Ambitioniertes Kino
Wunderbar. Stoff zum Grübeln und zum Streiten. Für mich war „Gnade“ in diesem Jahr bei der Berlinale d e r deutsche Wettbewerbsbeitrag mit der größten Wirkung, auch, wenn ich das Ende leider, leider höchst misslungen finde. Bis dahin aber: exzellent!
Matthias Glasner ist ein mutiger Regisseur. Kuschel-Kino ist seine Sache nicht. Knallhart geht es bei ihm zu. Nicht zufällig spielt die Geschichte in einem der rauesten Orte der Welt, in Hammerfest, hoch oben, in Norwegen, und das auch noch vor allem in der Zeit der Polarnacht, da die Sonne nie wirklich aufgeht. Hier lebt das deutsche Paar Niels (Jürgen Vogel) und Maria (Birgit Minichmayr) mit dem halbwüchsigen Sohn Markus (Henry Stange). Der Vater arbeitet als Ingenieur in einer Gasverflüssigungsanlage, die Mutter als Krankenschwester in einem Hospiz, der Sohn geht zur Schule und lebt ansonsten in der Welt der Computer-(Irr-)Realitäten. Nach einem Dienst fährt Maria im Zwielicht der Schneelandschaft nachhause und „irgendetwas“ an. Sie steigt kurz aus dem Wagen, sieht nichts, setzt sich wieder ans Steuer. Doch daheim plagt sie die Angst, doch mehr als „Nichts“ angefahren zu haben. Niels rückt aus. Doch auch er kann nichts entdecken. Die nächste Tageszeitung aber enthüllt, dass Maria eine junge Frau angefahren hat. Und die ist elendig im Schnee verblutet.
Ein Film, der einen in ein heftiges Wechselbad der Gefühle stürzt, einem wirklich eine Gänsehaut verpasst. Glasner und seine Akteure ziehen mit Wucht in den Bann. Eine Wucht, die zunächst daraus resultiert, dass Marie unentwegt darauf pocht, es werde „schon alles gut“, wenn sie und Niels nur schwiegen. Die Brutalität ganz gewöhnliche Feigheit schwingt wie ein Faustschlag auf die Zuschauer nieder. Minichmayr und Vogel geben den Figuren zunächst keinerlei Weichheit, entlarven sie als Bestien, deren Brutalität sich dadurch äußert, dass sie sich ganz „normal“ verhalten.
Kann solchen Menschen Gnade widerfahren? – Diese Frage drängt sich dem Betrachter unerbittlich auf. Leider geht Glasner nicht so weit, es dabei zu belassen, das Publikum bis zum bitteren Ende zur eigenen Meinungssuche zu zwingen. Die Geschichte, die hier um der Spannung willen nicht aufgedröselt sei, führt Figuren ein, die dem Publikum das Nachdenken weitgehend abnehmen. Und dann gibt es eine Schlussszene auf einem Fest, die mit einer kaum zu fassenden Unbekümmertheit in die banale Haltung schlingert, „nach Regen scheint Sonne“. Das ist richtig ärgerlich. Und zwar deshalb, weil der erste Teil des Films konsequent zeigt, wie leicht die Grenzen zwischen „Gut“ und „Böse verschwinden können, wie eng, Moral und Amoral miteinander verwoben sind. Trotzdem: Hingehen! Selten gibt es einen künstlerisch anspruchsvollen Film im Kino, noch dazu aus Deutschland, der ähnlich kraftvoll und fesselnd Grundsatzfragen des Mensch-Seins zur Diskussion stellt.
Peter Claus
Gnade, von Matthias Glasner (Deutschland 2012)
Bilder: Alamode
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