Todgeweihte Fee aus dem Internet

Cat Marnell ist Amerikas Disaster-Darling: drogensüchtig und mit dem Talent gesegnet, sich auf attraktive Weise selbst zu zerstören.

Whitney Houstons Tod war ihr Glück. Ihr Durchbruch. Ihr bestes Bewerbungsschreiben. Als Whitney Houston starb, da war Cat Marnell bereits 29, sah aber immer noch aus wie eine 15-Jährige, und daran war wiederum ihr Vater schuld, ein Psychotherapeut aus Washington. Er hatte seiner Tochter, als sie noch ein Kind war, Ritalin verschrieben und sie damit weit weg geschickt, in ein Internat. Auf Ritalin wurde Cat Marnell zuerst Klassenbeste, dann süchtig. Und immer noch süchtiger.

Weil sie auf Ritalin, mit Zigaretten und immer mehr anderen Drogen keinen Hunger und keine Müdigkeit mehr verspürte, wurde sie magersüchtig und hörte bald auf zu wachsen. Sie blieb zierlich, mit einem grossen Puppenkopf. Von ihren Eltern bezog sie fortan keine Liebe mehr, nur noch Geld. Ihre Mutter, auch sie eine Psychotherapeutin, war ebenfalls magersüchtig und meist in Kliniken, wo sie zwangsernährt wurde. Ihren drei Kindern gegenüber sei sie ein «Eiszapfen» gewesen. Cat Marnell, die kindliche Erwachsene, zog nach New York und beschloss, die Reinkarnation von Edie Sedgwick zu werden. Auch die kam aus einer reichen Familie mit einem konservativen Vater, auch die war drogensüchtig, aber vor allem war sie Andy Warhols Muse und starb früh.

Cat Marnell wurde Journalistin. Sie arbeitete erst für Printmagazine, für die «Teen Vogue», für «Glamour», dann für Onlineplattformen. Als Whitney Houston starb, war sie Beauty-Redaktorin des Onlinemagazins xojane.com, Internet-Dutzendware für die urbane Freizeitfeministin und Karrierefrau von heute. Und dann schrieb sie den Text mit dem Titel «On the death of Whitney Houston: Why I won’t ever shut up about my drug use» («Zum Tod von Whitney Houston: Warum ich nie den Mund halten werde über meinen Drogenkonsum»).

Das Bett, die Vorstufe des Todes

Es war ein langer, wütender, genialer Text. Einer, der passagenweise Freuds Triebtheorie referierte. Einer, der anhand autobiografischer Beispiele haargenau erklärte, weshalb so viele Süchtige in ihren Betten (wie Heath Ledger, Michael Jackson, Anna Nicole Smith) oder Badewannen (wie Whitney Houston, Jim Morrison, Brittany Murphy) sterben. Weil sie an diesen Orten keine Kraft mehr brauchen und keinen Schmerz verspüren, weil beide sind wie eine Vorstufe des Todes. Sie beschrieb, wie sie selbst es sich angewöhnt hat, an besonders zugedröhnten Tagen so viele Tätigkeiten wie möglich in die Badewanne zu verlegen, wo sie irgendwann unweigerlich einschlafen würde.

Ihr ultrarepublikanischer Vater hatte Cat Marnell einst verboten, das perverse Wort «Feministin» in den Mund zu nehmen. Doch jetzt zeterte sie drauflos gegen die verlogenen Gepflogenheiten der amerikanischen Gesellschaft, die es einer Frau zwar erlauben, öffentlich über ihre Drogenabhängigkeit zu sprechen, aber erst nach der Rehab, erst nach dem Entzug. Nach der Läuterung. Als klares Schuldgeständnis. Als Schambekenntnis. Im Reden über die eigene Sucht, so schrieb Cat Marnell, äußert sich der Überlebenstrieb. Gut, ihrer Lieblingskünstlerin Amy Winehouse hat auch das nicht geholfen, aber ihr Lieblingskünstler, Peter Doherty, ist immerhin noch irgendwo am Leben, obwohl man das nie so genau weiß. Sedgwick, Winehouse, Doherty: irgendwie genialisch und auf einem multitoxikomanen Selbstzerstörungstrip. Und mit dem Prinzip Décadence. «Amerika», scheibt Cat Marnell, «kennt keine Dekadenz mehr». Ihre romantische Verklärung eines Europas, das sie vor allem aus der Literatur kennt, ist schier grenzenlos.

Ihr Text über Whitney Houston erregte Aufsehen bei der amerikanischen und englischen Presse. Erst recht, als Cat Marnell kurz darauf ihren Job hinschmiss und sagte, sie sähe keinen Sinn in mühsamen Deadlines, wenn sie doch ihre Zeit damit verbringen könne, «im Le Bain Sternschnuppen zuzuschauen und Angel Dust zu rauchen». Das Le Bain ist eine New Yorker Dachbar, deren Kunstrasenbelag schon halluzinogen wirkt, Angel Dust ist eine Partydroge.

«Schmerz erotisiert mich»

Am nächsten Tag hatte sie einen neuen Job. Als Selbstzerstörungskolumnistin beim Onlinemagazin «Vice». Mit «Amphetamin Logic» sind ihre Texte seither überschrieben, und sie klingen so: «Manchmal, wenn ein Schwanz in mir drin ist, muss ich an meine Familie denken.» Oder: «Schmerz erotisiert mich.» Oder: «In vier Tagen bin ich dreissig Jahre alt, und hier ist die große Enthüllung: Es ist okay, eine Freakshow zu sein. Es macht dich speziell und verrückt und wertvoll fürs Universum.»

Manchmal sind ihre Texte schlicht verpeilt und mäandern in einer Lumpensammlung aus narzisstischen und popkulturellen Narrativen. Manchmal sind sie große, ruppige Analysen wie der Whitney-Houston-Text, manchmal sind sie Literatur. «Ich gehe nach Hause, auf der Avenue B, in silbernen Lanvin-Slipper, meine High Heels in der Hand. Der Morgen dämmert. Eine Kakerlake rennt neben mir her über den Asphalt», heißt es in ihrer Kolumne «The Cockroach and the Cokehead». Und weiter: «Regen fällt und wird zum Schauer, es ist in Ordnung. Ich bin so dünn, dass ich durch einen Sturm schlüpfen kann wie ein Modellschiff in eine Flasche. Die Kakerlake folgt mir nach Hause wie ein Gespenst.»

Dass Cat Marnell in ihrer Reality-Schreib-Show so apart wirkt, hilft. Einen Zerfall mit Glamour zu versehen, geht nur, wenn der dazugehörige Körper nicht häßlich ist. Schöne Frauen verwesen auch schöner. Sie schwinden dahin. Bei einer ästhetischen Selbstopferung schaut das Publikum gerne zu. Man kennt das aus der Fiktion. Real hat das noch keine so virtuos hinbekommen wie Cat Marnell. Lindsay Lohan und Britney Spears sind keiner Poesie mächtig, Amy Winehouse erregte zunehmend Abscheu, Courtney Love ist zu ordinär, Kate Moss kann nicht schreiben. Eine wie Edie Sedgwick, die konnte das. Oder Dorothy Parker, die große New Yorker Säuferin, Gesellschaftskolumnistin und Erzählerin.

Die wandelnde Antivernunft

Allein im September reisten der «Guardian» und der «Observer» nach New York, um die moribunde Fee aus dem Internet zu treffen. Der «Rolling Stone» schrieb, sie sei die heißere Ausgabe von Charles Bukowski. Dutzende von Männern bekannten, dass eine schöne Frau, die schreibe wie ein Mann, eigentlich der beste aller denkbaren Menschen sei. Alle Frauen, die über Cat Marnell schrieben, erhoben sie zu ihrem großen Vorbild. Und jeder Text über Cat Marnell klingt wie ein Nachruf auf sie. Weil es doch kaum sein kann, dass eine, die allein dem Prinzip der «Jouissance», des radikalen, uneingeschränkten, multiplen Genusses verpflichtet ist, in einer Welt der zunehmenden Verbote noch lange überleben kann und darf.

Cat Marnell hat alles ausprobiert, auch die Rehab. Es hat ihr dort nicht gefallen. Sie hat beschlossen, dass ihr Wert fürs Universum nun mal darin bestünde, gegen alle amerikanische Prüderie und alle Restriktionen zu schreiben, zu saufen, zu rauchen, zu spritzen und zu ficken. Letzteres auch noch ohne Kondome. Sie muss ein Albtraum sein für amerikanische Eltern. Die Jugend verehrt sie. Cat Marnell ist der Disaster-Darling, die wandelnde Antivernunft, eine Performancekünstlerin, die ihr Leben aufs Spiel setzt. Vielleicht ist Cat Marnell letztlich furchtbar oberflächlich. Aber wenigstens zitiert sie dazu Freud. Und wer sich ihren Texten, die im Internet herumschweben wie Engelsstaub, entziehen kann, der hat noch nie einen Blick in die glamourösen Höllen der Süchte getan.

Simone Meier, Tages-Anzeiger, 02.11.2012

Bilder: screenshots Facebook Cat Marnell