Oder Warum das Scheitern von Christian Wulff ein Seitenstück zur Machtstabilität unserer rundlichen Eisernen Lady ist

Der demokratische Fürst und sein Volk verhalten sich zueinander in den beiden Wirkkräften des Marktes, die nur auf den ersten Blick vollkommen widersprüchlich sind: Konvergenz (immer mehr ist der Herrscher „einer von uns“, was sein Auftreten, das Wissen von ihm, Dresscode und Sprache etc. anbelangt), und die Differenz, nach der Menschen wie Waren Alleinstellungsmerkmale oder Wettbewerbsvorteile inszenieren (man legt, so heißt es in den Kommentaren gern, doch „andere Maßstäbe“ an einen Bundespräsidenten wie an einen normalen Bürger an). Genau besehen hat das Spiel von Konvergenz und Differenzierung Demokratie eigentlich ersetzt, in der beides eher als „Krankheiten“ betrachtet werden müssten, die populistische und intimistische Konvergenz, und die Abgehobenheit und Künstlichkeit der Differenz. Dabei handelt es sich eben nicht um Widersprüche, sondern Instrumente, die an den richtigen Stellen richtig eingesetzt werden sollten; die Konvergenz und die Differenz sind die beiden Seiten der demokratischen Herrschaftsmedaille.

Der demokratische Fürst ist immer mehr wie irgend jemand anderes, nicht nur wie die Typen aus seinem Volk, sondern zum Beispiel wie ein Fernsehentertainer, ein Manager, ein Erlebnisgastronom, eine Ärztin usw. Und er ist immer mehr etwas ganz anderes, Mitglied einer „politischen Klasse“, die sich über die letzten Jahre immer mehr zu einer sehr eigenen Kaste entwickelt hat, die, wie man so sagt, die Wurzeln in der Wirklichkeit verloren haben, in der Leute wie du und ich leben, und voller Geheimwissen und Nebenabsprachen steckt.

Konvergenz und Differenz allenthalben also, das macht eine Politikerkarriere nicht eben einfach. Man muss ganz nah an jenen scheinen, von denen einen Welten trennen. Man muss das können, es genügt nicht, es zu wollen. Ach was, wahrscheinlich muss man es einfach sein: Politiker. Demokratischer Fürst. Verstehen können wir hier unten das am besten anhand der Beispiele, in denen es erstaunlich klappt oder in denen es erstaunlich schief geht. Eben das, woran Christian Wulff scheiterte, das macht Angela Merkel so stark, und womöglich ist das Scheitern Wulffs, das ja mindestens so sehr ein öffentliches Schauspiel ist, wie es Ausdruck persönlicher Inkompetenz ist, in der Balance von Konvergenz und Differenz, ein notwendiges Pendant zu Angela Merkels stabiler Herrschaftszustimmung.

Wir verstehen sofort: Dieser Mensch da, der zu unserem Präsidenten geworden ist (eine Funktion, die wir sowieso nicht recht verstehen: Was repräsentiert der eigentlich, wo wir doch sowieso eine „repräsentative Demokratie“ haben), Christian Wulff,  ist nicht „korrupt“ im klassischen Sinne. Jedenfalls nicht korrupter als die anderen in seiner Klasse, oder? Er ist nur einer von denen, die geblendet sind von der anderen Seite, der dazugehören möchte, der viel weniger von der Seite der Reichen „haben“ will, als vielmehr zu ihnen gehören, mit den entsprechenden Insignien, den Ritualen, ja, nicht zuletzt dem Alltag (weshalb eben ein Bobby Car für das Kind so bedeutungsvoll aufgeladen werden kann, obwohl es selbst für eine Mittelstandskultur im Status des eher „Läppischen“ eingestuft wird). Er will Freunde haben, unter der Klasse, die er mehr bewundert als die eigene, unter Freunden schenkt man sich schon mal was, hilft man sich schon mal. Was geschieht ist etwas ganz anderes als eine direkte persönliche Korruption, nämlich dieses Nicht-wissen-wo-man-hingehört. In der Klasse der ökonomischen Oligarchie gelten ganz andere Gesetze, ganz andere Werte, ganz andere Umgangsformen als in der politischen Klasse. Noch. Doch die Grenzen zwischen diesen beiden „Eliten“ verschwimmen immer mehr, woanders auf ganz anderen Ebenen als auf der persönlicher Vorteilsnahme. Man tritt einander Kompetenzen ab, man führt gemeinsam Unternehmung, man feiert, wo es nur geht, die „public private partnership“. Keine Reise von Politikern ohne „Wirtschaftsdelegationen“, keine Aufsichtsräte ohne Politiker, kein noch so unbedeutendes Kultur- und Sport-Ereignis, auf dem sich nicht Vertreter der Politik und der Wirtschaft die Hände reichen. Diese Hände, die sind das Problem. Die politische Karriere dient mittlerweile mehr und mehr vor allem einem Sprung in die Wirtschaft, wo das Geldverdienen dann wirklich losgehen kann, wenn man es richtig anstellt. Die Lobby ist das Zentrum der wahren, aber uncodierten, ungesprochenen, unlegitimen Macht. Kurzum: Es wäre ein ausgesprochenes Wunder, wenn sich diese beiden Eliten, die sich auf der Ebene der Machtausübung, des Managements und der Karrieren beständig miteinander vermischten, es nicht auch irgendwo in den tieferen Regionen des Alltags und der Psyche, von Eros und Ritus täten.

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Die Lobby ist das Zentrum der wahren,

aber uncodierten, ungesprochenen, unlegitimen Macht.

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Und dann verschwimmen so rasch die Möglichkeiten der Selbsteinschätzung, dass man glaubt, die kleine Teilhabe am Spiel der Reichen stehe einem einfach zu. Christian Wulff, so steht zu befürchten, wird nicht für seine Bestechlichkeit, sondern für seine Dummheit bestraft, mit der er diese Durchdringung von ökonomischer und politischer Macht/Inszenierung öffentlich sichtbar gemacht hat. Die meisten von denen, die sein Opfer verlangten, wussten es nur zu gut. Und wer war es, der ihn am schnellsten und offensichtlichsten verriet, weil man sich in der ökonomischen Elite alles erlauben kann, nur nicht verlieren? Jene, die er vielleicht allen Ernstes für seine Freunde hielt.

Angela Merkel hatte diesen Ehrgeiz keinen Augenblick, sie bleibt in der hedonistisch-luxuriösen Welt der ökonomischen Oligarchie und ihrer mehr oder weniger kulturellen Entourage höflicher Gast (höchstens, dass man sich in der Kleiderwahl mal ein wenig vertut). Ihre Macht – man sagt, sie sei die mächtigste Frau der Welt, derzeit (und halb Deutschland ist stolz darauf, so etwas zu haben, wenn auch aus unterschiedliche Gründen) – kommt aus der Abstraktion ihrer Beziehung zur ökonomischen Oligarchie. Sie zügelt die Konvergenz, sie betont die Distanz, sie hat da keine „Freunde“. Dagegen hat sie sich die Sache der „deutschen Wirtschaft“ zu eigen gemacht, als Gesetz, als großes andere, ein wenig so wie eine Religion oder wie eine Wissenschaft. Ihr einziges Ansinnen scheint es, die deutsche Wirtschaft – oder auch: das durch-ökonomisierte Deutschland, zu einem Erfolgsmodell zu machen. Es geht um Effizienz, es geht darum, Hindernisse zu beseitigen. An ihrer Form der Machtausübung scheint so gar nichts schmutzig. Sie stellt sich, so kommt das rüber, ganz uneigennützig in den Dienst des organisierten Eigennutzes, sie regelt ganz vernünftig ein vollkommen irrationales System, sie besorgt moderat weiblich ein männlich hysterisches Geschäft.

Aber zur gleichen Zeit macht sie auch nicht den Fehler der ständig „Wachstum“ schnarrenden FDP-Politiker, die sich gleichsam in den Neoliberalismus als Religion verrannt haben, und – ihre überschnappenden Stimmen verraten es – im Geheimen mit ihren ökonomischen Göttern hadern und das ungläubige Volk verdammen. Ihr Nepotismus, ihr Klienteldenken ist so lächerlich wie die Korruption von Christian Wulff rührend in all ihrer Kleinkariertheit ist. Da steht Angela Merkel drüber; sie ist schon eine Gestalt gewordene Regierung der Technokratie, die sich die Postdemokraten für jede Krise erträumen.

Die Marktradikalen brauchen Gegner; Merkel bleibt dagegen strikt bei der Sache. Daher kann sie uns eine Gesellschaft, in der man bald wirklich nicht mehr leben will, so ungerecht, unfrei und unsolidarisch ist sie, als Erfolgsmodell verkaufen, weil sie als Maschine ja bestens funktioniert. Angela Merkel ist das Gesicht einer solchen sozialen Maschine, die gar nicht anders kann als erfolgreich produzieren, egal was, egal für wen. Wir glauben ihr, anders als Wulff und anderen, dass sie selber außerhalb der Maschine bleibt, die sie so perfekt bedient, und weder von ihr verschlungen wird wie Chaplin in den Modernen Zeiten, noch sich drängen muss an den Auswurf von Produktion und Profit.

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Merkels Nicht-Sprechen blubbert genau die Wahrheit, die wir uns erhoffen.

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Angela Merkel ist der richtige Mensch für eine Art des Stachanow-Kapitalismus, der den Deutschen so angemessen scheint, wo man über Geld redet, nicht in Bezug auf das, was man sich dafür leisten kann, sondern dafür, was man dafür geleistet haben will. Das protestantische Pfarrhaus als Hintergrund verstärkt diesen anti-hedonistischen Kapitalismus ebenso wie die akademische Tätigkeit in der Naturwissenschaft. Immer sind es die gleichen Machtkonstruktionen, die auf Vernunft und Opportunität gerichtet sind. Die Wahl der Maschine ist zweitrangig, es kommt nur darauf an, dass sie funktioniert.

Nie schien der Kapitalismus so protestantisch wie in der Ära Merkel (und war innerlich das Gegenteil), und nie schien seine Brutalität so fürsorglich moderiert. Aber warum glauben wir alle so sehr an Angela Merkel  (ja, auch ihre Gegner „glauben“ ihr!)? Weil sie eine Frau ist, oder doch, genauer: Weil es ein bestimmtes weibliches Inszenierungsgeschehen der Macht gibt? Weil sie die Lebensentwürfe der Ost- und der Westdeutschen einschließlich aller Diskurse von „Führung“, „Entscheidung“ oder „Repräsentanz“ so perfekt vereint? (Wäre sie nicht ebenso das richtige Gesicht für eine DDR-Regierung nach einer sozialdemokratischen Läuterung gewesen, oder das richtige Gesicht für einen bedauerlicherweise notwendigen Demokratieabbau in Zeiten der nächsten Krise?) Ist sie das ehrliche Gesicht eines verlogenen Systems? Der kalte Kern eines Kapitalismus, der nach physikalischen Gesetzen funktioniert, keine Sentimentalitäten? Charles Dickens hätte Angela Merkel sehr gemocht und ihr einen Platz in seinen Anti-Phantasie-Schulen gegeben.

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Angela Merkel ist der Endpunkt. Der Status Quo für immer.

Was könnte nach Angela Merkel kommen?

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Angela Merkel kann nicht reden. Das meint nicht nur, sie hat kein Talent dazu, mitreißende oder wenigstens nicht einschläfernde Reden zu halten, das meint auch nicht nur, dass sie sich mit Konversation schwer tut. Was wir an ihr lieben sind diese kleinen Sprachschwurbel, die im günstigen Fall etwas zur Kenntlichkeit verzerren, für den Augenblick, im weniger günstigen Fall indes in ein Nirwana, das in Zusammenhang mit ihrer stets in sich hineinrundenden Gestik tatsächlich dem Blasen-Bilden, dem „Blubbern“ sehr nahe kommt, das wir den Politikern gern unterstellen. Es ist ein geschlossenes System, eine Gleichung, die aufgeht, ein Experiment, das nicht schief gehen kann. Die Verbindlichkeit ist Maske, das Funktionieren des Stundenplans und der Schulmaschine sind wichtiger als die Phantasien der Schüler. Sieh sie dir an: Sie riskieren die Versetzung wegen eines Pausenbrotes. Frau Professor murmelt so, dass man Nachsicht von Drohung kaum unterscheiden kann.

Aber Angela Merkel, so scheint’s, blubbert für deutsche Ohren angenehm. Ihr Nicht-Sprechen blubbert genau die Wahrheit, die wir uns erhoffen. Das, was wir aus „Mad Men“ als Ziel aller Werbung kennen. Der angesprochene – oder angeblubberte – Mensch hat die Erlaubnis, sich okay zu fühlen. Die Distanz, die die oberste Maschinistin der deutschen Wirtschaft, zu ihrer Maschine zeigt, sie muss gewartet, geölt werden, gewiss doch, aber niemals könnte sich eine protestantische Physikerin in eine Maschine so verlieben, wie, sagen wir, ein katholischer Mann, dem es vor lauter Liebkosen und Bewundern seiner kapitalen Maschine die Augen verdreht, diese Distanz also gibt sie uns als sprachliche Konvergenz zurück. Was sich nicht in Formeln fassen lässt, davon kann man auch irgendwie nicht reden. „Wer Visionen hat, der soll zum Augenarzt gehen“, grinste einst Helmut Schmidt. Angela Merkel würde nicht einmal den Witz verstehen. Die deutsche Wirtschaft oder Deutschland als Wirtschaft braucht keine Visionen sondern Wartung. Und natürlich Wachstum, aber nicht in dem Sinne der phallischen Phantasien der Boys von den Marktradikalen, sondern „mit Augenmaß“. Warum wir Angela Merkel so sehr vertrauen wollen, neben dem Umstand, dass sie den Unterschied zwischen politischer Macht und ökonomischer Macht – und allen ihren Ausdrucksformen – respektiert, sondern vor allem dies, dass sie den verlässlichen Eindruck macht, dass sie die Maschine, die man ihr anvertraut hat, nicht kaputt macht.

Das ist schwierig, gewiss. Denn die Maschine „deutsche Wirtschaft“ ist nicht nur eine ökonomische Maschine, sondern auch eine Mythe. Damit Deutschland weiter funktioniert, muss sie die anderen Maschinen – die ökonomischen wie die mythischen – ihren Regeln und Mechanismen unterwerfen. Das Beispiel Griechenland zeigt „das wahre Gesicht“ der abstrakten Gottheit „deutsche Wirtschaft“. Es ist böse, wirklich. Es passt nicht zu Angela Merkel, und wenn man sie dort in Nazi-Uniform abbildet, wollen auch die kritischeren Zeitgenossen hierzulande eine Grenze ziehen: So nicht! Aber kann Angela Merkel auf Dauer dieses böse, das Schäuble-Gesicht der Politik, die „deutsche Wirtschaft“ zum eigentlichen Souverän hat, verbergen?

Natürlich schweigt Angela Merkel auch dazu. Erwähnten wir schon, dass auch öffentliche Äußerungen von Humor nicht ihrem, nun ja, Naturell entsprechen? Angela Merkel ist die rundere, geschmeidigere, aber auch ein wenig drögere, sehr deutsche Version einer „eisernen Lady“. Das Antidot zu einer „aufgeweichten“ Männlichkeit in der männlich notierten Politik. Das Musterbeispiel für eine solche aufgeweichte Männlichkeit, so schließt sich der Kreis, war Christian Wulff.

Angela Merkel ist der Endpunkt. Der Status Quo für immer. Was könnte nach Angela Merkel kommen? Denken Sie nach. Nichts, was nicht wieder Spaltung und Zerrissenheit, Unsicherheit und, nun eben, Korruption bedeutete. Sie ist nicht bloß das kleinste Übel. Angela Merkel ist irgendwie – alternativlos.

Georg Seeßlen