Der Geschlechtsverkehr, schreibt Martin Amis zu Beginn, „hat zwei spezifische Besonderheiten. Er ist unbeschreiblich. Und er bevölkert die Welt. Es sollte uns daher nicht überraschen, dass alle kaum etwas anderes im Kopf haben.“ Das mag als Daseinsdeutung tendenziell leicht übertrieben sein, ist aber bestimmt nicht ganz falsch. Vor allem aber ist dieser Satz der Schlüssel zu Amis’ Roman „Die schwangere Witwe“, in dem es vor allem, nahezu ausschließlich, um Sex geht, der Akt selbst aber, um den sich alles dreht, als Unbeschreibliches auch unbeschrieben bleibt. Der Erzähler besitzt mehr Diskretion als seine Figuren. Denn die reden unentwegt über Sex oder den Mangel an Sex und ihre Erfahrungsexpeditionen. Sie verheddern sich in ihren Phantasien und Wünschen, sind mit der Ausdifferenzierung der Gefühle beschäftigt und haben also auch mit Verletzungen zu tun. Amis fasst diese, nun ja, Einseitigkeit, so zusammen: „Wir dürfen hier in Klammern anmerken, dass praktisch jeder sterbende Mann sich wünscht, sehr viel mehr Sex mit sehr viel mehr Frauen gehabt zu haben.“ Für die Frauen – das dürfen wir in Klammern hinzufügen – gilt selbstverständlich umgekehrt genau dasselbe.
Die Hauptfigur Keith Nearing ist zwar noch kein sterbender Mann, aber doch schon jenseits der Fünfzig und damit in das Stadium des Lebens eingetreten, in dem der Mensch eine merkwürdige Entdeckung macht: Es gibt eine Vergangenheit, und sie füllt das Dasein aus wie ein riesiger, unbekannter Kontinent. Keith ist Jahrgang 1949, also exakt so alt wie die Nato und wie der Autor Martin Amis, mit dem ihn auch andere Eigenschaften verbinden, etwa die Liebe zur englischen Literatur. Seine Erinnerungen konzentrieren sich auf den Sommer 1970, den er zusammen mit sehr verschieden begehrenswerten Frauen in einem italienischen Schloss verbrachte. Man sitzt am Pool oder im Speisesaal, nächtigt im Turmzimmer und fährt gelegentlich ans Meer. Es ist eine Zeit außerhalb des Alltags und vor aller Lebensmühsal, und gerade deshalb vollständig gefüllt mit Erotik und Sex. Jahrzehnte später erscheint es Keith so, als wären diese Monate die einzige Episode seines Lebens gewesen, die sich „wie ein Roman anfühlte“. Ein trauriger Befund.
Das Jahr 1970 steht als Chiffre für Jugend, wenn Jugend als Zustand der Erwartung, des lustvollen Vorgefühls bei heiterer Aktivität zu begreifen ist. Darüber hinaus steht dieses Jahr ganz allgemein für eine Zeit, in der der „Geschlechtsverkehr große Fortschritte gemacht hatte“. Sex vor der Ehe ist die erfreulichste Errungenschaft dieser jungen Generation des goldenen Zeitalters unter Wirtschaftswunder und Gleichgewicht des Schreckens. Keith ist wieder mit seiner Freundin Lily zusammen, mit der ihn so etwas wie Liebe verbindet, jedenfalls der Versuch, offen und sehr ehrlich miteinander umzugehen. Nichts bleibt zwischen ihnen unbesprochen und unreflektiert, sie schlafen auch regelmäßig miteinander, doch sein Begehren hat andere Ziele: die scharfe Scheherazade mit der überwältigenden Oberweite und den unschuldigen Gesichtszügen einer Blockflötistin und, ein wenig später, die eher derb wirkende Gloria, an der zunächst vor allem ihr ausladender Hintern auffällt. Damit beginnen die Heimlichkeiten, die Lügen und die Komplikationen; man spiegelt sich ineinander und in der Wasseroberfläche: ein Jahrmarkt der Eitelkeiten.
Weitere Figuren gruppieren sich locker ums Zentrum herum, unter ihnen der Schlossherr Adriano, ein nahezu perfekter italienischer Gigolo, der nur einen Fehler hat: Er ist mit Einssiebenundvierzig entschieden zu klein, um neben der langbeinigen Scheherazade bestehen zu können. Kompensatorisch betätigt er sich als verbissener Reckturner und Trampolinspringer, während die übrige Gesellschaft am Pool ihre Getränke schlürft; die Situationen, die Amis damit kreiert, entbehren nicht der Komik.
Die sexuelle Revolution ist 1970 zwar schon in vollem Gang, das heißt aber nicht, dass all die Regeln und Traditionen damit hinfällig geworden wären – schon gar nicht in Italien. Was Keith erlebt, ist vielmehr ein zögerlicher Epochenbruch mit allen revolutionären Verwirrungen und Rückfällen. Es gilt die freie Liebe, die Paar-Moral mit Treuebekundung aber auch. Und während die Frauen so sein wollen wie Männer, verlieren die Männer zunehmend den Überblick. Dass auch Frauen „fleischliche Begierden haben“, ist noch eine vergleichsweise neue, verwirrende Erkenntnis.
Als Student der englischen Literatur, der sich vor allem mit Jane Austens „Sense and Sensibility“, mit George Eliot und der Epoche des Viktorianismus befasst, weiß Keith um die historische Flüchtigkeit der gesellschaftlichen Arrangements. Im 17. Jahrhundert, so erklärt er seiner Geliebten, habe die Abspaltung der Sensibilität stattgefunden. Shakespeare konnte noch mit Verstand über Gefühle und Sex schreiben, spätere Dichter „konnten nicht mehr gleichzeitig natürlich denken und fühlen“. Nun aber, im Sommer 1970, trennen sich Gefühl und Sex voneinander. Das Gefühl wird abermals verlagert. Diese Trennung, die aus Sex eine Praxis und aus dem Gefühl eine Sentimentalität zu machen droht, ist das eigentliche Thema des Romans. Es bleibt zunächst unklar, ob es sich dabei um eine Errungenschaft oder um eine Katastrophe handelt.
Die Intrigen, Verführungen und Verwirrspiele im italienischen Sommer erinnern nicht ganz zufällig an Choderlos de Laclos’ „Gefährliche Liebschaften“ – ein wenig auch an den vor kurzem erschienenen Roman „Die Liebeshandlung“ von Jeffrey Eugenides, der für die 1980er Jahre in Amerika dasselbe Thema durchspielte und dabei ebenfalls eine Studentin mit Jane Austen-Spezialisierung auftreten ließ. Freiheit ist nur zu begreifen im Verhältnis zu den Bindungen, die sie hinter sich lässt oder auf neue Art aktualisiert. So ist die Frage, die Keith und seine Mitstreiter bewegt – ob nämlich eine Frau „das Höschen anbehält“ oder nicht – nichts anderes als die Frage, die seiner Ansicht nach den englischen Roman dreihundert Jahre lang bewegte: „Wird sie fallen? Wird diese Frau fallen? Und worüber werden sie schreiben, dachte er, wenn alle Frauen fallen? Nun ja, es wird neue Arten des Fallen geben …“
So amüsant und temporeich das unter die Haut gehende Geplauder des italienischen Sommer in Keiths Erinnerung wiederersteht, eine tragische Tiefendimension bekommt das Geschehen erst durch den Trick, einen Erzähler zu installieren, der unter seinem Älterwerden leidet. Die auf 1970 folgenden Jahrzehnte spult Amis im Kurzdurchlauf in einer „Coda“ ab, als hätte sich alles Entscheidende bereits damals in diesen wenigen Monaten ereignet. Freiheit, so zeigt sich dann, ist das Recht eines jeden, auf seine eigene Weise unglücklich zu werden. Keith, der einst hoffte, dass ein Dichter aus ihm würde, arbeitet für eine Werbeagentur, verrät seine Träume und verdient sehr viel Geld.
Unter der Heiterkeit der Oberfläche wird eine tiefe Trauer sichtbar. Das hat damit zu tun, dass die Liebe vielleicht nicht nur verlagert und vom Sex abgetrennt wurden, sondern dabei verloren gegangen ist. Mit der Liebe hat es bei Keith trotz dreier Ehen jedenfalls nie so recht geklappt. Jetzt ist der traurige Mythos von Narziss und Echo das Muster der Vergeblichkeit, das er seiner Lebensgeschichte unterlegt. Das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit wird stärker; die nächste Generation verkörpert bereits eine „vollkommen fremde erotische Welt“. Was als Sommermärchen und Freiheitshoffnung begann, wird am Ende zur Auseinandersetzung mit dem Tod. Die Ambivalenz der Gefühle zwischen Hoffnung und Trauer ist, wie es der Titel „Die schwangere Witwe“ nahe legt, von Anfang an gegeben. Der Tod, so heißt es am Schluss, ist „der dunkle Hintergrund, den ein Spiegel braucht, um uns uns selbst zu zeigen.“
Jörg Magenau
Martin Amis: Die schwangere Witwe
Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Hanser Verlag, München 2012
414 Seiten, 24,90 Euro
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