„Kleine Wunder in Athen“ und „Attenberg“ haben in den letzten Jahren auch hierzulande den Blick nach Griechenland gelenkt. Das Filmschaffen des von der Wirtschaftskrise arg gebeutelten Landes gehört derzeit zu den produktivsten weltweit. Es wiederholt sich, was sich zu anderen Krisenzeiten schon in anderen Ländern gezeigt hat: Die Schatten gesellschaftlicher Fehlentwicklungen geben Künstlern reichlich Futter für aufregende Arbeiten.
Nun also: „Alpen“ von Regisseur Yorgos Lanthimos. Der Film ist typisch für das so genannte neue Kino Griechenlands. Anhand einer kleinen Geschichte um individuelle Probleme wird Großes gespiegelt, der Verfall der bürgerlichen Gesellschaft. Erzählt wird von vier jungen Leuten, die auf ungewöhnlichem Weg den Erfolg suchen: Sie übernehmen jeweils einige Zeit für Trauernde die Rollen der Verstorbenen. Eine Krankenschwester (Aggeliki Papoulia), der Sanitäter (Aris Servetalis), die Turnerin (Ariane Labed) und der Trainer (Johnny Vekris) nennen ihre Gesellschaft „Die Alpen“, weil sie ihre Arbeitspseudonyme, etwa Monte Rosa und Mont Blanc, von Bergnamen herleiten. Mit dem skurrilen Geschäft wollen sie bei der Bewältigung des Schmerzes, der Trauer, helfen. Dafür gibt es strenge Regeln. Eine wirkliche Annäherung an die Klienten, gar körperlicher Kontakt, ist verboten. Da sich jedoch nicht alle daran halten, kommt es zu katastrophalen Entwicklungen. Die Gemeinschaft muss zerbrechen, weil die Protagonisten sie nicht konsequent nach den eigenen Vorgaben gestalten. Natürlich drängen sich die Vergleiche zum Zusammenbruch der Wirtschaft Griechenlands geradezu auf. Doch das allein im Kopf des Zuschauers. Der Regisseur, der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat, vermeidet jede vordergründige Analogie.
Im letzten September wurde „Alpen“ beim Internationalen Filmfestival Venedig mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Das war nicht der erste internationale Erfolg von Autor und Regisseur Yorgos Lanthimos. Anfang 2011 wurde sein zuvor realisierter Spielfilm „Kynodontas“ („Dogtooth“) in der Kategorie bester nicht-englischsprachiger Film für den „Oscar“ nominiert. Lanthimos versteht es überaus geschickt und publikumswirksam, den mit dem ökonomischen Kollaps in Griechenland einhergehenden moralischen und damit auch politischen Werteverlust zu reflektieren. Ausgehend vom Verfall traditioneller Familienstrukturen und der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen lässt er tief in eine kranke Gesellschaft schauen. Die Handelnden verlernen mehr und mehr den aufrechten Gang, können einander kaum noch ansehen und nur noch stockend miteinander reden. Die Schrecken des Alltags machen sie sprachlos und bewegungsunfähig. Gezeigt wird das auch in harten Szenen voller bitterer Komik. Das Groteske lässt das Tragische ja bekanntlich besonders scharf hervortreten. Der Film reflektiert – gen Ende übrigens mit der Spannung eines Psychothrillers – nichts als das wahre Leben.
Legendär: Alexis Zorbas. Vor gut einem halben Jahrhundert stand der Roman- und in dessen Folge erst recht der von Anthony Quinn verkörperte Filmheld gleichen Namens als Symbol für griechische Lebensart schlechthin: Mit Gottergebenheit und Gleichmut lässt sich der größte Schlamassel ertragen. Das war einmal. Leben heißt heute auch im Schatten der Akropolis nur noch Kampf ums Überleben. Das dürfte auch vielen Zuschauern in Deutschland so gehen.
Action-Fans und Filmfreunde, die nichts als eskapistische Unterhaltung suchen, dürften den Film kaum ertragen. Er lässt sich Zeit im Erzählen, gibt dem Betrachter einige Rätsel auf und flüchtet nie hinter eine rosarote Brille. Wer’s gehaltvoll mag, wird also bestens bedient!
Peter Claus
Alpen, von Yorgos Lanthimos (Griechenland 2011)
Bilder: Rapid Eye Movies HE
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