Schiffbruch mit Zuschauer, oder: Wie sich das Fernsehen den Untergang der Titanic aneignet
In seiner „Metapherologie“ unterscheidet Hans Blumenberg drei Arten von Metaphern: Die erste dient der Ausschmückung, die zweite entsteht aus Unklarheit, die dritte Form aber nennt er die „absolute Metapher“. Sie enthält mehr als ihr Ausgangsmaterial, und sie verweigert die Rückführung auf rationalen Diskurs und bloße Tatsachen. Das Modell einer absoluten Metapher ist in Blumenbergs Denken der Schiffbruch, ein grandioses Scheitern auf einer „Schifffahrt des Lebens“, von den Mythen der Frühantike bis in die Gegenwart, da man ihn sowohl als erschöpfte Metapher als auch als Metapher der Erschöpfung ansehen kann. Wie ein ermattetes Untier liegt die Costa Concordia am Strand, deren Kapitän als einer der ersten von Bord gegangen ist. Kaum besser ließe sich Blumenbergs Theorie vom Paradigmenwechsel der absoluten Metaphern in der Geschichte illustrieren. Selbst vom Schiffbruch als größter Metapher des Scheiterns blieb nur eine traurige Farce.
Die RMS Titanic war der zweite von drei Dampfern der Olympic-Klasse und bei seiner Jungfernfahrt galt es nicht nur als das bequemste und größte Schiff der Welt, sondern auch als unsinkbar. Am 14. April 1912 schrammte es kurz vor Mitternacht an einen Eisberg und sank innerhalb von weniger als drei Stunden. Von den 2200 Passagieren und Crew-Mitgliedern starben etwa 1500. Schuld an dieser Katastrophe waren vermutlich die Ignoranz des Kapitäns, unzureichende Ausstattung mit Rettungsbooten und Verständigungsprobleme mit den Schiffen, die zu Hilfe hätten kommen können. Der Untergang der Titanic führte zu weltweiten Sicherheitsbestimmungen, die im Jahr 1913 auf der First International Conference on the Safety of Life at Sea beschlossen wurden. Aber die Metapher dieses Schiffbruchs war stärker als jede Rationalisierung. Der Untergang der Titanic war die absolute Metapher vom Scheitern der bürgerlichen Gesellschaft geworden.
Vom Zeitungs- und Magazinthema wurde sie sehr rasch in eine eigene Ikonographie überführt; entscheidend war von Anfang an weniger der technische Aspekt der Katastrophe als der soziale. Unter den Opfern befanden sich die reichsten Männer der Welt, aber auch zahlreiche Auswanderer. Die Titanic war mithin ein Abbild der Klassengesellschaft und zugleich ein Abbild des Widerspruchs zwischen alter und neuer Welt. Die Schiffbruch-Metapher der Titanic überlebte die zwei folgenden, viel größeren Katastrophen der Weltkriege, ebenso weitere Rationalisierung durch die Erforschung des Wracks seit 1985.
Was die Metapher stets beflügelte war nicht nur die Größe, sondern auch die morbide Schönheit des Schiffes, innen wie außen. Noch im Untergang war diese schwimmende Lichterbühne nicht nur dramatisch und eben „titanisch“, sondern auch schön. Und von dieser Schönheit handeln die Untergangsbilder bis heute, zuerst in Zeichnungen und Gemälden, etwa Willy Stöwers berühmtem Beitrag für die Gartenlaube, dann auch im Film, der die Metapher aktualisierte, wie es der Zeitgeist je verlangte, einschließlich einer propagandistischen Version in Hitlerdeutschland.
James Camerons Film mit dem schlichten Titel „Titanic“ wurde ein halbes Jahrhundert später zum globalen Megafilm. Die absolute Metapher verwandelte sich hier in eine Maschine zur paradoxen Produktion eines Paares, geschaffen durch die Opfergeste des Mannes aus der dritten für die Frau aus der ersten Klasse: „Das Herz einer Frau ist ein tiefer Ozean voller Geheimnisse. Aber jetzt wissen Sie, dass es einen Mann namens Jack Dawson gab, und dass er mich gerettet hat, in jeder Weise.“ Das sind die letzten Worte von Rose als alte Frau in den Rahmeneinstellungen des Films. Sie verweisen auf einen neuerlichen Paradigmenwechsel der Metapher vom großen Schiffbruch.
In der Schiffbruch-Metapher geht es nicht nur ums Überleben, sondern auch ums richtige Sterben. Im guten Schiffbruch steckt ein Neuanfang. Der Schiffbrüchige, so er die Katastrophe überlebt, ist als Vertreter der politischen und geistigen Gesellschaft gescheitert und wird als Individuum wieder geboren, wie Odysseus, wie Robinson Crusoe, wie Rose in „Titanic“.
Erinnern wir uns an ein wichtiges Dialogstück aus Camerons „Titanic“: „Du kannst mich nicht retten, Jack“, sagt Rose, und „Du hast recht, Rose, das kannst du nur selbst“, antwortet er. Es ist ein Übergang vom romantischen Begehren zur Selbstermächtigung in der Kreuzung zweier absoluter Metaphern: Liebestod und Schiffbruch. In jeder steckt das Gelingen als das, was in der anderen das Scheitern ist. So wurde „Titanic“ die Antwort auf alles.
Nun, rechtzeitig zum hundertjährigen Gedenktag der Katastrophe versucht das Fernsehen mit einer mehr oder weniger opulenten Serie die Metapher zu revitalisieren und gegen die 3D-Fassung des erfolgreichsten Films aller Zeiten zu bestehen, vielleicht in der berechtigten Hoffnung, es habe bereits wieder ein Paradigmenwechsel stattgefunden. An Aufwand und Star-Power wollte sich die europäische Coproduktion der ebenfalls nur „Titanic“ betitelten Serie mit dem Kino gewiss nicht messen. Eher ging es wohl darum, die eigenen Möglichkeiten in einem maßvoll budgetierten Period Piece einzusetzen. Ein geschickter Schachzug des Drehbuchs ist die Einteilung in Geschichten aus der ersten, der zweiten und dritten Klasse und der Besatzung. Die Metapher vervielfältigt sich: Vier mal werden Vor- und Nebengeschichten zur Katastrophe miteinander verzahnt, immer auf das Finale im Eismeer hin. Erzähltechnisch gesehen könnte man wohl sagen, man habe ganz einfach die Dramaturgie einer Soap Opera über den Schiffbruch-Mythos gelegt. Statt die Metapher mit einer anderen zu kreuzen, wie es Cameron tat, fächert die Serie sie endlos auf. Aber zugleich ist in der seriellen Anordnung der Geschichten auch klar, dass die Metapher vom Schiffbruch, die zuvor nie etwas anderes bedeuten konnte als Zivilisationsbruch und zaghaften Ausblick auf einen Neuanfang, einen anderen Stellenwert hat. Sie wiederholt sich nicht nur mehrfach (genau besehen könnte man diese Serien-Dramaturgie nach Belieben fortsetzen), sie verliert in dieser Wiederholung auch ihre erhabene Einzigartigkeit. Wir gewöhnen uns im Verlauf dieser Serie ganz buchstäblich an die Katastrophe. Und das zentrale Bild der absoluten Metapher ist verschwunden. Wir sehen viele Menschen Schiffbruch erleiden, aber der Schiffbruch der Titanic selbst bleibt unsichtbar. Vielleicht hat man in der berechtigten Sorge gehandelt, dieses Schiffbruch-Bild mit der produktionstechnischen Ausstattung der Serie nicht angemessen erzeugen zu können. Vielleicht aber ist eben das Verschwinden des zentralen Bildes des Versinkens und Zerbrechens des großen Schiffes der Ausdruck des neuerlichen Bedeutungswandels.
Ganz im Gegensatz zu Camerons Film erklärt diese Serie: Auf die Größe kommt es nicht an, es geht um die Menschen. Und was die anbelangt, so werden wir rasch mit den Schicksalen und ihren Protagonisten bekannt gemacht, die kämpferische Tochter aus reichem Haus, bürgerliche Ehepaare in verschiedenen Stadien des Zerfalls, ein italienischer Steward, der sich in der neuen Welt eine Existenz aufbauen will, der irische Freiheitskämpfer auf der Flucht etc.
Regisseur Jon Jones, der in der Jane Austen-Verfilmung „Northanger Abbey“ aus dem Jahr 2006 für ein wenig weich gezeichnete Nostalgie ohne besondere Vorkommnisse sorgte, ist keiner von denen, die es dem Publikum schwer machen wollen. Zunächst setzt er auf den brauntönigen Pastell-Look, der sich für „Vergangenheit“ und den sanften Umgang mit ihr durchgesetzt hat, so als setze man vor den Zuschauern die Farben in einen Dämmerzustand, und dann lässt er so gut wie keinen Augenblick der Ruhe oder des Schweigens mehr zu. Als angenehm bebildertes Hörspiel aber nimmt die Serie der Schiffbruch-Metapher gerade die Absolutheit. Jeder Mensch auf dieser Titanic ist damit beschäftigt, sich selbst zu Tode zu erklären. Vielleicht ist ja genau dies die Wahrheit der Stunde. Die Katastrophe hat nichts Erhabenes mehr, sie ist nur wiederholter Test und soziale Erziehungsmaßnahme.
Nicht, dass die Serie nichts zu sagen hätte. Sie entwirft mit den derben Strichen der Fernsehserie das Bild einer Klassengesellschaft. Da gibt es auch feinere Spitzen, etwa wenn sich die Bediensteten der Herrschaft genau so snobistisch verhalten wie die Herrschaften, oder wenn ein englischer Aristokrat spürbar angeekelt reagiert, als er bemerkt, dass er von einem italienischen Steward bedient wird. Ziemlich eindeutig wird hier das Schiff als schwimmender Kampfplatz der alten und der neuen Zeit, der Klassen und Kontinente etabliert. So als wäre diese Titanic das Schiff, das alle Hoffnungen der Emanzipation und Erneuerung einer erschöpften Gesellschaft übers Meer trüge. Und wie sich in Camerons großem Film die Liebe als Kehrseite des Schiffbruchs ereignet, so ereignen sich hier viele kleine politische, sexuelle und mentale Wandlungen als Kehrseite der Untergänge von Klassen, Geschlechtern, Nationen und Generationen. Politisch korrekt und folgenlos.
„Absolute Metaphern“, sagt Blumenberg, „beantworten jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, dass sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als Daseinsgrund gestellte vorfinden.“ So ist es kein Wunder, dass das Fernsehen die absolute Metapher vermeiden muss. Daher müssen in der Serie „Titanic“ noch im Augenblick des Untergangs die Menschen voreinander „schmutzige Wäsche waschen“, daher geht in den Rettungsbooten das furchtbare Gerangel um soziale Positionen und Hierarchien unvermindert weiter, und darum eben geht im Fernsehen nicht die Titanic unter, sondern ein überschaubarer Haufen von Menschen mit durchschaubaren Ambitionen.
Eigentlich sind das alles nur kleine Nebengeschichten, oder, um wieder mit Blumenberg zu sprechen: Trümmer einer großen Metapher. Das Kleine triumphiert über das Große, das Teil über das Ganze. Erschöpfte Menschen in einer erschöpften Metapher – so werden die Passagiere dieser Titanic zu Zuschauern des eigenen Schiffbruchs. Sehr zeitgemäß.
Georg Seeßlen, Die Zeit 29.03.2012
Bilder: ZDF/ITV
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