Von Christian Wulff – Gott sei seiner Amtszeit gnädig – wird neben allen Skandalen die Einsicht in Erinnerung bleiben, dass auch der Islam zu Deutschland gehört. Mit dieser Aussage hat er sich nicht nur Freunde gemacht; die Freundschaft zur Bild-Zeitung ging danach jedenfalls dramatisch in die Brüche. Die Ernennung von Joachim Gauck zu Wulffs Nachfolger lässt sich als direkte Antwort darauf begreifen: Der Islam mag zu Deutschland gehören, Präsident wird aber immer noch ein evangelischer Pastor. Wenn die Parteien sich nicht auf Gauck geeinigt hätten, wäre Bischoff Huber ein anderer möglicher Kandidat gewesen. Hauptsache also ein guter Christ – das ist doch schon mal eine frohe Botschaft. Und dann ist da ja auch noch die Pfarrerstocher Angela Merkel, falls Zweifel an der Herkunft deutscher Politiker und ihrer weltanschaulichen Grundausrichtung bestehen sollten. Die Volksweisheit von Pfarrers Kindern und Müllers Vieh, die angeblich nie gedeihen, können wir getrost ad acta legen.
Was wir erleben, ist die Renaissance des Pfarrhauses als Wiege der Politik. Dabei ist das Pfarrhaus historisch gesehen die Keimzelle der deutschen Literatur gewesen. Der Germanist Heinz Schlaffer hat in seiner Literaturgeschichte darauf hingewiesen, dass besonders im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, deutsche Dichter mehrheitlich Pastorensöhne waren. Er nennt Bodmer, Gottsched, Gellert, Lessing, Wieland, Schubart, Claudius, Lichtenberg, Bürger, Hölty, Lenz, Jean Paul und die Brüder Schlegel. Nachzutragen von den später Geborenen wären Nietzsche, Hesse und heute zum Beispiel Christoph Hein. Das Pfarrhaus, so schrieb Pfarrerssohn Gottfried Benn, fördere die „Kombination von denkerischer und dichterischer Begabung“. Es ist, so Heinz Schlaffer, „der begünstigte Ort einer nachhaltigen Bildung“.
Die geistige Enge pietistischer Frömmelei drängt aber jeden leidenschaftlichen Wahrheitssucher bald auch aus dem Pfarrhaus hinaus. Nietzsche verkündete den Tod Gottes. Benn wurde Arzt und konnte im Körper die Seele nicht mehr finden. Hermann Hesse floh aus den bedrängenden Verhältnissen seiner Heimat ins Ausland. Das im Pietismus angelegten Rebellentum kann auf Abwege der Gewalt führen, wie das Leben der Pfarrerstochter Gudrun Ensslin belegt; es kann aber auch, wie bei Joachim Gauck in der DDR, den zivilen Widerstand grundieren.
Etwas davon möchten wir uns wohl bewahren, wenn wir mit Merkel und Gauck ein ostdeutsches Pfarrhaus-Duo an der Staatsspitze etablieren. Vielleicht spricht daraus die Sehnsucht nach einem Dichterpräsidenten, wie es Vaclav Havel in Tschechien gewesen ist – die Sehnsucht nach moralischer Integrität, die innerhalb der Politik nicht befriedigt wird. Im Pfarrhaus gibt es immerhin einen Überschuss an den Ressourcen Hoffnung und Glauben. Und wenn die Ansicht dominiert, dass Politik sowieso nichts bewirken kann, ist es nur konsequent, auf Pastoren und deren Kinder zu setzen. Die können wenigstens predigen. Und beten. Vielleicht hilft das ja.
Jörg Magenau
rbb kulturradio (23.02.2012)
Bild: 2011 Joachim Gauck CC by J. Patrick Fischer
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