Bücher für ein ganzes Leben
Über Geo
rges Simenon, der nun schon 20 Jahre tot ist
Rund 400 Romane, davon 201 unter seinem Namen, hat uns Georges Simenon hinterlassen. Am 19. Februar 1902 in Belgien geboren, durch fast die ganze Welt gereist, zweimal geschieden, 1972 in den Pass „ohne Beruf“ eingetragen und sich zurückgezogen, starb dieser große Menschen-Porträtist und Kriminalschriftsteller im Alter von 86 Jahren am 4. September 1989. 20 Jahre ist er nun tot. Von seinen Büchern lässt sich ein ganzes Leben lang zehren.
Sein Freund André Gide nannte ihn den „Balzac des 20. Jahrhunderts“, Gabriel Garcia Marquez verehrt ihn als den „wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“. Simenon-Romane sind in (bislang) 57 Sprachen verbreitet.
In den Jahren seines produktivsten Schaffens erschienen pro Jahr vier bis fünf
neue „Simenons“. Alle drei Tage, so wurde damals ausgerechnet, kam irgendwo auf der Welt ein neues Simenon-Buch in den Handel. Auf rund 600 Millionen wird die Welt-Auflage geschätzt. Ein gutes Dutzend Schauspieler haben schon den Kommissar Maigret verkörpert, dazu kommen weitere 170 Filmadaptionen. Eine der aktuellsten ist „The Man from London“
des Ungarn Bèla Tarr.
Simenon selbst meinte über sein Output: „Ich schreibe schnell, weil ich nicht das Gehirnschmalz habe, langsam zu schreiben.“ Simenon war kein Heiliger, er war ein Bordellbesucher und Fremdgänger. Wenn er mit Familie in Urlaub reiste, war das ein Tross von über zwanzig Bediensteten. Erklärt freilich ist damit nichts. Und auch nichts durch jenes Geständnis, das weltweit für Erregung sorgte: nämlich, dass er im Laufe seines Lebens mit 10.000 Frauen geschlafen habe. (In die Welt gesetzt wurde diese Zahl, an der sich die Feuilletonisten aller Länder verhoben, übrigens 1977 in einem Interview, das Frederico Fellini mit Simenon über Casanova für L’Express führte.)
Wer nun aber war Simenon? Jemand, der 1972, als er zu erfinden aufhört, festhält „Ich habe sämtliche Kontinente bereist. Ich habe das hinter mir, was man ein bewegtes Leben nennt. Ich habe ganze Nächte mit Frauen getanzt und geschlafen, die ich nicht kannte. Von all dem ist mir nichts geblieben, außer vielleicht der Fähigkeit, meine gegenwärtige Existenz intensiv zu empfinden… Ich fühle mich reich an Erinnerungen, aber nicht an Dingen, die zum damaligen Zeitpunkt der Rede wert gewesen wären. Die Erinnerungen, die jetzt ein Teil meiner Existenz sind, das sind die Strahlen der Sonne, der Regen, der die Fensterscheiben hinabkullert, der Geschmack von Eis, die langen, einsamen Spaziergänge… Was in meinem Leben zählte, das war die Wärme der Sonne auf meiner Haut, oder die eines Holzfeuers im Winter, und besonders die Märkte in La Rochelle, in Cannes, in Connecticut und anderswo. Der Geschmack der Gemüse und Früchte. Der Metzger, der in riesige Fleischstücke schneidet, der Fisch, der auf großen Platten liegt. Wenn ich in meinem Leben etwas gelernt habe, dann, das all das gut und wichtig ist. Der Rest ist bloß Anekdote und Stoff für die Presse.“
Verstehen, nicht urteilen
„Ein Mensch wie jeder andere“ nannte Simenon den ersten Band seiner insgesamt 22 autobiografischen „Dictés“. Nur zu einem kleinen Teil sind diese schonungslosen autobiografischen Tonbanddiktate ins Deutsche übersetzt. Der in Sachen Simenon vorbildliche Diogenes-Verlag ist hier zurückhaltend. Ein Mensch wie jeder andere, das gerade war Simenon natürlich nicht. Und aber doch. Zumindest in seinen Büchern, deren Charaktere er „meine Brüder“ nannte. Simenon, der Kriminalschriftsteller, transzendiert noch in den schwächsten seiner Bücher das Genre. Gewalt ist ihm nicht Vorwand oder Selbstzweck, der Schock kein Stilmittel. „Verstehen, nicht urteilen“, lautet sein Motto. Er legt es seinem Kommissar Maigret in den Mund. „Ich habe versucht, verständlich zu machen“, bekannte Simenon 1960, „dass es keine Kriminellen gibt.“ In über sechzig seiner Bücher sind die Mordopfer an ihrem Tode schuld. Und mindestens ebenso oft endet ein Mörder als sein eigenes Opfer. Getriebene, Fliehende, Verfolgte, Unterdrückte Ausreißer und Zauderer sind seine Figuren. „Romans-crise“ oder „roman dur“ nannte er seine Non-Maigret-Romane, unerbittlich detailreiche Beschreibungen krisenhafter Zustände, die stets zugespitzt sind auf eine existenzialische Situation. Anders aber als die „noirs“ von Hammett und Chandler, wo die Helden um die Härte ihrer Lage wissen und entsprechend handeln, verstehen Simenons „kleine Leute“ kaum den Ernst ihrer Lage. Sie sind Objekte, nicht Subjekte ihres Dramas – und uns deshalb so nahe. So gleich. So warm wie lebendiges Fleisch.
Simenon weiß um das Geheimnis des Menschseins. Manchmal sind es erst die letzten Zeilen eines Romans, die dem, was wir atmosphärisch so genau geschildert bekamen, eine Dimension eröffnen, die uns den Atem, den Puls beschleunigt, uns mit der Welt versöhnt, oder uns brutal in sie stößt. Kurzum: uns die Augen, die ja nur ein Buch lesen wollten, für die Tatsachen, Schönheiten und Abgründe des Lebens weitet. Und immer wieder, beinahe in jedem Buch blind aufzuschlagen: die kleinen Freuden, die die Welt für uns bereithält. Sei es der Regen, sei es ein Bier oder ein Wein in einem kleinen Café.
Nicht der Gänsehaut, der ganz unpathetischen Menschlichkeit wegen, liest die Menschheit Simenon. Auch noch zwanzig Jahre nach seinem Tod. Und sicher noch viel länger. „Mein Erstaunen, meine Zärtlichkeit“ notierte dieser Mensch 1976 über uns Menschen „ wächst gegenüber diesem ungeschützten Tier, das nicht weiß, was es ist, woher es kommt, wohin es geht.“
Meine Lieblings-Simenons:
Der Mann, der den Zügen nach sah
Autor: Alf Mayer
Krimi-Kolumne: Blutige Ernte
Bild: dpa, London
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