ermittler, der stur seine Fälle löst und damit das Credo seiner Vorgänger zu beherzigen scheint: Bloß nichts übertreiben.
Alles begann 1974, damals waren die gemütlichen Jahre des deutschen Fernsehens eigentlich schon zu Ende. Es war nicht mehr die Welt der älteren Herren, die die Zuschauer durch das Sportgeschehen, in die Welt der Tiere oder zum heiteren Beruferaten begleiteten. In diesem Jahr 1974 also, als das deutsche Fernsehen nicht mehr ganz unschuldig, aber auch noch nicht auf der Höhe der Zeit war, betrat eine neue Polizistengestalt den Bildschirm und sah betrübt auf das Chaos der Welt. Der Inspektor mit dem melancholischen Blick überprüfte Alibis, bediente sich eines Dienstwagens, den man so gut wie nie fahren sah, und dass er am Ende die Täter überführte, lag nicht so sehr an kriminalistischem Spürsinn oder daran, dass er sich besonders gut in Täter und Opfer hineinversetzen konnte. Nein, Derrick – so hieß der neue Polizeiserienheld, dargestellt von Horst Tappert – löste jeden Fall einfach, weil er eine so zweifelsfreie moralische Gestalt war. Derrick suchte nicht, Derrick wusste.
Derrick trug einen Anzug, war kein Actionheld und hatte kein Privatleben. Zu heftigeren Gemütsregungen konnte ihn immer nur das Böse in der Welt, der Mangel an Gemeinsinn, bringen. Noch in seinem allerletzten Fall, dem 280. im Jahr 1998, beklagte er sich bitter darüber, dass wir immer so teilnahmslos beim Morden zusehen. Das war der unübertriebenste Fall von Publikumsbeschimpfung, den sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen in der Bundesrepublik je geleistet hat. Es fiel aber nicht weiter auf, weil Inspektor Stefan Derrick ohnehin selten sinnvolle Dinge sagte. Es war hoch moralisch und tief bedeutend, aber ohne etwas, das man als logische Aussage hätte bezeichnen können. Dafür wurde er geliebt.
Die Serie wurde zum letzten Hort der Verlässlichkeit in der unzuverlässigen Welt. Derrick wurde zwar älter, aber ansonsten änderte er sich weder in der äußeren Erscheinung noch in der – wenn man das so bezeichnen kann – Einstellung. „Harry, fahr schon mal den Wagen vor“ wurde zum geflügelten Wort der Serie. Der Satz kam nie wirklich vor, aber er passte einfach so gut. Derrick hatte immer diesen „Harry-fahr-schon-mal-den-Wagen-vor“-Blick voll selbstverständlicher Autorität. Viel komplizierter wurden die Dialogsätze ohnehin nicht.
Der Dienstwagen wurde regelmäßig erneuert, die Drehbuch-Ideen und die Schauplätze nicht. In den Villen eines Münchner Nobel-Vororts wurden Menschen ermordet, weil der Mensch an sich zum Bösen neigt, besonders, wenn es ihm materiell gut geht und die inneren Werte fehlen. Sex war auch gefährlich, vor allem in Verbindung mit Alkohol. Das war zwar nicht besonders originell, hatte aber den Vorteil, auf der ganzen Welt verstanden zu werden. Derrick, ein urdeutscher Charakter, wurde zum Exportschlager in Kalabrien, Mexiko und Bangladesh. In den „Derrick“-Folgen empfand man in der ganzen Welt die Zwiespältigkeit des „Made in Germany“. Großartige Automobile, Bügelfalten und Polizeibüros, in denen es leise und ordentlich zugeht, saubere Straßen, die Müllabfuhr funktioniert perfekt, die Menschen halten sich an die Verkehrsregeln. Doch die Krankheit liegt tiefer: Es wimmelt von geldgierigen, impotenten Männern, von untreuen Ehefrauen, von kaputten Söhnen und gefallenen Töchtern. Es gibt keine sozialen Konflikte bei „Derrick“, es gibt nur das Böse, überall da, wo es Sex und Geld gibt.
Nach 24 Jahren und 280 Folgen war Schluss, Derrick wurde am Ende seiner Karriere Euro-Polizist. Ach was, er ist der deutsche Weltpolizist, von dem wir vielleicht nichts Neues mehr erfahren, der aber auf ewig in den Bildermaschinen spukt. Sein Nachfolger wurde im Oktober 1998 ein gewisser Siska, dargestellt von Peter Kremer. Er polsterte die deutsche Beamtenseele mit jugendlichem Elan und zeitgemäßem Outfit aus, nicht ohne jedoch die eiserne Derrick-Maxime zu vernachlässigen: Bloß nicht übertreiben! Es hatte sich nicht viel geändert, außer dass sich der Kommissar den rauen Jahren angepasst hatte. Siska war die Wiedergeburt Derricks in Zeiten von Jobknappheit und Selbstdesign.
Auch der Mittelstand war nun vom Bösen angesteckt, das aus den Villen der Nobelvororte in die Reihenhäuser und Vierzimmerwohnungen quoll. Um die neue Realistik zu unterstreichen, spielte Siska auch gern Billard. Er liebte es, einen älteren Kollegen namens Hahne herumzuscheuchen. Siska hatte im Gegensatz zu Derrick bisweilen auch humorartige Anflüge, wie der folgende Dialog beweist. Assistent: „Sieht nicht so aus, als ob Sie jetzt schlauer wären“. Siska: „Sie irren. Der Fall ist so klar wie diese undurchsichtige Pfütze in meiner Tasse“. – „Das ist Kaffee!“ – „Gut dass Sie es sagen. Von selber wäre ich nicht darauf gekommen.“
In Folge 56 wurde Siska von einem verwirrten kleinen Jungen erschossen. Glücklicherweise ist nun aber sein Bruder Viktor zur Stelle, dargestellt von Wolfgang Maria Bauer. Der hat Theatererfahrung und erweckt heute gleich zu Beginn mit einem ungewohnten Schlenker (Fußball im Regen!) den Eindruck, er wolle sich nicht an die Derrick-Blaupause halten – nur um danach genau so weiterzumachen wie seine Vorgänger.
Dass sie alle auf so ähnliche Weise glücklich in ihrer Beamten-/Männerfamilie und unglücklich über den Zustand der Außenwelt sind, liegt vielleicht einerseits am Verlangen der Fernsehzuschauer nach melancholischen Gestalten, andererseits aber auch am Produzenten Helmut Ringelmann, der unter anderem mit „Der Kommissar“ (1968 – 1976), „Derrick“ (1974 – 1998), „Der Alte“ (seit 1977) und eben „Siska“ (seit 1998) erfolgreich war. Die Handlungen dieser Endlos-Serien kann man ohne weiteres von einer auf die andere übertragen, ohne dass es auffallen würde. Aber darauf kommt es auch nicht an, wichtig ist etwas anderes: Ringelmann-Serien versorgen die Zuschauer mit Vater-Figuren, die sie vor der übertriebenen Suggestion der Welt beschützen. Der reibungslose Übergang von Peter Siska zu Viktor Siska in der heutigen Folge mit dem Titel „Die Guten und die Bösen“ verdankt sich dieser einfach strukturierten, ja hierarchischen Welt: Hahne (alt und dick), Nummer 2, und Wiegand (jung und forsch), Nummer 3 kämen nie auf die Idee, ihr Alpha-Männchen anzubellen.
Man soll nichts übertreiben, schon gar nicht die Behandlung von Fernsehkriminalserien als politisches Symptom. Aber auffallend ist schon, wie der ermüdliche Derrick zu den bleiernen Jahren der Kohl-Ära passte und der gestresste Siska zu den Es-kommt-noch-schlimmer-Jahren des Umbaus. Und wie ähnlich sie einander dabei doch sind, wie sie fest verankert in einer gesellschaftlichen und moralischen Mitte stehen, die ihre fiktiven Kollegen längst verloren haben (von denen in der Wirklichkeit gar nicht zu reden), wie sie unentwegt Sinnfreies schwafeln – wenn auch in hierarchischer Ordnung. Und wie sie dabei unauffällig bleiben. Schließlich gilt: Bloß nichts übertreiben.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Der Tagesspiegel, 15.10.2004
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