Er hat evangelische Demutspose und mediale Spaßgesellschaft in seiner ARD-Talkshow zusammengeführt – jetzt ist Schluss mit „Fliege“
Erfolg in der Medienmaschine entsteht, wenn die richtige Person mit dem richtigen Programmkonzept zur richtigen Sendezeit das richtige Publikum erreichen kann. So weit, so trivial. Nachhaltig indes wird der Erfolg erst, wenn sich diese Elemente wechselseitig so verstärken, dass aus einem Vorgang der Kommunikation eine „Bindung“ zwischen Sender und Empfänger wird, also irgendetwas zwischen Liebe, Kult und Neurose. Und wenn überdies eine transmediale Vernetzung entsteht: Von der Basis eines richtigen Sendeplatzes aus erobern Person und Konzept immer weitere Außenposten der Verwertung, bis man den Eindruck hat, es gehöre zur Medienmaschine selbst. Dann, so sagt man, sei jemand „nicht mehr wegzudenken“. Nachhaltig erfolgreich war gewiss das Programm „Fliege – Die Talkshow“. Aber auch unser Fernsehen ist nicht mehr das, was es einmal war. Nun wird sogar diese „Passen-Sie-aufsich-auf“-Feelgood-Talkshow weggedacht, die uns Nachmittag für Nachmittag um Leib und Seele sorgen und getröstet zurückließ. Und wer ist schuld an diesem Akt barbarischer Mediennachmittagsprofanierung? Die Schurken im Drama aller Medienbiografien: die „Programmgewaltigen“ und der „Quotenterror“.
Erst einmal die Erfolgsgeschichte: Seit Februar 1994 gibt es in der ARD „Fliege – Die Talkshow“, die unter dem Motto geführt wird: „Ich richte nicht, ich verurteile nicht – ich helfe den Leuten, das Leben zu deuten.“ Das „Ich“, das dies verspricht, ist ein ziemlich ausgedehntes Ego: Expfarrer Jürgen Fliege, ausgestattet mit einer gehörigen Portion dieses leicht käsigen protestantischen Tätschel- und Verständnis-Sex-Appeals, den wir auch aus Seifenopern und TV-Movies mit so schönen Titeln wie „Sehnsucht nach Liebe“ kennen, ist zweifellos ein kleiner Gott oder wenigstens ein Superprophet in seiner selbst erzeugten imaginären Gemeinde. Er beherrscht die hohe Kunst, Skandale in Kuscheleinheiten zu übersetzen, die seiner Gäste und die eigenen. Dass er 1999 in einem Interview mit dem Erotikmagazin „Penthouse“ Gott als „den alten Gangster da oben“ bezeichnete, ist wahrscheinlich nicht die Blasphemie, die konservative Theologen darin sahen. Sondern viel besser oder schlimmer: ein Programm zur Auflösung des Religiösen in einem Kult der Intimität. Wo Gesellschaft war, soll Gemeinde werden; wo Geschichte war, soll Familie werden; wo Schuld war, soll Tröstung werden; wo Scham war, soll Talk werden; wo Kirche war, soll Medium werden, und wo Gott war, soll ein transzendentaler Kuschelrocker sein.
Das hat, einerseits, Züge einer Nebenreligion: protestantische Reduktion, esoterischer Narzissmus, die virtuelle Gemeinde als Therapiegemeinschaft auf der manischen Suche nach verlorenen Söhnen und Töchtern, euphorisches Wir-Gefühl und ein satter Anteil Personenkult. Jürgen Fliege aber hatte auch einen kulturhistorischen Auftrag, und den hat er perfekt erledigt. Es ging um die Versöhnung zweier Welten, die man sich widersprüchlicher nicht vorstellen kann, die Kultur der neuen Authentizitäts- und Natürlichkeitskulte und die der medialen Welt- und Körpergeilheit. Jürgen Fliege schuf eine TV-Projektionsfläche für eine von der Medialisierung vergessene Kultur und ließ zugleich den Mainstream an deren durchaus trickreichen moralischen Lebenskonstruktionen teilhaben. Er ist der sehr deutsche Prophet einer bis dahin hierzulande unbekannten Verknüpfung von protestantischer Religion und Populismus. Die äußere Form dieser denkwürdigen Begegnung war eine Talkshow, die innere war die virtuelle Gemeinde.
Dabei behandelt „Fliege – Die Talkshow“ alles das, was Trash-Fernsehen sonst auch behandelt, nur eben fliegeanisch. Die Sendungen dieses Monats stehen unter Titeln wie „Mein Mann ist eine Nervensäge“, „Heute sage ich dir: Danke!“, „Skandal! Mein Zuhause kommt unter den Hammer – Zwangsversteigerungen“, „Sanfte Medizin: Unsere besten Hausmittel“ und „Gefährliche Liebe“ (wo man immerhin einer Frau zuhören darf, die ihren Mann erstochen hat). Esoterik, alternative Medizin und Beziehungstaten sind die Zentren eines kreisenden Geredes um den Körper, der einem zu entgleiten droht. In die Krankheit der Zivilisation, in die Entfernung vom heilspendenden Natürlichen, in die Entfremdung von Mitmenschen und Familie. Wenn anderswo der Körper vor Lust und Zorn beben mag, bei „Fliege“ wird er umsorgt, wenn er sich anderswo karnevalisiert oder dramatisch verformt, bekommt er bei Fliege Streicheleinheiten: Niemand kann sagen, ob „Fliege“, die Talkshow, die virtuelle Gemeinde, ein Gegenentwurf zur medialen Pornografisierung der Welt ist oder nicht doch ein besonderer Teil davon. So gesehen, ist der ständige Wechsel zwischen Gattenmord, Kohlwickel und Alltagssorge eine konsequente Ganzheit zur fliegeanischen Deutung des Lebens: Man ist nachgerade besessen von beidem, der kranken Familie einerseits, die „über Generationen hinweg leiden“ muss, und der heilen Familie, die sich um irgendwelche esoterischen oder gesundheitlichen Kulte schart, mit einer Mama im Zentrum, die angeblich dafür zuständig ist, dass sich „Anwendung“ in „Zuwendung“ verwandelt. Die Talkshow, die die Welt im Gegensatz zur Konkurrenz eher zu entskandalisieren scheint, dient im Inneren der Produktion eines durchaus dezidierten, wenn auch nur vage formulierten Welt-, Gemeinde- und Familienbildes. Es ist, bei aller „Alles verstehen“-Offenheit im Wesen, konservativ, dass Gott erbarm’.
Und das war schon des Erfolgsrezeptes anderer Teil. „Fliege“ war die fernsehgerechte Erfüllung eines Projekts der Verschmelzung von Religion, Esoterik und Psychologie zu einem Lebensdesign, in dem man fundamentalistisch und weltoffen zugleich sein konnte. Nie kamen sich evangelische Demutspose und mediale Spaßgesellschaft so nahe wie bei „Fliege“. Und nie strahlte die Verknüpfung von Religion und Entertainment so ins medienkulturelle Zentrum. Die transmediale Vernetzung nimmt dabei gelegentlich durchaus beängstigende Züge an: Fliege, das ist auch Markenzeichen für eine Zeitschrift, ein „Institut für Seelsorge und Kommunikation“, eine Stiftung, einen Internet-Chatroom und nicht zuletzt für Nachschub auf dem Ratgeber-Buchmarkt. Und überall dieses bedächtige Halblächeln, als sei da jemand, der sich mit gütiger Aufmerksamkeit, aber ohne Drängen um meine Sorgen kümmert. Auf den 64 Seiten der Zeitschrift „Fliege“ gibt es insgesamt 25 Bilder von Jürgen Fliege, mal allein, mal mit Gästen. Jürgen Fliege hat keine Lösungen (was er an „Text“ produziert, ist ja auch von bemerkenswerter Schlichtheit), er ist die Lösung.
In diesem seltsamen Personenkult steckt vielleicht auch schon die erste Erklärung dafür, warum sich die Schurken „Programmgewaltige“ und „Quotenterror“ zusammengetan haben, um „Fliege“ vom Bildschirm zu verbannen. Da ist zum einen die ikonografische Enthropie. Im Medienritual verbrauchen sich ja nicht nur Themen und Konzepte, sondern auch Gesichter. Zumal, wenn in ihnen nichts mehr passiert als die Herstellung der immergleichen Maske gütig-geiler Anteilnahme. Jürgen Fliege hat zu wenig Geheimnis und zu wenig Selbstironie, als dass man ihm unbedingt beim Älterwerden zuschauen möchte. Aber bedeutender vielleicht: Der virtuellen Kuschel-Gemeinde geschieht, was allen künstlichen Kulten geschieht, sie entwickeln sich von einem offenen zu einem geschlossenen System. Die kuschelige virtuelle Gemeinde verwandelte sich, ohne dass man es recht merkte, in eine Art informeller Sekte. Das Programm-Segment „Fliege“ wird dabei in seinem gewandelten Umfeld immer seltsamer und fremder, das Zentrum der Botschaft ist abgearbeitet, und nun treten die Peripherien allzu deutlich hervor. Etwa die zum Teil durchaus dubiosen Verbindungen mit dem Esoterischen und den guten Geschäften, die man damit machen kann, die Produktion von Selbstgerechtigkeit als verborgenes Ziel der Mitmenschlichkeit, der therapeutisch maskierte Voyeurismus.
Kurzum: Das große Projekt der Versöhnung von Medienhype und gefühlsprotestantischem Weltbild ist vollendet, und zugleich brechen die Elemente wieder auseinander. Wenn man heute „Fliege“ einschaltet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, man sei aus Versehen in eine Mischung aus Gemeindeandacht, Lebensberatung und Familienfest geraten, bei der man als Fremder eher stört. Und die Rache für den einst so erfolgreichen Personenkult ist nun ein selbstreferenzieller Code, der sich langsam aber sicher wieder aus dem Mainstream verabschiedet.
Während in den „Fliege“-Internet-Foren die Gemeinde die Grenzen von Liberalismus und Mitmenschlichkeit deutet (warum Tsunami-Opfern spenden, wo doch Bedürftigkeit im eigenen Land besteht; warum Rechtsstaat, wenn doch das „gesunde“ Volk urteilen kann, und warum wird gar die Elbe „gesteinigt“?), denkt der Meister schon an Größeres. In seiner Zeitung verkündet Jürgen Fliege, nicht ohne vorher seiner Kränkung erneut Ausdruck zu verleihen: „Ich lerne wieder Englisch. In ein paar Wochen geht es nach Los Angeles, um in der Crystal Cathedral von Pfarrer Bob Schuller zu predigen. Fliege goes Hollywood.“ „Passen Sie gut auf sich auf“, möchte man ihm nachrufen. Denn wo sich Religion und Entertainment allzu gut verstehen, da ist der Teufel möglicherweise nicht weit.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Der Tagesspiegel, 11.09.2005
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